| # taz.de -- 15. Todestag des Musikers Moondog: Der Wikinger der 6th Avenue | |
| > Im Sommer 1974 zog der blinde New Yorker Künstler Louis Hardin in die | |
| > BRD. Seine Percussion-Musik mit Anleihen aus Jazz und Klassik ist | |
| > singulär. | |
| Bild: Moondog unterwegs in den Straßen von New York. | |
| Sommer 1974. Auf dem Hof eines Bauernhauses am Rande von Marl hält ein Taxi | |
| mit Hamburger Kennzeichen. Es ist die Strecke von der Hansestadt bis ins | |
| Ruhrgebiet gefahren. Aus dem Fond des Taxis steigt ein Fahrgast im | |
| Wikingerkostüm. Er ist blind und stützt sich auf einen mannshohen Speer. | |
| Der Taxifahrer bittet den Hausbewohner Tom Klatt, ob der die Rechnung | |
| freundlicherweise begleichen könnte. Klatt, 23, ein weitgereister Hippie, | |
| Musikliebhaber und Aktivist, weiß sofort, wer da vor ihm steht: Es ist | |
| Moondog, der legendäre Komponist und Dichter aus New York. | |
| Moondog, bürgerlich Louis Hardin, ist damals 57 Jahre alt. Hinter ihm | |
| liegen mehr als 20 Jahre als Straßenkünstler in Manhattan. In seiner | |
| Heimatstadt gilt er als ein respektierter neoklassischer Komponist und | |
| blickt auf eine Serie von Veröffentlichungen auf Jazzlabels wie Prestige | |
| und Esquire in den Fünfzigern und zwei retrospektiven Einspielungen mit | |
| populären Orchesterstücken und einem 25-teiligen Kanonzyklus für CBS aus | |
| den Jahren 1969 und 1971 zurück. | |
| Moondogs Taxifahrt vor 40 Jahren ist der beherzte Versuch, in Deutschland | |
| sesshaft zu werden. Tom Klatt übernimmt die Taxirechnung – immerhin 250 | |
| Mark. Wenige Wochen danach ziehen die beiden in ein Fachwerkhaus in der | |
| Altstadt von Recklinghausen und organisieren gemeinsam die ersten | |
| Moondog-Konzerte in Düsseldorf und Münster. | |
| Der Künstler lernt Weihnachten 1976 die Gastfreundschaft der Familie Göbel | |
| aus Oer-Erkenschwick kennen und bleibt für immer. Tochter Ilona Göbel, | |
| später Ilona Sommer (1951–2011), schmeißt ihr Studium und wird seine | |
| Managerin. Er gründet sein eigenes Label Managarm, bildet verschiedene | |
| Musiker in seiner Spielweise aus, darunter den schwedisch-ungarischen | |
| Künstler und Perkussionisten Stefan Lakatos. | |
| ## Großgewachsener Dichter | |
| Ab 1980 erhält Moondog auch Einladungen zu Tourneen durch Europa, er bleibt | |
| in Deutschland, kehrt nur einmal für einen Festivalauftritt nach New York | |
| zurück. Bis heute kümmern sich die solidarischen Menschen aus dem | |
| nördlichen Ruhrgebiet um seinen Künstlermythos und pflegen Moondogs Werk, | |
| so zum Beispiel mit der Internetseite [1][moondogscorner.de]. Sein | |
| Todestag, er ist am 8. September 1999 in Münster gestorben, jährt sich in | |
| diesem Jahr zum 15. Mal. | |
| Louis Hardin wird 1916 als Sohn eines Priesters in der Kleinstadt | |
| Marysville in Kansas geboren. Er erblindet 1932 bei einem Spielunfall mit | |
| einer schwarzpulvergefüllten Signalkapsel aus dem Eisenbahnbau. Im Internat | |
| des Iowa College for the Blind erkennt man Hardins musische Begabungen. Er | |
| erlernt die Braille-Notenschrift, spielt Trommel, Geige, Klavier und | |
| Kirchenorgel. Vermutlich lernt er dort auch den Umgang mit Nadel und Faden, | |
| Stoff und Leder. | |
| Hardin ist großgewachsen, trägt lange Haare, beginnt zu dichten, was ihm | |
| seinen ersten Spitznamen „The Longfellow“ (ein Wortspiel aus langer | |
| Lulatsch und dem Dichter Henry W. Longfellow) einbringt. Nach einem | |
| Musikstipendium in Memphis zieht er 1943 nach New York. Am Radio hatte | |
