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# taz.de -- Kommentar Europäischer Mauerfall: Im Schatten der Mauer
> Nur ziviler Ungehorsam kann die EU-Politik dazu bewegen, sich an den
> EU-Außengrenzen (wieder) völkerrechtlich korrekt zu verhalten.
Bild: Keine Nervosität: die „Europäischer Mauerfall“-Aktivisten in Berlin.
In Bulgarien reagierten Polizei und Politik nervös auf die Kunstaktion
„Erster Europäischer Mauerfall“, die das Zentrum für politische Schönheit
(ZPS) anlässlich des 25. Jubiläums des Mauerfalls inszeniert hat. In Berlin
indessen lässt der Innensenator seiner bräsigen Arroganz freien Lauf. In
Stammtischmanier spricht er von Schändung der deutschen Maueropfer sowie
von „Dieben“ und hofft mit der wohl bewusst unzutreffenden Wortwahl die
Kunstfreiheit einschränken zu können. Gegen ihn läuft nun eine Anzeige
wegen Verleumdung.
Hintergrund: Das ZPS hatte vor den Gedenkfeiern am 9. November die 14
weißen Kreuze zum Gedenken an die Mauertoten abmontiert, um sie zu ihren
„Brüdern und Schwestern“, also zu den gegenwärtigen Maueropfern an Europas
Außengrenzen, zu bringen. Die Kreuze sind inzwischen wieder an ihrem
Ursprungsort.
Gemeinsam ist den Politikern in Deutschland und Bulgarien, dass ihnen die
vom Berliner Aktionskünstler Philipp Ruch vorgenommene Verknüpfung der
europäischen Außenmauern mit dem Gedenken an den Fall des Eisernen Vorhangs
ungelegen kommt. Wenn ins kollektive Gedächtnis eingebrannt werden soll,
dass Letzterer großes historisches Unrecht materialisiert, wie lässt sich
dann die Festung Europa rechtfertigen?
Seit 2012 baut Bulgarien mit Hilfe von EU-Mitteln just an der Stelle, an
der einst der Eiserne Vorhang Bulgarien vom Westen trennte, eine
Hightech-„Eindämmungsanlage“ gegen Menschen auf, die vor allem aus Syrien
fliehen. Heute geht es nicht mehr um die Konkurrenz politischer und
ökonomischer Systeme, sondern um einen Schutzwall gegen Armut. Wieder aber
wird das Versagen internationaler Politik auf dem Rücken der Normalbürger
ausgetragen. Mehr als die Hälfte der syrischen Flüchtlinge sind zudem
minderjährig.
Entlang einer 30 Kilometer langen Grenze soll nun ein drei Meter hoher Zaun
aus Nato-Stacheldraht unterstützt mit Kameras und Wärmesensoren die EU vor
ihnen „schützen“. Übertritt ein Hase oder ein Mensch die Demarkationslini…
setzten bewaffnete Grenzpolizisten binnen Minuten alles daran, die
Flüchtenden zu fangen. Manche werden mithilfe von „Push-backs“ gewaltsam
zurück in die Türkei deportiert, was völkerrechtswidrig ist – wie der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2012 festgestellt hat.
## Kein Strom, kein Essen, kein Arzt
Andere landen in bulgarischen Flüchtlingslagern, etwa in der nahe gelegenen
Grenzstadt Harmanli. Pro Asyl hat im August diesen Jahres dort Inhaftierte
interviewt. Sie berichten, dass es dort weder Strom noch Essen noch einen
Arzt gibt. „In dem Lager hatten ein paar Leute die Polizisten bestochen und
eine Art Markt eröffnet. Sie brachte Dinge ins Lager und verkauften sie zu
einem hohen Preis. In den ersten zweieinhalb Monaten haben alle Leute ihr
Erspartes für Essen und andere Dinge ausgegeben“, erzählt ein ehemaliger
Student der Erdöl- und Erdgastechnik aus Homs. Die bulgarische Regierung
befürchtet angesichts von nur 8.000 registrierten Flüchtlingen bereits eine
„humanitäre Katastrophe“ im Land.
