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# taz.de -- Studentenmassaker in Mexiko: Lehrer für Mathe und Revolution
> An der Hochschule, an der die Ermordeten studierten, kämpfen ihre
> Kommilitonen um Aufklärung – und für die Tradition ländlicher
> Lehrerschulen.
Bild: Ein Wandgemälde erinnert an die ermordeten Studenten, deren Schicksal b…
AYOTZINAPA taz | Auf den Sport müssen die Studenten der pädagogischen
Fachschule Ayotzinapa derzeit verzichten. Das gesamte Fußballfeld des
Internats nahe der südmexikanischen Kleinstadt Tixtla ist zugeparkt mit
Reisebussen, Getränkelastern und Lieferwagen.
Ein paar junge Männer laden Coca-Cola-Kästen auf einen Pick-up. Fotos
sollten wir besser nicht machen, sagt Victor Gonzalez, ein 19-jähriger
Student, der uns führt. „Man weiß ja nie, wofür wir die Wagen noch
brauchen.“ Zum Beispiel, um die Autobahn zu blockieren oder zu einer Aktion
zu fahren.
Busse zu beschlagnahmen ist bei den hiesigen Studenten fast schon
kulturelle Gewohnheit, genauso wie Wegzoll an den Mautstellen zu kassieren.
So finanzieren viele ihr Studium. Das ist illegal, aber in Mexiko
orientiert sich vieles eher an realen Machtverhältnissen als an Gesetzen.
Die bürgerkriegsähnlichen Zustände in dem am Pazifik gelegenen Bundesstaat
Guerrero, wo Ayotzinapa liegt, kulminierten, als im September Polizisten
und Kriminelle mehrere Dutzend Studenten angegriffen haben. Sechs Studenten
wurden vor Ort erschossen, 43 wurden verschleppt und an ein Drogensyndikat
übergeben.
Alle sind vermutlich tot. Seither herrscht auf dem Campus der
Ausnahmezustand, die Studenten kämpfen zusammen mit den Angehörigen für
Aufklärung. Sie wollen wissen, was mit ihren Kommilitonen passiert ist.
Die waren damals losgezogen, um Busse zu besorgen, mit denen sie später zu
einer Demonstration nach Mexiko-Stadt fahren wollten. Dass ausgerechnet die
Erstsemester den Transport organisieren sollten, ist nur eines von vielen
Ritualen in der Schule, die ihren Namen dem indigenen Wort Ayotzinapa –
Schildkröte – verdankt. Was wie eine Mutprobe unter jungen Männern
aussieht, ist für Gonzalez weitaus mehr: „Wer hier studieren will, muss
bereit sein, zu kämpfen.“
Auch die vielen Wandmalereien an den Wohnheimen, in den Lehrräumen und in
der Mensa spiegeln die revolutionäre Tradition des Internats wider: An den
Wänden prangen die Konterfeis von Marx, Lenin, Che Guevara, des
zapatistischen Subcomandante Marcos und nicht zuletzt von Lucio Cabañas –
einem ehemaligen Ayotzinapa-Studenten, der hier im Bundesstaat Guerrero in
den 1970ern eine Guerilla-Gruppe aufbaute.
## Fachschule für Grundschullehrer
Die pädagogische Fachschule entstand 1932, in den turbulenten Zeiten nach
der mexikanischen Revolution. Sie ist eine von insgesamt 36 „Escuelas
Normales Rurales“ – Ländliche Lehrer-Schulen –, die in diesen Jahren
geschaffen wurden. Männer und Frauen aus armen, oft indigenen
Bauernfamilien sollten dort zu Grundschullehrern ausgebildet werden, um
nach dem vierjährigen Studium die Kinder in ihren Dörfern zu unterrichten.
Mit Bildung wollte die Regierung die bittere Armut bekämpfen.
„Unsere Eltern schicken uns hierher, damit wir nicht dasselbe erleben wie
sie“, erklärt Gonzalez. Doch in den meist schlicht „Normales“ genannten
Schulen lernen die Kommilitonen mehr, als Mädchen und Jungs Mathematik und
Rechtschreibung beizubringen. Der Student zeigt auf die Felder und kleinen
Ställe, die neben den Internatsgelände liegen. „Wir müssen auch Äcker
bestellen oder Rinder züchten – eben alles, was man in der Landwirtschaft
können muss“.
Besonders wichtig aber sei die politische Schulung, betont Gonzalez. Ein
Lehrer, der in Ayotzinapa studiert hat, soll schließlich wissen, wie man
die Bauern in den Dörfern organisiert.
