# taz.de -- Soziales: Pflege überfordert Angehörige | |
> Fast 70.000 Berliner pflegen Angehörige und arbeiten trotzdem. Eine | |
> Belastung, die krankmachen kann. | |
Bild: Fast 70.000 BerlinerInnen pflegen ihre Angehörigen. | |
Für Helga Meyer*, 52 Jahre alt, Sekretärin, endet der Arbeitstag nicht, | |
wenn sie aus der Firma nach Hause kommt. Dort, in der Drei-Zimmer-Wohnung, | |
geht es erst richtig los: Seit 14 Jahren pflegt sie ihre alte Mutter, seit | |
neun Jahren ist auch ihr Ehemann krank. Tagsüber hilft ein ambulanter | |
Pflegedienst. Auch um den zu bezahlen, muss Helga Meyer weiterhin Vollzeit | |
arbeiten. Einen Teil ihrer Aufgaben kann sie per Telearbeit von Zuhause aus | |
erledigen. Trotzdem empfindet sie die Belastung insgesamt als „krass“, sagt | |
sie. | |
Knapp 70.000 BerlinerInnen arbeiten – und pflegen wie Meyer außerdem ihre | |
Angehörigen. Das ist ein Ergebnis der Studie „Vereinbarkeit von Pflege und | |
Beruf in Berlin“, die der Familienbeirat am Freitag vorstellte und mit der | |
erstmals Daten zu diesem Thema für Berlin vorliegen. Der Vorsitzende des | |
Familienbeirats, Thomas Härtel, bezeichnete es als eine „fast unlösbare | |
Aufgabe“ für die Betroffenen, die privaten Fürsorgepflichten mit den | |
beruflichen Anforderungen zu vereinbaren. „Es fehlt in Berlin an klaren | |
Konzepten, wie diese Menschen entlastet werden können“, so Härtel. | |
Die Studie stützt sich neben eigenen Erhebungen auf Zahlen von 2011, da | |
aktuellere nicht vorlägen, wie die Soziologin Marianne Heinemann-Knoch vom | |
Institut für gerontologische Forschung erläuterte. Demnach leben in Berlin | |
108.000 Pflegebedürftige, von denen ein Viertel in Heimen untergebracht | |
ist. Drei Viertel werden Zuhause gepflegt: Insgesamt 170.000 Menschen | |
kümmern sich um ihre Angehörigen teils mit Unterstützung von ambulanten | |
Diensten. | |
Der Anteil der pflegenden Angehörigen ist in Berlin im Bundesvergleich | |
besonders hoch. „Viele können sich die teure Heimunterbringung nicht | |
leisten“, erklärte Heinemann-Knoch. Stattdessen schöpfen sie das Geld aus | |
der Pflegeversicherung möglichst lange aus. | |
Es sind vor allem Frauen zwischen 50 und 60 Jahren, die sich um die Pflege | |
von Verwandten kümmern und parallel arbeiten. Viele von ihnen sind in | |
Teilzeit beschäftigt und können es sich nicht leisten, weiter zu | |
reduzieren. Bei den pflegenden Männern liegt der Studie zufolge der | |
Altersdurchschnitt bei 80 Jahren: Sie kümmern sich häufig um ihre | |
Ehefrauen. | |
In Berlin gibt es laut Familienbeirat zwar ein gutes Hilfsangebot: 28 | |
Pflegestützpunkte bieten Beratung vor Ort, es gibt Pflegelotsen sowie das | |
Pflegeportal des Landes. Allerdings fehle eine zentrale Anlaufstelle. „An | |
wen wende ich mich, wenn meine Mutter plötzlich einen Schlaganfall hat?“, | |
fragt die Soziologin. | |
Viele erfahren so offenbar gar nicht von den gesetzlichen Möglichkeiten, | |
die sie haben. Laut dem Pflegezeitgesetz von 2008 können Arbeitnehmer eine | |
halbjährige unbezahlte Auszeit nehmen, um für ihre Angehörigen zu sorgen. | |
Seit 2012 sollen Beschäftigte die Arbeitszeit zudem in Absprache mit ihren | |
Chefs reduzieren können. Der Arbeitgeber zahlt einen Großteil des Lohn | |
trotzdem. Nach spätestens zwei Jahren soll die versäumte Zeit dann | |
nachgearbeitet werden. 2012 und 2013 haben bundesweit jedoch nur 273 Männer | |
und Frauen einen solchen Antrag gestellt, heißt es in der Studie. | |
Helga Meyer empfindet die gesetzlichen Möglichkeiten als nicht passend für | |
ihre Situation. Sie pflegt Mutter und Ehemann seit 2005. „Was nützen mir da | |
zwei Jahre?“ Also arbeitet sie weiter – und ist gesundheitlich oft | |
angeschlagen, wie sie erzählt. Sie habe ständig Husten und Schnupfen. Die | |
Gesundheitskosten für Menschen, die ihre Angehörigen pflegen, sind laut | |
einer in dem Bericht zitierten Krankenkasse deutlich höher als im Schnitt. | |
Die Probleme werden sich verschärfen: Schon jetzt gibt es in der | |
Pflegebranche einen Fachkräftemangel. Angesichts der demografischen | |
Entwicklung rechnet der Senat bis 2030 mit einer Zunahme der | |
Pflegebedürftigen um 66 Prozent. Gleichzeitig werden die Familien kleiner – | |
damit sinkt auch die Zahl der potentiellen Pflegerinnen und Pfleger. | |
*Name geändert | |
10 Oct 2014 | |
## AUTOREN | |
Antje Lang-Lendorff | |
## TAGS | |
Therapie | |
Manuela Schwesig | |
Familienministerin | |
Familie | |
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