# taz.de -- Forschung zu Antibiotika-Resistenzen: „Das Risiko des Scheiterns … | |
> Stephan Sieber ist eigentlich Chemiker. Aber er hat etwas entdeckt, das | |
> die Antibiotikaforschung revolutionieren könnte. | |
Bild: Stephan Sieber und seine Kollegin Katrin Lorenz-Baath arbeiten seit 2010 … | |
GARCHING taz | Staphylococcus aureus ist ein Bazillus, den man seinem | |
ärgsten Feind nicht wünscht. Er siedelt bevorzugt auf den | |
Nasenschleimhäuten oder am Mund, und in der Regel, das ist das Tückische, | |
tut er dies, einem Schläfer gleich, lautlos, diskret, unbemerkt, oft über | |
Monate, manchmal über Jahre. Staphylococcus aureus harrt aus, denn seine | |
Stunde wird kommen: Dann, wenn die Immunabwehr des Menschen, den er längst | |
besiedelt hat, schwach wird, etwa weil er krank ist, schlägt er zu: mit | |
Wundinfektionen, Lungenentzündung, Blutvergiftung. | |
Garching bei München, die Chemielabors der Technischen Universität liegen | |
nur wenige hundert Meter entfernt vom Atomei, Deutschlands erstem | |
Forschungsreaktor, bis heute Inbegriff für Innovation. Draußen scheint die | |
Februarsonne, und drinnen im Labor zwischen Chromatografiesäulen, | |
Lösungsmitteldestillen und Inkubatoren öffnet Stephan Sieber, 38 Jahre, | |
seit 2009 Professor für organische Chemie, einen Kühlschrank. | |
Sieber, Jeans, Dreitagebart, Hygienehandschuhe, holt eine Petrischale | |
heraus. Darin: eine gelb-golden schimmernde Zellkultur, Staphylococcus | |
aureus auf Nährboden, täuschende Harmlosigkeit. Sieber, ein Mann von mehr | |
als zwei Metern Größe, blickt ehrfürchtig auf die Keimkolonie in seinen | |
Händen. Er sagt: „Wir waren schon so weit.“ | |
Denn als 1928 der britische Mediziner Alexander Fleming zufällig in seinem | |
Londoner Labor Schimmelpilze mit keimtötender Wirkung der Gattung | |
Penicillium entdeckte, da schien der Teufelskreis durchbrochen. Fleming war | |
wenige Jahre später nicht nur der Nobelpreis gewiss: Seit der Erfindung von | |
Antibiotika galten Bakterien wie Staphylococcus aureus als besiegt. | |
## Exzessive Verordnung | |
Galten. Nichts könnte die immense Herausforderung, vor der Wissenschaftler | |
wie Stephan Sieber stehen, besser beschreiben als die verbale | |
Vergangenheitsform: Die einstige Sorglosigkeit, dass Antibiotika Keime | |
verlässlich töten können und damit Leben retten, sie ist dahin. Exzessives | |
ärztliches Verordnungsverhalten, Patienten, die die Einnahmezeiträume | |
eigenmächtig abkürzen, inflationärer Gebrauch in der Tierzucht, mangelnde | |
Hygiene in Krankenhäusern, dazu ein eher geringes Interesse der | |
Pharmaindustrie an weiterer Forschung wegen unattraktiver | |
Verdienstmöglichkeiten – Stephan Sieber sagt: „Es existieren de facto gegen | |
alle Antibiotika Resistenzen.“ Kunstpause. „Und das Gefährliche dabei ist, | |
dass Bakterien Resistenzen untereinander austauschen können.“ | |
Sieber aber ist angetreten, sich der Jahrhundertaufgabe zu stellen. Er will | |
einen neuen Wirkmechanismus finden, um Keime wie Staphylococcus aureus zu | |
bekämpfen, zusammen mit einem Team aus Biologen, Chemikern, Biotechnologen, | |
Medizinern. Neun Menschen insgesamt, eine – gemessen an Dimension und | |
Anspruch – bescheiden wirkende, interdisziplinäre Forschergruppe, | |
angesiedelt an der Universität. | |
Doch ihre Idee hat revolutionäres Potenzial. Sie entstand 2006, eher ein | |
Zufallsfund, sagt Stephan Sieber, und deutet jetzt, neun Forschungsjahre | |
später, darauf hin, dass Grundsätze der Antibiotikaforschung möglicherweise | |
über Bord geworfen werden müssen: Sieber und seine Kollegen glauben nicht | |