Der EU kommen solche Missstände entgegen. Denn sie betreibt
Flüchtlingspolitik allein als Abschreckungspolitik. Das Recht von Menschen
auf menschenwürdige Behandlung, das auf der EU-Werteskala doch ganz oben
steht – offiziell – kommt nicht zum Tragen.
Und auch die Politiker Bulgariens, das zu den ärmsten Ländern in Europa
zählt und massiv mit Korruption zu kämpfen hat, sind froh um die neue
Aufgabe als Türsteher Europas. Es ist ihre Chance, sich als Mitglied zu
bewähren. Gleichzeitig bringt die Grenze auch Geld: Die EU hat das
Unternehmen mit 6 Millionen Euro mitfinanziert. Daher erstaunt es nicht,
dass es den bulgarischen Innenminister in die Bredouille bringt, wenn
ausgerechnet deutsche EU-BürgerInnen, gegen den Grenzzaun vorgehen. Die
kann man nicht einfach wegsperren und hungern lassen. Die haben ja eine
Lobby – und vor allem den richtigen Pass.
Um so wichtiger ist es, dass die PassinhaberInnen endlich den Konsens
aufbrechen, die EU könne dem Problem nur per Mauer Herr werden. Auch die
DDR schützte ihr repressives System mithilfe einer Mauer. Was im Westen
zurecht kritisiert wird – doch von KritikerInnen wie Angela Merkel auf
EU-Ebene wiederholt und legitimiert wird.
## Zusammenarbeit mit Gruppen vorort
Doch militärisch wird man die Menschen nicht davon abhalten können, ihr
Leben retten zu wollen. Doch vielleicht geht es darum auch gar nicht,
sondern vielmehr um Arbeitsplätze in der schattigen Mauerökonomie? Also
dort, wo keiner genau hinsieht – aber Geld fließt. Selbst der Sprecher der
Warschauer Frontex-Zentrale, Michal Parzyszek, gab im Gespräch am 12. 12.
2013 mit der Frankfurter Rundschau zu bedenken: „Zäune sind keine Lösung.“
„Wenn die Menschen kommen wollen, dann schaffen sie es auch. Wir können sie
ja nicht erschießen.“ Hoffen wir, dass es dabei bleibt.
Es ist klar, dass die nationale wie europaweite Politik nur dann auch
politisch und nicht mehr rein polizeilich beziehungsweise militärisch in
Bezug auf Flüchtlinge handeln wird, wenn die breite Öffentlichkeit das von
ihr verlangt. Noch immer – und auch Deutschland bremst hier massiv – gibt
es keine europäische Flüchtlings-, Einwanderungs- und Verteilungspolitik.
Stattdessen setzt man aufs Mittelmeer als die effektivste, da oft tödliche
Grenze. Schätzungsweise 30.000 Flüchtlinge sind hier bereits ertrunken.
So unvollkommen die vom Zentrum für politische Schönheit initiierte Aktion
am bulgarisch-türkischen Mauerzaun war – die harschen und nervösen
Reaktionen auf sie, zeigen wie wichtig ein Schritt in diese Richtung ist.
Jetzt muss der Protest weiter professionalisiert werden. Das Wissen, das
etwa beim Widerstand gegen Castor-Transporte gesammelt wurde, sollte
einfließen, genauso wie das von Flüchtlingen selbst. Wer kennt die Grenzen
besser als sie? Auch Kooperationen mit lokalen Gruppen in den Grenzregionen
sollten ausgebaut werden. Zentral ist die Verbindung von Aktion und
Diskurs: Denn wir brauchen Transparenz. Die aber lässt sich angesichts des
militärischen Apparates, der an den Grenzen agiert, nur noch mithilfe von
zivilem Ungehorsam herstellen.
Kurzum: Die EU-Außenmauern lassen sich nur mithilfe einer europäischen
Protestbewegung einreißen. Deutsche Ufos landen zu lassen, – auch wenn es
sich nur um zwei schäbige Busse handelte – kann also nur ein Auftakt sein.
Der aber ist jetzt gemacht.
13 Nov 2014
## AUTOREN
Ines Kappert
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