# taz.de -- Augenzeugenbericht Gefängnis in Syrien: „Wir waren wie Tote“ | |
> Eine Aktivistin gegen das Assad-Regime wurde wiederholt verhaftet und | |
> gefoltert. Doch die Gräueltaten, die sie in Freiheit sehen musste, waren | |
> schlimmer. | |
Bild: Assadtreue Truppen posieren im Mai 2014 vor dem zentralen Gefängnis in A… | |
Sie ist keine bekannte Aktivistin. Sie stammt aus einem volkstümlichen | |
Milieu. A. H. ist eine Frau in den Vierzigern. Sie wollte Abitur machen, | |
erzählt sie, habe es jedoch nicht geschafft und deshalb geheiratet. Sie | |
wird ihren Geburtsort niemals verlassen. Sie spricht, als sei sie kurz | |
davor, ein Gedicht zu rezitieren oder ein Glas Wasser zu trinken, ganz so, | |
als sei sie von ewigem Frieden umgeben! | |
Sie lebt in einer Region, die von den Regimetruppen umstellt ist und in der | |
Menschen verhungern oder durch Heckenschützen oder Bomben getötet werden. | |
Sie hat vier Kinder, ihr ältester Sohn ist in Haft. Ihr Mann war ein ganzes | |
Jahr in Khan al-Schih verschwunden und tauchte erst nach einem | |
vorübergehenden Waffenstillstand mit dem Regime wieder auf. | |
Zum ersten Mal wurde sie im Januar 2012 verhaftet, weil sie den | |
desertierten Offizieren dabei geholfen hatte, sich vor der Armee zu | |
verstecken. Sie erzählt: | |
„Hätten wir zulassen sollen, dass die Söhne unseres Landes einfach | |
umgebracht werden? Die Demonstrationen damals waren friedlich gewesen, aber | |
einige Offiziere und Soldaten sind desertiert, weil sie sich geweigert | |
hatten, auf uns Demonstranten zu schießen. Sie hatten uns beschützt, und | |
deshalb war es unsere Pflicht, sie zu beschützen. Zusammen mit vier anderen | |
Frauen habe ich ihnen geholfen; wir haben ihnen einen sicheren Zufluchtsort | |
besorgt.“ […] | |
Ihre Stimme wird tiefer und zittert leicht, als sie fortfährt: „Die erste | |
Haft war harmlos gewesen, weil sie mich nicht geschlagen hatten. Aber sie | |
hatten verschiedene Methoden angewendet, um so viele Informationen wie | |
möglich von mir zu bekommen, besonders über die Deserteure. Ich gab | |
gegenüber dem ersten Befrager zu, dass ich an Demonstrationen teilgenommen | |
hatte, gestand aber nicht, den Deserteuren geholfen zu haben. Darauf habe | |
ich steif und fest beharrt. Der zweite Befrager war ein General vom | |
Militär. Er war brutal, aber er beleidigte mich nur verbal. Die ganze Zeit | |
über waren meine Augen verbunden. Ich hatte das Gefühl, blind geworden zu | |
sein, was mich ganz panisch werden ließ. […] | |
## Lass Assad doch gehen | |
Im Gefängnis weigerte ich mich zu essen und wurde immer schwächer. Beim | |
letzten Verhör war ich völlig entkräftet. Der Befrager war ganz ruhig. Ich | |
konnte sein Gesicht nicht sehen, weil meine Augen verbunden waren. Er | |
sagte, er könne sich nicht vorstellen, dass es in Syrien einen geeigneteren | |
Führer gebe als Baschar al-Assad. Ich habe geantwortet: ’Dem Land und den | |
Leuten geht es doch gut. Lassen Sie den Mann doch gehen.‘ | |
Da meinte er: ’Nenn mir eine Alternative.‘ Ich habe gesagt: ’Es gibt | |
Tausende fähiger Leute! Der Präsident ist doch nicht der Herrgott!‘ Er | |
sagte nichts dazu. In diesem Moment begann ich zu schwanken und fiel vor | |
Erschöpfung auf den Boden. Sie brachten mich zurück in meine Zelle, wo ich | |
drei Tage verbrachte. Ich setzte meinen Hungerstreik fort und konnte mich | |
nicht mehr auf den Beinen halten. Ich brach vollkommen zusammen, und so | |
haben sie mich freigelassen. | |
Nach meiner ersten Freilassung aus dem Gefängnis habe ich die | |
Zusammenarbeit mit der gleichen Widerstandsgruppe wiederaufgenommen. Es gab | |
noch mehr zu tun als vorher, tagsüber organisierten wir | |
Frauendemonstrationen und nachts Demonstrationen für die Männer. […] Damals | |