| Hardin einmal eine Liveübertragung von Wagners „Ring“-Zyklus verfolgt, | |
| seither reift sein Wunsch, Komponist zu werden. | |
| Artur Rodzinski, Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker, wird auf den | |
| Zuhörer mit dem „face of Jesus Christ“ aufmerksam. Louis, schon mit | |
| Vollbart, Zopf und selbst entworfener Oberbekleidung, erhält das Privileg, | |
| Proben des Orchesters besuchen zu dürfen. Die Jahre mit den Philharmonikern | |
| werden seine Lehrzeit. Weil er ein Schuhgeschenk von Frau Rodzinski gegen | |
| Leder für grobe selbstgefertigte Mokassins eintauscht, wird der | |
| Unangepasste der Orchesterfamilie verwiesen. | |
| ## Dreieckige Trommeln | |
| Fortan arbeitet er solistisch auf der Straße und wählt dafür den | |
| Künstlernamen Moondog. Manhattan wird sein Revier, wo er meist auf der 6th | |
| Avenue zwischen der 52. und 55. Straße steht. In der Hochphase der Fusion | |
| von Clubjazz und afrokubanischer Tanzmusik entwirft Moondog in den | |
| fünfziger Jahren auf offener Straße eine eigene exotische Form komplexer | |
| solistischer Perkussionmusik. | |
| Hierfür erfindet er Instrumente wie die Trimba, ein Set aus zwei | |
| dreieckigen Trommeln, das er mit Maraca und Klangholz spielt. Dieses Spiel, | |
| auf seinen Jazz-Alben oft nur aphoristisch angedeutet, wird sein | |
| Markenzeichen, der Urknall für seine quasirituellen, endlos serpentinen | |
| Charconnes und Kanons, die man später so gerne als naiv oder neoprimitiv | |
| bezeichnen wird. | |
| Moondogs Trimba-Beats werden ein Charakteristikum in der New Yorker | |
| Klanglandschaft. Er spielt in Hauseingängen, unterhält höflich als | |
| Straßendichter seine Passanten mit altertümlichen Couplets, verkauft | |
| Schallplatten, Gedichtalben und Notenblätter im Eigenverlag. | |
| In den sechziger Jahren werden Moondogs Straßenauftritte stiller. Er wirkt | |
| nun wie eine lebende Skulptur. Taxifahrer wissen aber immer, wo er zu | |
| finden ist. Ihn umgibt die Aura eines asketischen, antizivilisatorischen | |
| Eremiten des Popzeitalters, festgehalten in Conrad Rooks’ psychedelischem | |
| Film „Chappaqua“ von 1966. Seine Kompositionen werden klassischer, die | |
| synkopischen, jazz-beeinflussten Stücke treten in den Hintergrund. In den | |
| späten Sechzigern vollzieht sich auch Moondogs Wendung vom konzeptuellen | |
| Kuttenträger – alle Kleidungsstücke inklusive Schuhwerk und Kopfbedeckungen | |
| beruhen auf der Grundform Quadrat – zum ornamentalen fantasy viking. | |
| Moondog ist Tag und Nacht auf den Beinen und wirkt deshalb obdachlos. Dabei | |
| ist er über 20 Jahre Mieter eines bescheidenen Zimmers im Aristo Hotel und | |
| besitzt eine Sommerhütte bei Candor, 350 Kilometer westlich von New York. | |
| Ende der sechziger Jahre zieht er dann für anderthalb Jahre in die Wohnung | |
| des jungen Komponisten Philipp Glass. Der wird ihn später als einen | |
| Wegbereiter der Minimal Music bezeichnen. Moondog allerdings wird sich | |
| sogar noch auf seinem Sterbebett von Glass’ Musik lakonisch als „too | |
| artificial“ distanzieren, lässt Robert Scotto in seiner Moondog-Biografie | |
| nicht unerwähnt. | |
| ## Konzert mit Kraftwerk | |
| Moondog fühlt sich zeitlebens als rebel against the rebels. Er ist ein | |
| Eigenbrötler mit größter Distanz zur Avantgarde, ein Verteidiger von | |
| Rhythmik, Tonalität und Kontrapunkt, klarer Proportionen, einprägsamer | |
| Melodieführung und einer pathosfreien Spielweise. Genau dafür aber wird | |
| Moondog von der Gegenkultur, die er ideologisch ablehnt, geliebt und | |
