# taz.de -- Arztalltag in einer Notübernachtung: Fallend träumen | |
> Eine Ärztin betreut Obdachlose in einer Berliner Notübernachtung. Dort | |
> wird keiner abgewiesen, doch manche gehen freiwillig. Ihr Bericht. | |
Bild: Ein Mann isst in der Stadtmission am Berliner Hauptbahnhof, 2012. | |
BERLIN taz | Ich fahre durch das Grau Berlins. Mein Rad bringt mich von Ost | |
nach West, vorbei an Bio-, Fairtrade- und Veganläden, vom Latteland nach | |
unten, dorthin, wo man versucht aufzufangen, was am Fallen ist. Der Weg ist | |
leicht, immer der Schwerkraft nach den Prenzlauer Berg hinunter, zur | |
Notübernachtung unweit des Hauptbahnhofs. | |
Ich drücke mich an den vielen Wartenden vorbei, die sich jeden Abend dort | |
vor den Türen einfinden. Die Sicherheitsleute kennen mich und lassen mich | |
durch. Auch einige Anstehende erkennen mich unter der Wollmütze. „Guten | |
Abend, Frau Doktor!“ und „It’s not getting better“. | |
Ohne – wie die anderen – auf Drogen und Alkohol gefilzt zu werden, darf ich | |
in die wohlige Wärme. Helfer, davon viele Studenten, bereiten ein warmes | |
Essen zu. Für viele die einzige Mahlzeit des Tages. First things first – | |
erst essen. Mein Blick fällt auf die Pinnwand im Eingangsbereich. „Lasst es | |
Euch nicht gefallen!“, ein Aufruf zur Demonstration gegen die | |
Migrationspolitik der Bundesrepublik hängt da. Daneben eine Suchanfrage der | |
Polizei: „Kennt jemand diesen Toten?“ – das Bild zeigt einen erfrorenen | |
Mann auf einer Parkbank, daneben die Leiche auf der Obduktionsliege. | |
Die meisten Gäste der Notübernachtung kommen aus den ehemaligen | |
Ostblockstaaten, viele aus Polen, Rumänien und Russland. Sie hoffen hier | |
auf bessere Arbeitsmöglichkeiten. Ich bin auch nach dem Medizinstudium in | |
die Schweiz gezogen, weil die Arbeitszeiten dort humaner, die Ausbildung | |
besser und die Bezahlung angemessener ist. Eine Notübernachtung haben mir | |
die Schweizer nie zugemutet. | |
## Härte | |
Diese Noteinrichtung in Berlin ist für die härtesten Fälle. Keiner wird | |
abgewiesen. Andere, etwas komfortablere Schlafstätten haben gewisse | |
Einlassbedingungen wie Läuse- und Krätze-Freiheit. Fehlende | |
Sprachkenntnisse werden durch kreative Improvisation kompensiert. Meist | |
klappt es irgendwie. Gelegentlich kommen auch Deutsche. | |
Viele Gäste würde man auf der Straße nicht als Wohnungslose erkennen. Sie | |
tragen gepflegte Kleidung und sind eher mittleren Alters. Ich sehe sie am | |
Hackeschen Markt, in der Bibliothek, wo es warm ist, und in den | |
S-Bahnhöfen. Manche grüßen mich zögerlich. Ich habe das Gefühl, dass es | |
ihnen unangenehm ist, mich zu sehen, weil ich weiß, wie es um sie steht. | |
Ein 25-jähriger Rumäne tritt ins Behandlungszimmer und beschwert sich, dass | |
ein Gast im Schlafsaal so stinkt, dass die anderen nicht schlafen können. | |
In einem schlecht belüfteten Kellerzimmer liegen fast 30 Personen | |
nebeneinander auf dünnen Isomatten. Die Bettlaken werden alle drei Tage | |
gewaschen. Der junge Mann hat recht. Der beißende Geruch nach Urin, Kot, | |
Schweiß und Dreck in einer Ecke den Raumes ist unerträglich. Ich bitte den | |
älteren Herrn ins Arztzimmer. Er spricht deutsch. Ich bitte ihn, zu | |
duschen, und biete ihm neue Kleider an. Ich versuche gelassen zu wirken, | |
