# taz.de -- Reform zur Familienpflege: „Mischung aus Herz und Verstand“ | |
> Rückkehrgarantie zum Job, Kredit vom Bund und Lohnersatz im akuten Fall | |
> gibt es künftig für Menschen, die Verwandten helfen. | |
Bild: Eine gute Pflege bereitet auch den Gepflegten Freude | |
BERLIN taz | Wenn Kornelia Schmid von der Arbeit nach Hause kommt, wartet | |
ihr Mann schon auf sie. „Gut, dass du endlich kommst“, sagt er dann. Jetzt | |
beginnt für die 52-jährige Reno-Fachgehilfin im bayerischen Amberg ihre | |
nächste Schicht: Sie bringt ihren Mann zur Toilette, sie zieht ihn um, sie | |
wäscht ihn. Er sitzt im Rollstuhl, an manchen Tagen ist er am ganzen Körper | |
gelähmt. Dann muss sie ihn füttern und ihm den Mund abwischen. Schmids Mann | |
leidet an multipler Sklerose, einer unheilbaren Krankheit. Kornelia Schmid | |
pflegt ihn seit fast zwanzig Jahren. Sie pflegt auch ihre 78-jährige Mutter | |
und ihre ebenso alte Schwiegermutter. „Nebenbei“ geht sie 16 Stunden in der | |
Woche arbeiten. | |
Das spürt sie. Jeden Tag ein bisschen mehr. „Meine Nerven sind nicht mehr | |
stabil“, sagt sie. „Mein Rücken ist empfindlich geworden.“ Menschen wie | |
Kornelia Schmid soll jetzt geholfen werden. Am Donnerstag hat der Bundestag | |
die sogenannte Familienpflegezeit verabschiedet. | |
Das Gesetz von Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) erlaubt es künftig | |
berufstätigen Angehörigen, sich kurz- und längerfristig um nahestehende | |
Pflegebedürftige zu kümmern. Das können Verwandte wie Eltern, | |
EhepartnerInnen oder Geschwister sein – und jetzt auch enge Vertraute wie | |
Stiefeltern und SchwägerInnen. Um die Pflege zu gewährleisten, können | |
Betroffene fortan bis zu sechs Monate teilweise oder ganz aus dem Job | |
aussteigen – und danach wieder an ihren alten Arbeitsplatz zurückkehren. | |
Diese Regelung gilt für Betriebe mit mehr als 15 MitarbeiterInnen. | |
Möglich wird es ebenso, die Arbeitszeit zwei Jahre lang auf bis zu 15 | |
Wochenstunden zu reduzieren. Einen Rechtsanspruch darauf haben allerdings | |
nur Beschäftigte in Unternehmen mit mindestens 25 MitarbeiterInnen. Auch | |
Chefs kleinerer Firmen dürfen ihren Angestellten eine Aus- oder Teilzeit im | |
Pflegefall gewähren, müssen es aber nicht. | |
Um die Pflegezeit finanziell zu überbrücken, wenn das Geld durch die | |
Arbeitszeitreduzierung nicht reicht, können die Pflegenden einen zinslosen | |
Kredit aufnehmen. Den bekommen sie beim Bundesamt für Familie und | |
zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA). Das Darlehen muss nach Ende der | |
Pflegezeit zurückgezahlt werden. | |
## Bezahlte Auszeit im Akutpflegefall | |
Darüber hinaus sieht das Gesetz, das ab Januar gilt, eine bezahlte Auszeit | |
im Akutpflegefall vor. Wenn beispielsweise Mutter oder Vater schwer | |
gestürzt sind und sofort gehandelt werden muss, hatte man schon länger | |
Anspruch auf eine Auszeit im Job – bisher allerdings unbezahlt. Künftig | |
gibt es zehn Tage lang Lohnersatz, ähnlich wie im Krankheitsfall von | |
Kindern. Dafür stellt die Pflegeversicherung, deren Beiträge ab Januar | |
erhöht werden, 100 Millionen Euro zur Verfügung. | |
Derzeit gibt es 2,6 Millionen Pflegebedürftige, 1,85 Millionen werden | |
ambulant betreut, zwei Drittel davon zu Hause von ihren Angehörigen. Von | |
denen sind 400.000 berufstätig, in der Regel Frauen. Laut | |
Familienministerium beklagen rund 80 Prozent der Betroffenen, dass sie | |
Beruf und Pflege nur schwer miteinander vereinbaren können. | |
## Rückhalt in der Koalition | |
Die Gesetzesnovelle stößt vor allem in der Koalition auf allgemeine | |
Zustimmung. Als eine „Mischung aus Herz und Verstand“ bezeichnet Marcus | |
Weinberg, familienpolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, das | |
Papier. „Das ist ein gutes Gesetz für Familien und für Unternehmen“, lobt | |
SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann. „Grundsätzlich“ begrüßt auch der | |
Frauenrat, der Dachverband aller Frauenorganisationen und -verbände in | |
Deutschland, die Familienpflegezeit. „Gesetzliche Regelungen der Pflege | |
müssen dafür sorgen, dass Frauen von und bei der Pflege entlastet werden“, | |
heißt es in einer Stellungnahme. | |
Gleichwohl bemängelt der Frauenrat, dass das Gesetz vor allem Frauen und | |
nicht auch Männer mit in den Blick nimmt. Würde das Gesetz keinen Kredit, | |
sondern „eine nicht rückzahlbare Lohnersatzleistung“ bieten, dann würden | |
auch besser verdienende Männer stärker dazu animiert werden zu pflegen. | |
## Nachteile für Frauen | |
Kritik entzündet sich auch an der Größe der Firmen, für die das | |
Rückkehrrecht an den alten Arbeitsplatz gilt. „Vor allem Frauen arbeiten | |
größtenteils in kleinen und mittleren Unternehmen und profitieren damit | |
nicht vom Rechtsanspruch“, sagt Christine Reckmann vom Zukunftsforum | |
Familie. | |
Das sieht Kornelia Schmid in Amberg ähnlich. Sie wohnt in einer Region, in | |
der viele Firmen kleine Familienbetriebe sind. Die Angestellten dort gingen | |
leer aus. Schmid weiß aus eigener Erfahrung, was es heißt, arbeiten zu | |
gehen und gleichzeitig zu pflegen. An manchen Abenden ist sie so fertig, | |
dass die Buchstaben vor ihren Augen verschwimmen, wenn sie Zeitung liest. | |
Zum Jahreswechsel gibt sie – trotz Schwesig-Gesetz – ihren Job auf. Das | |
hatte sie schon länger beschlossen. Sie ahnt, dass ihr die KollegInnen und | |
die gute Stimmung im Büro fehlen werden. Aber sie will vorbeugen und nicht | |
selbst zum Pflegefall werden. Denn was sollten dann ihr Mann, ihre Mutter | |
und ihre Schwiegermutter machen? | |
4 Dec 2014 | |
## AUTOREN | |
Simone Schmollack | |
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Thomas Oppermann | |
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