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# taz.de -- Suche nach Verschwundenen in Mexiko: Der Geruch des Todes
> Die Verschleppung von 43 Studenten hat die Stadt Iguala aufgerüttelt.
> Auch Angehörige anderer Verschwundener suchen nun nach Gräbern.
Bild: Das Fähnchen markiert ein Massengrab außerhalb von Iguala – eines von…
IGUALA taz | „Positiv!“ Mario Vergara klopft den Umstehenden auf die
Schulter. „Habe ich es nicht gesagt?“ Die lockere Erde, die leichte
Absenkung. Hier musste etwas sein, da war sich der 40-Jährige sicher. Und
jetzt der Beweis: Die Spitze der Metallstange, die sein Mitstreiter Juan
Jesús Canaán gerade in den Boden gerammt hat, stinkt nach Verwesung. Wieder
haben Vergara und seine Leute ein Grab gefunden. Die Suche, so scheint es,
ist für den Mexikaner zur Routine geworden – und zur Berufung. Und wieder
fragt er sich: Liegt hier mein Bruder?
Vergaras Suchtrupp, der aus fünf Personen besteht, hat sich drei Stunden
zuvor wenige Kilometer entfernt auf dem Anwesen der Kirchengemeinde San
Gerardo in der Stadt Iguala getroffen. Iguala ist die Hauptstadt des
südmexikanischen Bundesstaates Guerrero und hat in den letzten Monaten
wegen der vermissten 43 Studenten traurige Berühmtheit erlangt. Doch
Verschwundene und Tote hat es hier schon vorher gegeben. Alle, die beim
Suchtrupp mitmachen, vermissen Angehörige. Manche von ihnen wurden von
Kriminellen entführt, andere von der Polizei. In der Küche der
Kirchengemeinde, zwischen Regalen voller Dosen trinken sie einen ersten
Kaffee.
Fast jeden Tag machen sie sich auf in die Berge, um nach ihren Kindern,
Neffen oder Männern zu suchen. Auch Beamte der Generalstaatsanwaltschaft,
mehrere Polizisten sowie Forensiker sind inzwischen eingetroffen.
„Am Anfang sind wir allein losgezogen, ohne Schutz und staatliche
Unterstützung“, erzählt Mario Vergara und blickt zum Mangobaum, unter dem
die Geländewagen der Uniformierten parken. „Die bewegen sich ja nur, wenn
man ihnen ständig Druck macht.“ Vergara begann mit seinen Leuten, wenige
Wochen nachdem Ende September 43 Studenten verschwanden. Sie sollen auf
Befehl von Igualas Bürgermeister José Luis Abarca von Polizisten
festgenommen und der Organisation Guerreros Unidos (Vereinigte Krieger)
übergeben worden sein. Bislang fand man die Überreste eines Studenten in
einem Massengrab.
## Die Bürgermeisterin und die „Krieger“
Schon lange wusste man, dass Abarca und seine Frau María de los Angeles
Pineda mit der Mafia gemeinsame Sache machten. Seit seinem Amtsantritt 2012
hatten die Entführungen zugenommen. Jeder wusste, dass seine Frau aus einer
Familie kommt, die bei den „Kriegern“ zur Führung gehörte. Etwa hundert
Polizisten sollen direkt für die Organisation tätig gewesen sein, sagt das
Innenministerium.
„Jahrelang hat sich niemand im Ort getraut, über die Verbrechen zu
sprechen“, sagt Vergara. Doch als das Verschwinden der Studenten Aufsehen
erregte, ergriffen die Angehörigen das Wort. Der Bruder von Mario Vergara
wurde vor beinahe drei Jahren verschleppt. Die Familie hatte damals nicht
sofort das Lösegeld zahlen können. Seitdem ist Tomás Vergara verschwunden.
An einem Sonntag trafen sich die Angehörigen erstmals auf dem Gelände der
Kirchengemeinde. 370 Fälle hat die Gruppe inzwischen registriert. „Viele
sind nur einmal gekommen“, sagt Vergara. „Sie haben Angst.“ Dann stockt e…
Für einen Moment scheint er in einer anderen Welt zu sein, einer Welt, in
der Tomás noch lebt.
## Die Karawane fährt in die Berge
Eine Stunde später starten sie. Vorn der Pick-up, auf dem zwei Polizisten
mit Gewehren stehen, dahinter die Forensiker, dann die Wagen der
Strafverfolger, in dem die Angehörigen mitfahren. „Im November waren wir
mit 50, 60 Leuten in den Bergen“, berichtet Juan Jesús Canaán. Er sucht
nach seinem Neffen, der seit 2008 vermisst wird. „Aber die
Staatsanwaltschaft meint, sie könne nicht so viele Menschen schützen.“ In
den Bergen kämpfen die Guerreros Unidos gegen ihre Rivalen. Es geht um eine
Transportroute für Opium und Marihuana.