mir nichts anmerken zu lassen, und verfluche innerlich das stickige | |
fensterlose Kellerloch, das sich Arztzimmer nennt. Mir wird fast | |
schwindelig. | |
Er weigert sich. Ich rede eindringlicher auf den Mann ein. Nach einigem Hin | |
und Her drohe ich, dass er nicht hierbleiben kann, wenn er nicht duscht. Zu | |
spät verstehe ich, warum er nicht duschen möchte. Er ist nicht faul, nicht | |
nachlässig, und es ist ihm auch nicht egal. Im Gegenteil. Er schämt sich. | |
Er schämt sich vor den anderen, vor mir als Frau, aber vor allem vor sich | |
selbst. Er will sich nicht ausziehen, weil er ahnt, wie es unter den | |
Schichten aussieht. Er beschimpft mich, nimmt seine Tüten und verlässt den | |
einzigen warmen Hort, der ihm heute noch einen Schlafplatz bietet. Ich muss | |
an die Aushänge der Polizei denken und hoffe, dass bald nicht ein weiterer | |
hinzukommt. | |
In allen Räumen hängt der süßliche Geruch von Alkohol und kaltem | |
Zigarettenrauch. Auch wenn kein Alkoholkonsum erlaubt ist, wird den Leuten, | |
die hier übernachten, geraten, vor Einlass genug zu trinken, um während der | |
Nacht keine Entzugssymptome zu bekommen. Trotzdem kommen immer wieder | |
Krampfanfälle vor, oft, weil das Gehirn an einen gewissen Level | |
Hochprozentiges gewöhnt ist und stark reagiert, wenn ihm dies verwehrt | |
bleibt. | |
Rot unterlaufene Augen und wehende Alkoholfahnen machen mich vorsichtig, | |
wenn jemand über die eigene Hemmschwelle und zu mir ins Zimmer tritt. Mir | |
wurde bereits einige Male per Handkuss für meine Behandlung gedankt. Die | |
professionelle Distanz wird vom Alkohol unterspült. | |
Viele Gäste leiden an Psychosen, Schizophrenien und Depressionen, die meist | |
unbehandelt bleiben. Werden sie alkoholabhängig, weil sie sich damit selbst | |
therapieren oder macht der übermäßige Alkohol sie erst psychisch krank? | |
Werden sie obdachlos, weil sie nicht in das gesellschaftliche Bild einer | |
„normalen“ menschlichen Psyche passen, oder macht die Obdachlosigkeit, dass | |
sie so sind? | |
## Mehr Härte | |
Viele junge Leute, die hier übernachten, sind nicht nur alkohol-, sondern | |
auch drogenabhängig. Eine Kugel Heroin kostet 10 Euro, aber um | |
„runterzukommen“, braucht man 3 bis 5 Kugeln. „Ich gehöre eigentlich nic… | |
hierhin“, meint an diesem Abend ein junger Mann in Camouflage-Jacke. Ich | |
frage ihn, wie er sich die Drogen leisten kann. Dinge klauen und so. Was | |
hat sich seit Christine F. verändert? Statt vom Heroin sind heute viele | |
auch vom Methadon der Substitutionspraxen abhängig. Der junge Mann war | |
wegen „Drogengeschichten“ schon im Gefängnis. | |
Danach ist ein Neuanfang schwierig. Ich frage ihn, wovon er die Narbe über | |
seinem Auge hat. Er ist beim Diebstahl im Supermarkt erwischt worden. Die | |
Sicherheitsleute stellten ihn vor die Wahl: Entweder sie übergeben ihn der | |
Polizei oder er lässt sich von ihnen verprügeln. Er konnte sich keine | |
erneute Anzeige leisten. Sie brachen ihm die Nase und mehrere Rippen. Arzt | |
und Sozialarbeiter hätten zur Anzeige geraten, aber er hatte Angst. | |
Eigentlich lache ich auch viel mit den Patienten. Aber was hängen bleibt, | |
sind die erschreckenden, beschämenden und traurigen Geschichten. Ein | |