| ernährt. | |
| 1972 zieht er nach Candor. In seiner Hütte am See erreicht ihn die | |
| Einladung des Hessischen Rundfunks für ein Radiokonzert in Frankfurt – | |
| Moondogs erste Einladung ins Ausland. Ernstalbrecht Stiebler, Redakteur für | |
| Neue Musik beim hr, stellt das Konzert am 25. Januar 1974 ausgerechnet | |
| unter das Motto „Zwischen Pop und Avantgarde“ und kuratiert mit den Bands | |
| Intermodulation aus Cambridge und Kraftwerk aus Düsseldorf noch zwei junge | |
| elektroakustische Bands hinzu. Intermodulation interpretiert ein frühes | |
| Pattern-Stück von Terry Riley. Kraftwerk spielen Repertoire ihrer ersten | |
| drei Alben. | |
| Moondog, Kraftwerk, Terry Riley: drei moderne Euphoniker auf einer Bühne– | |
| aus heutiger Sicht eine verblüffend logische Verknüpfung, aus Moondogs | |
| Warte vermutlich eine unerwünschte Assoziation. Er selbst sieht seine | |
| Stücke ohnehin lieber neben Werken von Bach aufgeführt. In Frankfurt werden | |
| Orgelstücke und Madrigale gespielt. Moondog dirigiert an jenem Abend die | |
| Instrumentalsolisten des Hessischen Rundfunks zu „Heimdalls Fanfare“ und | |
| „Procession of the Aesirs“ – Fragmente aus „The Creation“, eines | |
| umfangreichen, bis heute nicht völlig erschlossenen Musikspiels mit Bezug | |
| zu Schöpfungsmythen in der isländischen Edda. | |
| Moondogs Germanophilie und sein Faible für die Kultur der Wikinger, seine | |
| literarischen Forschungen zu vorchristliche Kulturen, nehmen eigenwillige | |
| und bisweilen auch unfreiwillig komische Formen an. Sie passen aber in die | |
| allgemeine Selbstfindungsphase nach 68. In Europa angekommen, wird Moondog | |
| den Wikingerhelm nach und nach ablegen und sich anderen weltlichen Themen | |
| zuwenden: Etwa dem Schreiben von Protestkanons gegen Uranabbau. | |
| ## Zwischenstation Hamburg | |
| Im Februar 1974 beschließt Moondog, in Deutschland zu bleiben. Es sind mal | |
| wieder die Hippies, die ihn aufnehmen. Er kommt nach Hamburg und lebt | |
| einige Wochen in einer WG der Drogenselbsthilfeorganisation Release e.V. im | |
| Karoviertel, später bei der Fotografin Beatrice Frehn am Eppendorfer Baum. | |
| Dazwischen besucht er eine Landkommune bei Nienwalde im Wendland. | |
| In Hamburg baut er eine sechseckige Basstrommel, schreibt, verlegt erste | |
| Kanons und organisiert dort ein Konzert am 10. Mai 1974 im Kulturzentrum | |
| Fabrik. Hierfür knüpft er Kontakte mit Mitgliedern des ungarischen | |
| Exilorchesters Philharmonia Hungarica, das sich in Marl niedergelassen hat. | |
| Ein kleine Gruppe ungarischer Musiker, die zum Konzert nach Hamburg reist, | |
| nimmt auch den an der Essener Folkwang-Schule ausgebildeten Organisten | |
| Fritz Storfinger aus Bottrop mit. Er wird zusammen mit Moondog bis Ende der | |
| siebziger Jahre immer wieder Konzerte geben und spielt sehr bald dessen | |
| Orgelwerke auf Moondogs eigenem Label Managarm ein. | |
| Im Mai 1974 wird im Hamburger Musikmagazin Sounds ein ausführliches | |
| Interview mit Moondog veröffentlicht, in dem er um weitere | |
| Arbeitsmöglichkeiten bittet. Tom Klatt muss nicht lange nachdenken und lädt | |
| ihn zu sich nach Hause ein. | |
| Es könnte auch die geografische Nachbarschaft zu den ungarischen | |
| Philharmonikern im Exil gewesen sein, die Moondog in das Taxi nach Marl | |
| steigen ließ. | |
| 8 Sep 2014 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://moondogscorner.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Volker Zander | |
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