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# taz.de -- Obdachlosigkeit nimmt zu: Es wird kalt in der Stadt
> Am 1. November beginnt wieder die Berliner Kältehilfe. Weil die Zahl der
> Obdachlosen steigt, schlagen die Organisatoren Alarm.
Bild: Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit tanzt vor dem Brandenbu…
Immer mehr Familien wissen nicht, wohin in Berlin – und landen in der
Notübernachtung für Obdachlose in der Moabiter Fraenklinstraße. Die meisten
sind ausländischer Herkunft, kommen nachts oder am Wochenende. „In diesem
Jahr hatten wir schon 600 Übernachtungen von Minderjährigen“, sagt Jürgen
Mark, der Leiter der Einrichtung, am Freitag anlässlich der Eröffnung der
25. Saison der Berliner Kältehilfe. „Unser jüngster Gast war zwei Tage
alt.“
Die Notübernachtung in der Fraenklinstraße, die als eine von zweien in
Berlin ganzjährig geöffnet ist, sei mit 73 Betten für Männer und Frauen auf
den Andrang nicht eingerichtet, erklärt Mark. Auf der Gästeliste stünden
Menschen mit Drogen- oder psychischen Problemen, manche seien
„strafrechtlich in Erscheinung getreten – unter ihnen wohl auch manch
Pädophiler.
Mark sagt, der Ton sei rau, es gebe oft Spannungen und Streit. Auch seien
die Sanitäranlagen nicht auf Familien eingerichtet. So könnte es passieren,
dass ein Kind beim nächtlichen Toilettengang einen Drogentoten findet.
„Einen solchen Todesfall hatten wir zuletzt im März, in einer Nacht, als
drei Kinder im Haus schliefen.“ Marks Priorität ist daher klar: „Wir
brauchen dringend eine Notübernachtung für Familien.“
Es wird wieder kalt in Berlin – und viele Institutionen stoßen an ihre
Grenzen. Seit 25 Jahren bietet ein breites Netzwerk von
Wohlfahrtsorganisationen, Kirchengemeinden und Projekten im Rahmen der
Berliner Kältehilfe von 1. November bis 31. März nicht nur
Übernachtungsplätze, „sondern auch ein offenes Ohr, etwas zu essen und
soziale Hilfen“, erklärt die Direktorin der Caritas Berlin, Ulrike Kostka.
Dieses Angebot nehmen Jahr für Jahr mehr Menschen in Anspruch: In der
Wintersaison 2009/10 gab es insgesamt 55.667 Übernachtungsplätze, 2013/14
mehr als 71.000 – und nie ist es genug. Seit Jahren liege die Auslastung
bei mehr als 100 Prozent ergänzt Barbara Eschen, die Direktorin der
evangelischen Konkurrenzorganisation Diakonie. Es kommen immer mehr
Menschen, als es Schlafplätze gibt.
Auch in diesem Winter will die Kältehilfe daher aufstocken: von bislang
durchschnittlich 417 Plätzen pro Nacht auf 500.
Die zuständige Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales würde das auch
finanzieren. „Aber es fehlt an geeigneten Räumen“, sagt Eschen. Sie
appelliert deshalb auch an die Immobilienbesitzer der Stadt: „Welcher
Eigentümer ist bereit, saisonal zu vermieten? Wer kennt ein Objekt, das
infrage kommen könnte?“ Auch Senat und Bezirke seien aufgefordert, ihre
Bestände zu überprüfen.
Der Ausbau der Kältehilfe scheint umso dringlicher, weil die Zahl der
Obdachlosen offenbar weit höher ist als angenommen. Bislang ging man von
600 bis 1.000 Obdachlosen aus, doch eine systematische Erhebung des Senats
gibt es nicht.
Die Berliner Stadtmission, die 42 Prozent aller Übernachtungsplätze stellt,
habe allerdings in der letzten Kältehilfesaison in ihren Einrichtungen
2.300 verschiedene Personen beherbergt, erzählt Eschen. Es gibt also rund
1.800 Menschen, die durch das Kältehilfesystem mit seinen 500 Plätzen gar
nicht erreicht werden. „Wo schlafen sie – und wie können wir sie besser
erreichen?“, fragt die Diakonie-Direktorin.
## Viele Armutsmigranten
Die Zahl der Obdachlosen steigt auch deshalb, weil immer mehr Menschen aus
verschiedenen Herkunftsländern in Berlins Straßen stranden: EU-BürgerInnen,
Flüchtlinge aus Kriegsgebieten, Armutsmigranten. Sie alle konkurrierten um
die Plätze in der Kältehilfe, sagt Kostka. „Wir befürchten, dass dies in
diesem Winter weiter zunimmt“ und die Kapazitätsprobleme und auch die
Spannungen in den Einrichtungen zunehmen.
Vor diesem Hintergrund mahnt die Caritas-Chefin den Senat an, die
„Frostschutzengel“ weiter zu finanzieren. Das Projekt, bislang von
Stiftungsgeld und Spenden finanziert, bietet eine soziale Beratung speziell
für Osteuropäer an. Nun stehe man vor dem Aus, weil die Stiftung nicht mehr
einspringen wolle, die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales jedoch
eine Regelfinanzierung ablehne, erklärt Marie-Terese Reichenbach, Leiterin
der Frostschutzengel. „Wenn nichts passiert, ist dies unsere letzte
Kältehilfesaison.“
31 Oct 2014
## AUTOREN
Susanne Memarnia
## TAGS
Obdachlosigkeit
Wohnungslosigkeit
Notunterkunft
Berlin
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Vivantes
Soziales
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