40-jähriger Mann setzt sich mir gegenüber. Früher war er Rettungssanitäter | |
bei der Bundeswehr. Während eines Einsatzes in Afghanistan wurde er von | |
Taliban entführt. Er erklärt mir, dass er nach Freilassung und | |
„Resozialisierung“ nicht mehr im Alltag zurechtkam. Er verlor seine Arbeit. | |
Das Sozialamt empfiehlt ihm betreutes Wohnen. Er hält es nie lange dort | |
aus, gehöre nicht dorthin. „Auch nicht hierhin“, sagt er, „Schauen Sie m… | |
an!“ Er wirkt gepflegt, die Kleider sauber, rasiert. Immer wieder höre ich | |
den Satz: Ich gehöre nicht hierhin. | |
Viele osteuropäische Gäste arbeiten im Baugewerbe und der Gebäudereinigung. | |
Schwarz, versteht sich. Ein junger Pole mit hartnäckigen Fußschwielen | |
meint, er wäre mit den acht Euro Stundenlohn zufrieden, die ihm eines der | |
namhaftesten Hotels Berlins zahlt. Er arbeitet hart, und abends tut ihm | |
alles weh. Er lächelt immer, wenn er nach dem Fußbad auf dem Handtuch in | |
mein Kellerabteil rutscht, um den Salbenverband für seine Fußschwielen zu | |
bekommen. Ich mag ihn. Er verbreitet Hoffnung, jedenfalls bei mir. | |
Irgendwann kam er nicht mehr. | |
## Noch mehr Härte | |
Ein 60-jähriger Rumäne, der bereits zwei Herzinfarkte hinter sich hat, hat | |
wieder akuten Brustschmerz. Mir bleibt nichts anderes, als den Notarzt zu | |
rufen. Der arrogante junge Arzt rollt die Augen. Solche Patienten machen | |
Ärger. Sie lassen sich nicht abrechnen, und das Krankenhaus nimmt sie | |
ungern. Später erfahre ich, dass der Patient eine Rechnung von 600 Euro für | |
die Nacht im Krankenhaus erhalten hat. Ich sage, er solle sich deshalb | |
keine Sorgen machen. Oder sage ich das zu mir? | |
Ein anderer Patient erzählt mir, dass er nach Deutschland gekommen sei, | |
weil ihm ein Kollege einen Job anbot: drei Monate auf dem Bau für 7.500 | |
Euro auf die Hand. Nach den drei Monaten Schufterei hat der Vorarbeiter | |
nicht gezahlt. Als er das Arztzimmer verlässt, sagt er noch: „Here is the | |
jungle. I’m going back to Rumania.“ | |
Neben Erkältungskrankheiten und Fußschwielen untersuche ich die Gäste auf | |
Läuse und Krätze. Mindestens einmal am Abend begegnet mir Krätze, jeden | |
zweiten Abend Läuse. Bei Krätzebefall graben klitzekleine Insekten Gänge | |
unter die Haut und legen dort ihre Eier ab. Es juckt so sehr, dass sich die | |
Patienten blutig kratzen. Die Behandlung ist glücklicherweise einfach: | |
Creme und heißes Waschen der Kleidung. Genauso einfach wie die Behandlung | |
ist es, sich wieder anzustecken. | |
Die meisten Gäste legen sich so rasch wie möglich schlafen, da um 7 Uhr | |
geweckt wird und alle die warme Stube verlassen müssen. Wenn keiner mehr | |
vor dem Arztzimmer wartet, verabschiede ich mich von den Volontären, die | |
die Nacht über bleiben, und radle wieder durch die leeren Straßen Berlins. | |
Den Berg hinauf zu kommen scheint unverhältnismäßig mühsamer. Auf dem Weg | |
kann ich unter den Straßenlaternen Krokusse blühen sehen. Der Frühling | |
kommt. Und wenn er da ist, schließen sich die Türen der Notübernachtung – | |
bis zum nächsten Winter. Das Dach überm Kopf müssen sich die Leute bis | |
dahin dann suchen. | |
21 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Maya Fehling | |
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