gab es bei uns keine Kämpfer, die Verletzten waren allesamt friedliche | |
Demonstranten. Aber es gab schon etliche Straßensperren des Geheimdienstes, | |
besonders des Luftwaffengeheimdienstes beim Flughafen von Mezzeh hinter | |
Sumarija. Dieser Checkpoint lähmte unsere Aktivitäten. […] | |
Schlimm wurde es, als zahllose Flüchtlinge aus Homs eintrafen. Manchmal | |
hatten wir das Gefühl, gar nichts für sie tun zu können. Wir waren vier | |
Frauen, die Unterkünfte und Nahrungsmittel organisierten. Am liebsten aber | |
filmte ich. Ich filmte, wie der Geheimdienst junge Leute schlug und sie | |
dann verhaftete. Ich besaß Kameras in Form eines Schlüssels, eines Stifts | |
oder eines Knopfes. | |
## Beginn der bewaffneten Kämpfe | |
Die Armee ist morgens in unser Viertel eingefallen. Wir konnten sie sehen, | |
direkt unter unseren Fenstern. Die Autos der Sicherheitskräfte und | |
Patrouillen hingegen sind die ganze Zeit im Viertel geblieben. Ich habe sie | |
alle gefilmt, habe versucht, alles zu filmen, was vor meinen Augen | |
passierte. Ich habe sie auch gefilmt, als sie die Schulmädchen angriffen. | |
Es war die einzige Möglichkeit, auf ihre Lügen zu reagieren. Wir waren von | |
der Außenwelt abgeschnitten, sie töteten uns, und deshalb mussten wir | |
unbedingt die Wahrheit veröffentlichen. | |
Zum zweiten Mal wurde ich im Juni 2012 während einer bewaffneten | |
Auseinandersetzung verhaftet. […] Als einer von ihnen wie ein Wahnsinniger | |
auf mich einschlug, so dass ich fast das Bewusstsein verlor, rief ein | |
anderer: ’Lass sie, wir wollen sie lebend haben!‘ Die Schläge ließen etwas | |
nach, aber sie begrapschten und boxten mich die ganze Zeit weiter, bis wir | |
vor dem Gebäude des Luftwaffengeheimdienstes ausstiegen. Ein Mann brüllte, | |
sie sollten mir die Augen verbinden. Dann haben sie mich in den Verhörraum | |
geführt. Sie nahmen mir alles ab und wollten die Namen der Ärzte wissen, | |
mit denen wir zusammenarbeiteten. […] | |
Dann brachten sie mich in eine Zelle von eineinhalb Quadratmetern. Vorher | |
hatten sie mir die Kleider vom Leib gerissen und mein Haar geöffnet und | |
sich daran zu schaffen gemacht. Unter dem Vorwand, mich durchsuchen zu | |
müssen, steckten sie ihre Finger in all meine Körperöffnungen. Wir waren | |
wie Tote, die sich ein kleines Grab teilten. Wir konnten kaum stehen. Fünf | |
Frauen waren schon in der Zelle, ich war die sechste. Sie kamen aus Deraa, | |
Homs und Hama. […] | |
Nur mit Mühe konnten wir stehen, schlafen mussten wir übereinander. Die | |
Luft reichte kaum zum Atmen. Ständig hatte ich das Gefühl zu ersticken, | |
immer wieder wachte ich vom Husten auf. Wenn wir nicht mehr stehen konnten, | |
fielen wir uns zwischen die Füße, unsere Körper bildeten dann einen runden | |
Klumpen aus willkürlich angeordneten Gliedern. […] | |
## Gefängnis kann ein Segen sein | |
Einmal haben sie einen jungen Mann vor unseren Augen gequält. Zwei Tage | |
lang haben sie ihn aufgehängt. Ein anderes Mal haben sie uns alle zusammen | |
geholt und zu sechst befragt. Dann schickten sie die anderen fort, und ich | |
blieb allein. Sie haben mir befohlen, meine Kleider auszuziehen. Ich habe | |
mich geweigert und geweint; ich habe sie angefleht, mich gehen zu lassen. | |
Da befahl der Verhörer seinem Gehilfen, mich auszuziehen. Ich habe laut | |
geschrien, ich weiß nicht, woher ich die Kraft nahm, mich zu wehren. […] | |
Von meinen Mitgefangenen erfuhr ich aber, dass die Belästigung von Frauen | |
nicht über Begrapschen und Ausziehen hinausgeht. In Homs jedoch passierte | |
das Gegenteil, dort gab es andere Befehle als in Damaskus. | |
Dann haben sie meine Mutter verhaftet. Sie war 65 Jahre alt. Zwei Monate | |
ist sie im Gefängnis geblieben. Auch meine Schwestern und ihre Kinder haben | |
