# taz.de -- Zahlen zur Gentrifizierung: Der Berliner zieht nicht um | |
> Müssen immer mehr Menschen an den Stadtrand ziehen, weil sie die hohen | |
> Mieten nicht mehr zahlen können? Im Gegenteil, meint der | |
> Vermieterverband. | |
Bild: Rein, rauf, runter, raus: passiert in Berlin immer seltener. | |
Umziehen ist eigentlich toll. Man geht zu Robben und Wientjes, dem letzten | |
großen Mietwagenladen, wo sich richtig nette MitarbeiterInnen am Counter | |
erst mal eine drehen, bevor sie den großen Fahrzeug-Pappplan in die Hände | |
nehmen und mit Tippex den Vormieter deines künftigen Fahrzeugs überpinseln. | |
Meine Lieblingsvermieterin arbeitet schon über 20 Jahre hier. Computer | |
werden hier nur sehr rudimentär genutzt. Jedes Mal neu unterschreibe ich | |
begeistert wieder den kleinen Zettel, auf dem steht: „Der Tank ist nicht | |
voll.“ | |
Während früher Freunde alle paar Monate oder Jahre zum Kistenschleppen | |
riefen, sind es inzwischen eher Umzüge von Großeltern ins müffelnde | |
Altenpflegeheim, wo man ständig mit Karton im Arm in Automatiktüren hängen | |
bleibt. Oder Paare trennen sich, derjenige, der auszieht, hat noch gar | |
keine Wohnung und verteilt seinen Kram auf sein Büro und zwei Kellerräume. | |
Die Zurückbleibende kann dann kaum noch die Miete aufbringen und sitzt | |
plötzlich nicht mehr mit dem Ehemann beim Frühstück, sondern mit einer | |
spanischen Studentin. Eine zierliche Andalusierin hat mal eine Freundin | |
komplett in den Wahnsinn getrieben, weil sie regelmäßig abends um 10 in die | |
Küche kam. | |
Sie setzte einen Riesentopf Wasser auf den Gasherd, um darin immer einen | |
vollen 1,5-kg-Beutel Kartoffeln zu kochen. Höchstens drei davon wurden | |
verzehrt, alle anderen weggeschmissen. Nachdem sie sich sogar weigerte, die | |
Restkartoffeln in die Biotonne („Zu eklig“) zu werfen, flog sie nach drei | |
Monaten raus. | |
## Nie wieder nackt durch die Wohnung | |
Danach wurde extra ein feuerroter Feuerlöscher für die Küche angeschafft, | |
um die Auflagen einer US-Studentenaustausch-Organisation zu erfüllen. Es | |
hat dann zwar nie gebrannt, aber man konnte auch nie wieder nackt durch die | |
Wohnung laufen, weil die Ami-Studenten sonst einen Moralischen bekamen oder | |
es sofort als typisch deutsche libertäre Entgleisung an die Eltern | |
twitterten. | |
Bei einer anderen Familie, die sich einen Umzug nicht leisten kann, nach | |
dem Auszug der beiden Söhne aber in einer viel zu großen 5-Zimmer-Wohnung | |
in Neukölln hockt, wohnte bis vor kurzem jemand, der beim Einzug | |
behauptete, Nichtraucher zu sein. Zuerst wurde er zufällig auf der Straße | |
beim Qualmen erwischt. | |
Dann ersetzte er die Namen der (ausgezogenen) Kinder auf dem Klingelschild | |
und am Briefkasten durch seinen, räumte die Klamotten der Bewohnerin in | |
eine andere Schrankecke und paffte dann auch noch heimlich am Fenster. Auf | |
all diese Vergehen angesprochen, sagte er immer nur: „Das ist doch nur | |
Routine.“ Eines Tages war er einfach spurlos verschwunden. Immerhin ohne | |
was zu klauen. | |
## Frau Kern ist unter der Decke | |
Um das Gefühl, dass fast niemand mehr umzieht, mal mit richtig fetten | |
Fakten zu untermauern, bin ich letztens zu einem „Pressegespräch“ des BBU | |
(Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen e. V.) gegangen. Der | |
kann alles irgendwie statistisch belegen und stellte seinen aktuellen | |
„Marktmonitor“ vor. | |
Die Pressekonferenz des BBU fand erstaunlicherweise in einem schmucken | |
kleinen Saal im den Räumen des Bundespresseamtes statt. Jetzt durfte | |