länger, dass Keime unbedingt getötet werden müssen, um für Menschen | |
unschädlich zu sein. Sie glauben vielmehr, ach was, sie wissen, zumindest | |
aus Versuchen im Labor und an Mäusen, dass der Nutzen gleichermaßen groß | |
und die Resistenzbildung geringer sein können, wenn man die hoch | |
gefährlichen Erreger stattdessen bloß entwaffnet – aber weiterleben lässt. | |
Klassische Antibiotika zielen darauf ab, die Bakterien über die Zerstörung | |
ihrer Zellwand, ihrer Erbgutinformation oder ihrer Proteine zu töten. Das | |
Problem, sagt Stephan Sieber: „Wer versucht, einen Erreger zu töten, setzt | |
ihn unter Stress. Der Keim teilt sich extrem schnell, dabei kann es zu | |
spontanen Mutationen kommen, auch zu solchen, die die Wirkung der | |
Antibiotika ausschalten – plötzlich ist der Keim resistent.“ Sieber dagegen | |
lässt die Bakterien leben, nimmt ihnen aber ihnen die Fähigkeit, schwere | |
Entzündungen hervorzurufen. Es ist ein Ansatz, der dem | |
Bundesforschungsministerium bis Ende vergangenen Jahres 2,3 Millionen Euro | |
Fördermittel aus der „Gründungsoffensive Biotechnologie“ wert war. Es ist | |
ein Ansatz, der nur dann zu einem Medikament entwickelt werden kann, wenn | |
sich ein Sponsor findet, der zu Investitionen, personell wie finanziell, | |
bereit ist. | |
## Alarmierendes Ausmaß | |
Zunächst waren es Insider der internationalen Wissenschaftscommunity, die | |
kurz vor der Jahrtausendwende das drohende Ende der Wirksamkeit von | |
Antibiotika einander zuraunten. 1998 stufte die Weltgesundheitsorganisation | |
den Kampf gegen resistente Bakterien erstmals als eine ihrer Prioritäten | |
ein. Mittlerweile lernen Kinder bereits im Grundschulalter: Die Resistenzen | |
gegen Antibiotika haben ein alarmierendes Ausmaß erreicht. Rund ein Viertel | |
aller Staphylococcus-aureus-Infektionen in Deutschland sind | |
Methicillin-resistente Staphylococcus-aureus-Infektionen, kurz MRSA. | |
In den USA sind es bereits 50 Prozent. Gegen sie wirken, wenn überhaupt, | |
nur noch wenige Reserveantibiotika. Die amerikanischen Zentren für | |
Seuchenkontrolle erklärten Ende Januar, dass allein in den USA 2 Millionen | |
Erkrankungen und 23.000 Todesfälle im Jahr auf solche Erreger zurückgehen. | |
Sterben wir demnächst, bloß weil wir uns bei der Gartenarbeit an einem | |
Rosenbusch gestochen haben? | |
Es sind diese Fragen, die Stephan Sieber 2006 auf die vielleicht | |
entscheidende Idee seines Lebens bringen. Bis zu diesem Zeitpunkt ist | |
Sieber, der Vater Chemiker, der Großvater Chemiker, ein klassischer | |
Grundlagenforscher mit Interesse an der Funktionsweise von Mikroorganismen | |
einerseits und der antibiotischen Wirkung natürlicher Stoffe andererseits: | |
Chemiestudium in Marburg, Postdoc am Scripps Research Institute in den USA, | |
nach der Rückkehr nach Deutschland Nachwuchswissenschaftler an der | |
Ludwig-Maximilians-Universität in München, 2009 folgte der Ruf an die | |
Technische Universität nach Garching. Sieber sagt: „Uns war plötzlich klar, | |
dass wir möglicherweise die idealen Werkzeuge in der Hand halten, ein | |
drängendes Problem zu lösen.“ Die Werkzeuge selbst sind gar nicht so neu. | |
Es ist bloß niemand vor ihm darauf gekommen, sie miteinander zu | |
kombinieren. | |
## Virulenzfaktoren | |
Am Computer zeigt Sieber, wie Staphylococcus aureus wütet: Die Entzündungen | |
entstehen stets in Momenten großer Schwäche. In diesen Momenten erst sendet | |
Staphylococcus aureus Botenstoffe aus, die messen können, wie viele | |
Bakterien sie schon sind. Ist eine kritische Größe erreicht, schalten alle | |
Bakterien konzertiert die Produktion ihrer Giftstoffe an. Virulenzfaktoren | |
