# taz.de -- E-Staatsbürgerschaft in Estland: Die Esten exportieren sich selbst | |
> Seit 15 Jahren besitzt Estland eine einzigartige virtuelle Infrastruktur. | |
> Ab Dezember kann jeder darauf zugreifen, man muss nur E-Este werden. | |
Bild: Man sieht es ihnen nicht an, aber das sind alles E-Esten. Und in ein paar… | |
BERLIN taz | Kristiina Omri strahlt eine gewisse Strenge aus, mit ihren | |
Perlenohringen und dem schwarzen Kleid. Damit passt die junge Frau zur | |
Kulisse, in der sie sitzt, der estischen Botschaft, diesem herrschaftlichen | |
Gebäude in der Berliner Hildebrandstraße. Seit 1918 gehört das Haus den | |
Esten und es scheint, als wäre seither kein Tag vergangen. Stuck an den | |
Decken, goldene Kronleuchter, großformatige Fotografien an den Wänden. Zum | |
Kaffee wird Gebäck gereicht. | |
Überraschend gestrig sieht es hier aus, so 1.0, so gar nicht nach dem | |
Silicon-Valley-Estland, von dem alle reden. Denn Estland ist nicht nur das | |
Land von Skype und besitzt eine der schnellsten Breitbandverbindung der | |
Welt. Seit 2000 [1][setzen die Esten zudem auf das E-Government-System], | |
das sämtliche Kommunikation mit Behörden, Bürgern und Unternehmen digital | |
möglich macht. „Ich bin vor zwei Monaten hergezogen und vermisse unser | |
E-System jetzt schon. Es ist so praktisch“, erklärt Omri, die als | |
Wirtschaftsdiplomatin nach Berlin kam. | |
Omri ist Estin und damit automatisch auch E-Estin, kann also auf das | |
Government-System zugreifen. Auf dieses seltsame digitale System, das alle | |
Esten verbindet und in dieser Form weltweit einzigartig ist. Viele Esten | |
wissen um diesen virtuellen Vorsprung und wollen, dass ihr ansonsten | |
unauffälliges kleines Land davon profitiert. Aus diesem Grund werden die | |
digitalen Privilegien der estnischen Staatsbürgerschaft nun zum Exportgut. | |
Ab Dezember können alle, und damit auch Deutsche, E-Bürger Estlands werden. | |
Die E-Staatsbürgerschaft kostet 50 Euro und einen Flug nach Estland, wo die | |
eigene Identität per Fingerabdruck und biometrischem Foto bestätigt wird. | |
Bis 2025 soll das 1,3 Millionen-Volk auf 10 Millionen anwachsen. Schon | |
jetzt gibt es über 10.000 Vormerkungen. | |
## Standort „Estland“ soll attraktiv werden | |
Als deutscher E-Este kann man zwar nicht per [2][E-Voting] wählen, hätte | |
aber die Möglichkeit, in Estland zum Doktor gehen, und zwar virtuell. | |
Estnische Ärzte können nämlich über [3][E-Health-Record] die Krankenakten | |
ihrer Patienten online einsehen und im Netz Rezepte verschreiben. Mit Hilfe | |
der Identity-Card – einer Art virtuellen Unterschrift – kann das Rezept in | |
der Apotheke eingelöst werden. Über [4][E-School] sind Eltern in der Lage, | |
die Noten ihrer Kinder zu checken, die Hausaufgaben für morgen in Erfahrung | |
zu bringen und bei Problemen mit Lehrern zu chatten. | |
Und die [5][E-Police] braucht nicht länger nach Führerschein und | |
Fahrzeugpapieren zu fragen, sie kann stattdessen vom Polizeiauto aus | |
Vorstrafen, Versicherungen, Fotos, Adressen und Telefonnummern von | |
Fahrzeughaltern und -benutzern online einsehen. „Die E-Esten sparen im | |
Schnitt eine Arbeitswoche pro Jahr durch das E-System. Und nicht zuletzt | |
Papier“, erklärt Omri begeistert. | |
Aber was bringt das jemanden, der weder in Estland zum Arzt geht, noch | |
seine Kinder dort zur Schule schickt oder mit dem Auto durch Tallinn fährt? | |
„Natürlich nützt es nur etwas, wenn irgendeine Verbindung zu Estland | |
besteht. Wenn man zum Beispiel dort studiert, erleichtert es das Leben | |
ungemein, schon weil die Universitäten mit dem E-System arbeiten“, sagt | |
Omri. | |
In erster Linie soll die E-Staatsbürgerschaft aber ausländische Unternehmen | |
ansprechen und den Standort „Estland“ attraktiv machen. Denn Unternehmer | |
genießen in dem baltischen Land zahlreiche Vorteile: weniger Bürokratie | |