Auf steiniger Piste geht es durch armselige Siedlungen hinauf. Hinter einem
Zaun weiden Kühe. Der Ort, an dem so viel Blut geflossen ist, wirkt
unscheinbar. Hier haben die Killer der Mafia über Monate hinweg immer
wieder Menschen hingerichtet und die Leichen in Gruben geworfen. Vielleicht
zwanzig, vielleicht auch mehr. Niemand weiß das genau. Deutlich hört man
aus der Ferne die Musik aus den Radios. Die nächsten Häuser sind kaum zwei
Kilometer weg. Jeder, der wollte, konnte nachts die Rufe hören. „Tötet uns
nicht!“ – das haben die Anwohner oft gehört. Keiner wagte, darüber zu
sprechen. Nicht über die Männer, die in den Wagen saßen, nicht über die
Polizisten. Und schon gar nicht über den Bürgermeister, der regelmäßig
hierherkam.
Seit der Bürgermeister und seine Frau im Gefängnis sitzen, ist es in Iguala
etwas ruhiger geworden. Auch die vielen „Falken“, wie die Spione der Mafia
genannt werden, zogen sich zurück. Doch in den letzten Tagen seien sie
wieder aufgetaucht, erzählen Einheimische. Dennoch hatte ein Bauer den Mut,
den Suchtrupp über den unheimlichen Ort zu informieren. „Ohne Leute wie ihn
hast du keine Chance, die Gräber zu finden“, sagt Vergara.
## Mindestens 17 Leichen
Kaum dort angekommen, schützt er seine Glatze mit einem Hut, bindet sich
ein Tuch um den Mund und läuft los. „Hier lagen zwei, da drüben einer,
dort, hinter dem Baum haben wir auch zwei entdeckt.“ Aufgeregt zeigt er von
einer Stelle auf die nächste. „Mindestens 17 Leichen haben wir hier
gefunden“, sagt er. Insgesamt haben sie drei Gräber entdeckt und die
Überreste von 37 Verschwundenen geborgen. Ein paar Meter entfernt führt
Juan Jesús Canaán seine Nase zur Spitze der Metallstange. „Negativ.“
Unten in der Kirchengemeinde stehen inzwischen Frauen mit Kindern in
Schlangen. Ein großes Holzkreuz und ein Bild der heiligen Jungfrau von
Guadalupe prangen an der Wand, ein Plakat erklärt: Formular ausfüllen,
DNA-Probe abgeben, psychologische und juristische Beratung. Und dann
hoffen. Die sterblichen Überreste, die der Suchtrupp findet, werden mit den
Angaben der Angehörigen verglichen. Drei konnten bereits identifiziert
werden.
Bis vor Kurzem war auch Maria del Carmen Abarca mit in den Bergen. Doch
seit sie sich den Fuß verletzt hat, kümmert sich die 42-Jährige um die
Verpflegung. Fast täglich ist sie hier. Zu Hause hält sie es nicht mehr
aus, seit ihr Mann vor einem Jahr verschwunden ist. „Ich habe kein
Lebenszeichen von ihm.“ Schon laufen die Tränen. Doch ein Satz auf ihrem
schwarzen Shirt soll Entschlossenheit zeigen: „Ich werde dich suchen, bis
ich dich gefunden habe.“ Und wenn sie doch keinen Erfolg haben werde, müsse
wenigstens der Schrecken aufhören. „Wegen der Kinder“, sagt die Mutter
zweier Töchter. Und wegen der beiden Enkel, die mit im Haushalt leben.
„Wären die Studenten nicht verschwunden, hätte es nie jemanden
interessiert, was hier passiert.“
## „Hier wird sich nichts ändern“
Und jetzt, wo sich die Welt für Iguala interessiert? „Die lokale Polizei
wurde zwar aufgelöst, trotzdem verschwinden weiterhin Menschen.“ Die
Beamten hätten ganz die Seite gewechselt. „Hier wird sich nichts ändern“,
fürchtet Maria. Sie hofft aber, dass ihre Mitstreiter Erfolg haben. Nur
dann finden die Menschen Ruhe.
Oben in den Bergen ruft Juan Jesús Canaán wieder: „Positiv!“ Dann reicht …
die Stange an Mario Vergara weiter. Der Geruch ist eindeutig. Die Stelle
wird markiert. „Untersuchungszone 12, Grab 3, La Laguna, Iguala, Guerrero“,
steht auf dem Schild, das die Forensiker in die Erde rammen. Dann graben
sie. Tatsächlich finden sie zwei Skelette. Mit Pinseln befreien sie die
Knochen von der Erde. Akkurat verpacken sie Schädel, Ellenbogen und Rippen
in Tüten. Ein Plastikseil hängt um die Reste eines Körpers. Einer der
beiden war gefesselt.
Tomás Vergara ist nicht darunter. Da ist sich sein Bruder sicher. „Ich
hätte seine Schuhe erkannt.“ Und falls doch einmal? „Wir graben hier doch
nur Knochen aus. Ich erinnere mich an ihn als einen lebendigen Menschen, an
sein Lächeln.“ Dann schweigt Mario Vergara. Wieder scheint er in eine
andere Welt entrückt. Eine Welt, in der sein Bruder noch lebt.
20 Feb 2015
## AUTOREN
Wolf-Dieter Vogel
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