## Ausbildung für politische Anführer
So zumindest sah es der sozialistisch orientierte Präsident Lázaro Cárdenas
vor, der das Land von 1934 bis 1940 führte. Unter ihm hatten die „Normales“
Aufwind. Wer dort lernen wollte, musste nachweisen, dass er aus einer armen
Familie kam und die „ideologischen Voraussetzungen“ mitbrachte. Für einen
erfolgreichen Abschluss brauchte es auch Erfahrungen in sozialen
Aktivitäten. So sorgten staatliche Einrichtungen dafür, dass politische
Anführer erzogen wurden.
Spätere Regierungen hatten kein Interesse an solchen Projekten. Je stärker
sich Mexiko nur noch der kapitalistischen Wirtschaft zuwandte, umso weniger
Interesse hatte man an einer sozialistischen Erziehung. Ein letzter
Höhepunkt dieser Entwicklung war die 2013 verabschiedete Bildungsreform,
die auf Effektivität ausgerichtet ist und Lehrer auf dem Land stärker
reglementiert.
Sie müssen sich nun regelmäßig Kontrollen unterziehen, werden auf ihr
Wissen geprüft, auch die Fortschritte der Schüler sollen überprüft werden.
Zudem ist es jetzt verboten, den Lehrerberuf zu „vererben“, also an die
eigenen Kinder weiterzugeben.
Die Regierung will so dafür sorgen, dass Kinder besser ausgebildet werden
und gleichzeitig die Lehrerorganisationen schwächen. Denn Lehrer sind in
Mexiko eine wichtige politische Kraft, und viele Aufstände sind von ihnen
ausgegangen und gehen von ihnen aus.
## 17 Schulen sind übrig geblieben
Schon Anfang siebziger Jahre wurden viele Lehrerseminare geschlossen. Immer
wieder kam es deshalb zu heftigen, teilweise militanten Kämpfen. Heute
existieren nur noch 17 Schulen, in denen etwa 7.000 Männer und Frauen
studieren.
„Man will die Normales systematisch verhungern lassen“, kritisiert der
Soziologe Manuel Gil Antón von der Universität Colmex in Mexiko-Stadt,
jedes Jahr müssten die Studenten aufs Neue für die Finanzierung ihrer
Ausbildung kämpfen. Vor allem deshalb kassieren die Lehramtsanwärter in
Ayotzinapa und den anderen Schulen regelmäßig „Wegzoll“ an den Mautstellen
und organisieren ihre politischen Aktivitäten mit „beschlagnahmten“ Bussen.
Trotz der bunt bemalten Häuser und den chaotisch im Weg stehenden
Schrottautos herrscht auf dem Ayotzinapa-Gelände das strenge Regiment alter
kommunistischer Schule. „Studium, Ordnung und Arbeit sind die Waffen, um
den Wechsel zu erreichen“, stellt ein Graffito klar.
In einem Aushang erklärt das „Komitee Ordnung und Disziplin“, welche
Vergehen geahndet werden. Zum Beispiel das Trinken von Alkohol oder
exhibitionistisches Auftreten. So sieht es der Kodex der 1935 gegründeten
Föderation sozialistischer bäuerlicher Studenten Mexikos vor, in dem die
Lehranwärter bundesweit organisiert sind.
## Keine Frauen, nur Männer
Dass in Ayotzinapa nur Männer studieren, findet Gonzalez gut. Früher sei
das anders gewesen, aber dann habe es viele Schwangerschaften gegeben.
„Frauen schwächen dich“, erklärt er. „Du musst nicht nur dich, sondern …
noch deine Freundin verteidigen.“
Viele seiner Kommilitonen scheint das nicht zu kümmern. An diesem sonnigen
Sonntag flanieren jedenfalls einige von ihnen mit ihren Freundinnen über
das Internatsgelände.
„Zurzeit findet kein Unterricht statt, wir müssen kämpfen“, sagt Gonzalez.
Bis heute sei schließlich nicht endgültig geklärt, was mit den 43
verschwundenen Studenten passiert ist. Dennoch können die jungen Männer
Erfolge verbuchen. Mit ihren Aktionen für die Aufklärung des Falls
schafften sie so großen politischen Druck, dass das Abgeordnetenhaus im
diesjährigen Haushalt etwa 25 Millionen Euro mehr für die „Normales“ zur
Verfügung gestellt hat. Das erspart ihnen vielleicht den einen oder anderen
Einsatz an der Mautstelle.
8 Apr 2015
## AUTOREN
Wolf-Dieter Vogel
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