# taz.de -- Die Wahrheit: Der nasse Capitano | |
> Der Kapitän der im Jahr 2012 verunglückten „Costa Concordia“ wurde jetzt | |
> schuldig gesprochen. Aber ist er das auch? Versuch einer Ehrenrettung. | |
Bild: Nur er weiß, was in seinem Innern vorgeht: Francesco Schettino. | |
Alle Welt glaubt zu wissen, dass ein öllockiger italienischer | |
Prahlhanswurst namens Francesco Schettino die 32 Opfer des „Costa | |
Concordia“-Unglücks im Jahr 2012 auf dem Gewissen hat. Seine Argumente? | |
Verhallen ungehört. Seine Schilderungen jener Nacht? Werden verlacht. Wer | |
sich aber die Mühe macht, ihnen auf den Grund zu gehen, erlebt sein | |
marineblaues Wunder. | |
„Der Felsen war auf den Karten nicht eingezeichnet. Und das | |
Navigationssystem sah ihn auch nicht“, erklärte Capitano Schettino nach dem | |
Unglück. Tatsächlich sind die meisten Felsen im Mittelmeer nicht | |
eingezeichnet. Die Mehrzahl dieser Hindernisse liegt auf dem Meeresboden, | |
stellt aber keine Gefahr dar. Tückisch sind Felsen, die sich boshaft bis | |
knapp über die Wasseroberfläche recken. An jenem Abend war das Meer still. | |
Und stille Wasser sind bekanntlich tief. Und mit veralteten | |
Navigationssystemen haben selbst erfahrene Autofahrer ihre liebe Not. | |
In dieser Situation vertraute Schettino, für den Integration kein Fremdwort | |
ist, auf eine indonesische Hilfskraft am Ruder. Natürlich hätte er nach dem | |
ersten Rrrrumms zur Brücke eilen können. Aber Schettino, ein Mann mit guter | |
Kinderstube, mochte seine osteuropäische Geliebte in dieser schweren Stunde | |
nicht mit ihrem Dessert alleine lassen. | |
„Wir haben bloß ein technisches Problem. Sobald wir es gelöst haben, werden | |
wir Sie kontaktieren“, versicherte Capitano Schettino telefonisch der | |
Hafenaufsicht während des Unglücks. Auch diese Aussage entspricht der | |
Wahrheit. War das Schiff bis dahin sanft durch die Wellen geglitten, | |
stockte plötzlich die Fahrt. Es rumpelte und pumpelte irgendwo tief | |
drinnen. Schettino, weder schicksalsgläubig noch großer Freund antiker | |
Meeresgötter, analysierte blitzschnell und messerscharf: ein technisches | |
Problem, verursacht durch den Kontakt des Rumpfes mit einer geologischen | |
Gegebenheit. | |
„Wir sind auf eine Untiefe geprallt, das Schiff hat sich geneigt, ich mache | |
aber gerade ein gutes Manöver. Alles unter Kontrolle“, erzählte Capitano | |
Schettino seiner Frau in einem Telefongespräch, während das Schiff | |
evakuiert wurde. Unmittelbar nach dem Unglück hat Schettino die Gefahr | |
erkannt und Schritte eingeleitet, sie zu bannen. Seine nautische | |
Meisterleistung, die „Costa Concordia“ quasi in Tuchfühlung mit der Küste | |
zu bringen, wird bis heute kaum gewürdigt. Ein Manöver, mit dem seinerzeit | |
der Kapitän der „Titanic“ nicht aufwarten konnte. | |
## Am Ufer gegrübelt | |
„Ich wollte nicht abhauen, sondern habe Passagieren geholfen, ein | |
Rettungsboot ins Wasser zu lassen“, rechtfertigte sich Capitano Schettino, | |
dass er die Evakuierung nicht koordiniert hatte. Nun hätte Schettino auf | |
der Brücke bleiben können. Den Käpt’n raushängen lassen. Statt dessen | |
polterte er 64 Treppenstufen aufs Sonnendeck, spurtete 250 Meter, nur um | |
hilflosen Passagieren beim Kurbeln zu helfen. Wurde ihm das gedankt? | |
„Ich bin gestrauchelt und lag plötzlich zusammen mit den Passagieren im | |
Boot“, wehrte Capitano Schettino den Vorwurf ab, dass er so früh von Bord | |
gegangen ist. Was will man machen? Plötzlich löste sich die Kurbel, das | |
Boot rauschte hinab, Schettino hinterher. Schließlich hatte sich das Schiff | |
bereits geneigt, und so erfasste auch seinen Körper ein physikalisches | |
Phänomen, das an keiner Materie im Universum spurlos vorübergeht: die | |
Schwerkraft. | |
„Hätte ich mich an einem anderen Ort befunden, wäre ich als Letzter vom | |
Schiff gegangen“, meinte Capitano Schettino zum gleichen Vorwurf. Hätte er | |
sich also nicht auf dem Schiff befunden, wäre er als Letzter vom Schiff | |
gegangen. Glück im Unglück: Er landete nicht im Mittelmeer, sondern im | |
Rettungsboot. Alle Versuche, zurück ans Schiff zu gelangen, scheiterten an | |
der Glätte der Bordwand. Überdies entschieden die Passagiere des Bootes in | |
einem Prozess demokratischer Meinungsfindung, nun unverzüglich ans Ufer zu | |
rudern. | |
Lange stand er dort und grübelte vom Ufer aus, wie das Kentern der „Costa | |
Concordia“ vielleicht zu verhindern wäre. Seine Idee, das Schiff mit | |
aufpumpbaren Schwimmkörpern wieder aufzurichten, wird viel zu spät von den | |
Sicherheitskräften aufgegriffen. Müde vom Nachdenken nötigt ihn ein | |
dominanter Taxifahrer zu sich nach Hause: „Ich kann Ihnen einen Kaffee | |
anbieten!“ Schettino wäre kein Italiener, lehnte er das Angebot zu einem | |
Espresso ab. | |
„Der Kapitän verließ das Schiff mit trockenen Schuhen!“, lautete der | |
Vorwurf des Staatsanwalts an Capitano Schettino. Das ist nachweislich nicht | |
richtig. In der Küche des Taxifahrers bat Schettino um „trockene Socken“. | |
Folglich muss er auch nasse Schuhe gehabt haben. Es sei denn, man | |
unterstellt ihm nicht nur kalte Füße, sondern auch Schweißfüße. Beides | |
schließt sich aus. | |
Nun ist Schettino zu einer Haftstrafe von 16 Jahren verurteilt worden. Er | |
wird 70 Jahre alt sein, wenn er wieder rauskommt. Tragisch: Wenn die | |
öffentliche Meinung in ihrer Kapitänsfeindlichkeit sich erst einmal | |
gebildet hat, steht sie fest wie ein Granitfelsen im Tyrrhenischen Meer. | |
13 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Arno Frank | |
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