BBU-Vorstand Maren Kern hier fröhlich gegen die Mietpreisbremse wettern | |
(„nimmt uns Freiheit“) und vor allem die gar nicht so dolle Steigerung der | |
Berliner Mieten anpreisen. „Ich gehe unter die Decke, wenn ich dauernd | |
höre, wie stark die Mieten angestiegen sind“, so Kern. | |
## Ein Umzug alle 15 Jahre | |
Umgezogen wird laut BBU tatsächlich rund ein Drittel seltener. Letztes Jahr | |
erreichte die „Fluktuation“ einen Tiefstand von 6,3 Prozent. Vor zehn | |
Jahren lag sie noch bei 9,4 Prozent. Im Schnitt ziehen die Berliner jetzt | |
also nicht mehr alle 10 Jahre um, sondern nur noch alle 15 Jahre. Obwohl | |
Kern wiederholt darauf verwies, nur für ihren Verband sprechen zu können, | |
erstaunte vor allem auch ihre Aussage, es gäbe „keine soziale Verdrängung�… | |
Die Möglichkeit, an den Stadtrand oder besser gleich nach Finsterwalde zu | |
ziehen, ist für Kern eine tolle Chance, keine Katastrophe. | |
Schaut man sich die Mitgliedsunternehmen des BBU genauer an, fällt auf, | |
dass neben diversen Genossenschaften, gleich mehrere, teilweise | |
börsennotierte Großkonzerne sind. Auch dabei die bei Mietern gefürchtete | |
Deutsche Annington und die von ihr gerade geschluckte GAGFAH. Auch die | |
Berliner GSW und die TLG. Allesamt einst öffentlich, aber längst | |
privatisiert und dem Profit verpflichtet. Darunter auch Volksbank, Aareal | |
Bank (M-DAX, Großaktionäre: Oetker und Swiss Life) und der | |
Kabelnetzbetreiber Tele Columbus. | |
## Ohne Rücksicht auf die Bäume | |
Das Bundespresseamt muss sich fragen lassen, ob er auch ein Pressegespräch | |
von Siemens oder Adidas bei sich veranstalten lassen würde. Und die | |
genossenschaftliche Wohnungswirtschaft sollte sich überlegen, ob die | |
Forderungen des BBU noch die ihren sind. Kern jedenfalls betreibt für ihre | |
Mitglieder knallhart Interessenpolitik und fordert gleich mal die | |
Verdreifachung der Neubauförderung. Außerdem durfte sie noch gegen | |
überzogenen Naturschutz wettern, denn manchmal werden Bauvorhaben um Monate | |
verzögert, weil man [1][ein paar „Bäumchen“] nicht fällen darf. Der BBU | |
vertritt nach eigenen Angaben in Berlin 40 Prozent des gesamten | |
Wohnungsbestandes, in Brandenburg sogar die Hälfte. | |
Nach dem Pressetermin gab’s dann noch schön Streit bei Häppchen und | |
Bohnenkaffee. Ein Typ an meinem Tisch meinte, ich solle doch die angebliche | |
soziale Verdrängung mit Zahlen belegen. Dass sich in meinem Haus die Mieten | |
bei Neuvermietung verdoppeln und statt netten Taxifahrern uncoole | |
Unsympathen einziehen, zählte leider nicht. | |
Was jedenfalls richtig boomt, sind sogenannte Selfstorage-Lagerhäuser | |
entlang der Stadtautobahn. Da kann man dann zwar nur seinen ganzen Krempel | |
einziehen lassen, dafür braucht man dann aber auch keine so große Wohnung | |
mehr. Oder man zieht gleich in einen alten Lkw oder Bauwagen. Mitten in der | |
Wuhlheide versteckt, hinterm Görli an der Lohmühlenbrücke oder neben dem | |
Bethanien lebt man dann gemütlich mit Kohleofen und Kompostklo. Oder man | |
geht noch radikaler vor, baut einen Wagen zum Wohnmobil um und ist dann | |
permanent im Umzugsmodus. Oder auf der Flucht vorm Ordnungsamt. Ganz harte | |
Umzugsgegner haben ja schon zweimal bei Robben und Wientjes Brandanschläge | |
verübt. Aber wer Vermieter hasst, sollte keine Möbelwagen abfackeln. | |
22 Dec 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://blogs.taz.de/hausblog/2014/09/21/anwohner-protestieren-gegen-taz-neu… | |
## AUTOREN | |
Andreas Becker | |
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