sie verhaftet und mit mir um sie gefeilscht. Es wäre besser gewesen, ich | |
wäre im Gefängnis geblieben. Als sie meine Mutter und meine Geschwister | |
verhafteten, haben sie mich beschimpft und mir gedroht, sie umzubringen. | |
Wir konnten sie erst freibekommen, nachdem wir etwas bezahlt hatten, einen | |
lächerlichen Betrag. Dann haben wir sie gegen einen von deren Anhängern | |
ausgetauscht, der auf unserer Seite festgenommen worden war. Das Gefängnis | |
kann ein Segen sein. Wäre ich dort geblieben, hätten sie nicht meinen | |
Bruder statt mir verhaftet und mir nicht gedroht, ihn zu töten. Wir haben | |
einige Tage später seinen Leichnam von einem Krankenhaus in Empfang | |
genommen. Wäre ich im Gefängnis geblieben, hätte ich auch nicht gesehen, | |
wie es ist, wenn ein Kopf vom Rumpf getrennt wird!“ | |
Ihre Stimme wurde noch tiefer und heiserer. „Nach der zweiten Verhaftung | |
habe ich das Massaker erlebt. Sie haben während der Feiertage begonnen zu | |
bombardieren. Das Massaker fand zwischen dem 28. und 29. August statt. Wir | |
haben Spielzeug an die Kinder der Getöteten verteilt. Ich kann Ihnen alles | |
genau beschreiben. Am ersten Tag verteidigten die Männer den Ort, viele von | |
ihnen wurden dabei getötet. Sie kapitulierten zwar nicht, aber ihnen ging | |
die Munition aus. Deshalb mussten sie sich zurückziehen. Manche flohen nach | |
Dschdaida; sie wurden verfolgt und dort abgeschlachtet. | |
Ich arbeitete damals in einem Feldlazarett. Es geschah am dritten Feiertag. | |
Die Armee von Baschar al-Assad ist in den Ort eingedrungen, deshalb flohen | |
wir nach Daraija. Als die Armee wieder abgezogen war, kehrten wir zurück. | |
Die Leichen der Männer lagen überall herum. Man hatte ihnen die Hälse | |
durchgeschnitten, genau wie Schafen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. | |
Die meisten waren noch jung. Haben Sie schon einmal einen geschlachteten | |
Hammelkopf gesehen? Genauso habe ich die Köpfe der Männer gesehen, | |
abgetrennt vom Körper auf den Straßen liegend. | |
Während des ersten Massakers war ich beim Militärischen Geheimdienst in | |
Haft. Ich habe ja gesagt, das Gefängnis kann auch eine Gnade sein.“ | |
(Das Gespräch mit A. H. wurde 2013 geführt.) | |
20 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Samar Yazbek | |
## TAGS | |
Syrien | |
Baschar al-Assad | |
Gefängnis | |
Folter | |
Schwerpunkt Syrienkrieg | |
Syrien Bürgerkrieg | |
Syrien | |
Schwerpunkt Türkei | |
Syrien | |
Syrien | |
Syrien | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Samar Yazbek über Bürgerkrieg in Syrien: „Man arrangiert sich mit dem Tod“ | |
Die syrische Schriftstellerin Samar Yazbek ging für ihr Buch „Die | |
gestohlene Revolution“ in die Hochburgen des Widerstands gegen Assad. | |
Kommentar IS-Vormarsch in Syrien: Die kleineren Übel | |
Assad hat den Dschihadisten in Syrien den Boden bereitet. Nun bietet er den | |
USA seine Hilfe an. Wie lässt sich der IS bekämpfen, ohne Assad zu stärken? | |
Furcht vor IS-Kämpfern: Syrische Kurden fliehen in die Türkei | |
Milizionäre des „Islamischen Staats“ bedrohen die syrisch-kurdische | |
Großstadt Kobane. 70.000 Flüchtlinge erreichen die Türkei. Nun ist die | |
Grenze zu. | |
Arte-Doku über Konflikt in Syrien: Ein Kino der Opfer und der Poesie | |
Oussama Mohammads Dokumentation „Selbstporträt Syrien“ gelingt etwas | |
Besonderes: Der Film bleibt nicht bei der Gewalt stehen. | |
Opposition in Syrien: Ideologisch flexibel | |
US-Präsident Obama will im Kampf gegen den IS syrische Rebellen stärken. | |
Das wird zum Balanceakt, denn die Gesinnungen der Gruppen sind fließend. | |
Oppositioneller über Zukunft Syriens: „Wir brauchen Israel“ | |
Die Opposition muss sich säkularisieren. Dabei können Liberale aus Israel | |
helfen, sagt der syrische Intellektuelle Kamal Allabwani. |