durch die ID-Card, einen einfachen Zugriff auf Bankgeschäfte und die | |
Nichtbesteuerung von reinvestierten Gewinnen. Die Zahl der Firmen soll sich | |
bis 2025 verdoppeln und damit mehr potenzielle Kunden für einheimische | |
Firmen und Dienstleister ins Land holen. | |
## Ist das sicher? | |
Zeit sparen, das klingt gut. Papier sparen, auch eine schöne Sache. Aber da | |
ist immer noch die Frage nach der Sicherheit. „Esten verdrängen die | |
Sicherheitsrisiken gern. Der Zugang für internationale Unternehmen lädt | |
beispielsweise zur Geldwäsche und Kriminalität ein“, sagt Brigitte | |
Engelhardt, Vorsitzende der Deutsch-Estnischen Gesellschaft in Berlin. | |
Auch der Spezialist für Online-Wahlen, Jason Kitcat, ist misstrauisch. Er | |
hat an einer Studie zum E-Voting in Estland mitgewirkt. Kitcat erklärt, | |
dass eine Analyse des estnischen E-Votings zur Europawahl im Mai 2014 | |
gezeigt habe, dass erhebliche Sicherheitslücken bezüglich der | |
Identifizierung von Personen beständen. Dies könne auch Probleme für | |
weitere E-Funktionen bedeuten. Genau das macht andere Staaten skeptisch, | |
das Problem mit der Datensicherheit und das Bild von bösen, anonymen | |
Hackern, die sich in das eigene E-System einklinken. | |
Aber dann sieht man Omri, wie sie in der estnischen Botschaft mit derselben | |
Skepsis auf ein Blatt Papier blickt. Und zwischen den Augenbrauen der | |
Wirtschaftsdiplomatin zeichnen sich zwei Fältchen ab. Zwei Fältchen, die | |
ihr Verhältnis zur Digitalisierung der Welt beschreiben. „Überlegen sie | |
doch mal“, sagt Omri. „Wenn ich das hier liegen lasse, das Papier, dann | |
weiß ich doch überhaupt nicht, wer in der Zwischenzeit hereinkommt und | |
einen Blick drauf wirft. Ist das sicher?“ | |
## Vertrauen ins Netz | |
„In Estland gibt es ein unglaubliches Vertrauen in den Staat und das | |
E-System. Das ist eine ganz andere Kultur, die für Deutsche schwer | |
nachzuvollziehen ist“, erklärt Engelhardt. Aber woher kommt diese | |
Gelassenheit in Bezug auf den Datenschutz? Der Glaube daran, dass das Geld | |
in der Hosentasche weniger sicher ist als auf einem Online-Konto? „Estland | |
hat als ehemaliger Sowjet-Staat nach 1989 ein ganz neues bürokratisches | |
System aufgebaut. Und es wurde sofort erkannt, dass das Internet eine immer | |
wichtigere Rolle spielen wird. Viele Esten sind mit dem E-System | |
aufgewachsen, haben schon früh PC-Kurse belegt und konnten sich daran | |
gewöhnen“, erklärt Omri. | |
„Und natürlich legen wir viel Wert auf Sicherheit. Jeder Este sieht über | |
einen Login-Register, wer auf seine Daten zugreift. Zudem läuft das | |
E-System über verschiedene Datenbanken, ist also dezentral organisiert. Und | |
es gibt IT-Spezialisten, die rund um die Uhr mögliche Sicherheitslücken im | |
Blick haben“, sagt Omri. „Und sollte doch etwas passieren, können wir | |
unautorisierte Zugriffe online nachvollziehen. Beim Papier geht das nicht“, | |
erklärt Omri und schaut auf das Blatt vor sich. | |
Dann lächelt sie, greift nach dem Gebäck und kommt mit einem ebenso | |
abwegigen wie wahren Argument daher: „Am Anfang haben immer alle Angst vor | |
etwas Neuem“, meint sie. „Vor ein paar Jahrzehnten noch, war es für die | |
Menschen unheimlich, dass Flugzeuge vom Boden abheben. Aber auch daran | |
haben sie sich gewöhnt.“ | |
30 Nov 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://e-estonia.com/e-residents/become-e-resident/ | |
[2] http://e-estonia.com/component/i-voting/ | |
[3] http://e-estonia.com/component/electronic-health-record/ | |
[4] http://e-estonia.com/component/e-school/ | |
[5] http://e-estonia.com/component/e-police/ | |
## AUTOREN | |
Christine Stöckel | |
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Konstantin von Notz | |
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