heißen diese im Fachdeutsch der Wissenschaftler. Es sind Proteine, die das | |
tierische oder menschliche Immunsystem schwächen. Indem sie Gewebe auflösen | |
oder zerstören, die natürliche Abwehr des Körpers überlisten oder dafür | |
sorgen, dass andere Bakterien sich überhaupt an Schleimhäute heften können. | |
Was, wenn es gelänge, dass die Produktion der Giftstoffe erst gar nicht in | |
Gang gesetzt wird? Die Bakterien lebten dann zwar weiter, könnten aber | |
nicht mehr schaden. Und, das findet Sieber heraus: Ein Schlüsselprotein ist | |
offenbar dafür verantwortlich, ob die Giftstoffproduktion aktiviert wird – | |
oder nicht. Sein Name: Caseinolytische Protease P, kurz Clp-P. Keine | |
Forschung ohne glückliche Zufälle: Aus früheren Studien wissen Sieber und | |
sein Team, dass es einen Naturstoff gibt, der Clp-P ausschalten kann, indem | |
er das Protein bindet: Beta-Lactone, die von Mikroorganismen produziert | |
werden. | |
„Im Grunde mussten wir nur noch eins und eins zusammenzählen.“ Stephan | |
Sieber lacht. Was er mit Schaubildern und mikroskopischen Aufnahmen binnen | |
eines Februarnachmittags erklärt, ist tatsächlich die Arbeit von bald neun | |
Jahren im Zeitraffer. Er sagt: „Der Vorteil gegenüber herkömmlichen | |
Antibiotika ist, dass wir selbst resistente Bakterien ungefährlich machen: | |
Sie leben zwar noch, sind aber entwaffnet.“ Denkbar sei auch, die neue | |
Methode eines Tages mit herkömmlichen Antibiotikatherapien zu kombinieren. | |
## Es ist noch ein weiter Weg | |
Der Weg bis dahin kann dauern. Erste Versuche an Tieren gibt es seit 2010, | |
ins Team kam damals die Biologin Katrin Lorenz-Baath. Sie erzeugte mit | |
Staphylococcus aureus Abszesse am Rücken von Mäusen, so wie sie auch bei | |
Menschen auftreten. Dann spritzte sie die Beta-Lactone neben die Wunden. | |
Fotos dokumentieren den Erfolg: Die Abszesse schrumpften auf die Hälfte | |
ihrer ursprünglichen Größe – die Beta-Lactone hatten Clp-P offenbar | |
abgehalten, das Signal für die Giftstoffproduktion zu geben. | |
Dann der Rückschlag: Wurden Beta-Lactone direkt in die Venen gespritzt, | |
wuchsen die Abszesse unbeeindruckt weiter. Offenbar war der Wirkstoff nicht | |
stabil genug, um sich den Weg bis zum Abszess zu bahnen. Also entwickelten | |
die Forscher die Beta-Lactone synthetisch weiter, bis sie sich im Körper | |
verbreiten und trotzdem die Abszesse erreichen konnten. Vier Jahre Arbeit, | |
neun Wissenschaftler im Einsatz, es hat sich gelohnt. Allein: Ein Erfolg | |
bei Abszessen von Mäusen, das wissen Sieber und Lorenz-Baath, heißt nicht, | |
dass die Methode übertragbar wäre auf Lungenentzündungen oder auf | |
Knocheninfektionen bei Mäusen. Und schon gar nicht auf Infektionen beim | |
Menschen. | |
Was Sieber, Lorenz-Baath und ihr Team brauchen, sind nicht nur mehr | |
Versuche, mehr Daten, mehr Wissen, mehr Publikationen. Was sie brauchen, | |
ist ein Investor, der das Projekt trotz des Risikos des frühen Stadiums | |
finanziell fördert und es in die nächste, in die entscheidende klinische | |
Phase bringt. Zwischen 1 und 1,6 Milliarden US-Dollar investieren | |
forschende Pharmaunternehmen nach eigenen Angaben in Europa und in den USA, | |
um ein neues Medikament zu finden, es zuzulassen und auf den Markt zu | |
bringen. Keine deutsche Universität kann ein solches Volumen stemmen. | |
2011 legte die EU-Kommission einen Aktionsplan gegen Antibiotikaresistenz | |
vor. 2014 verabschiedete sie zwei weitere Vorschläge zu Tierarzneimitteln | |
und Arzneifuttermitteln. Im Januar 2015 erklärte der US-Präsident, 1,2 | |
Milliarden Dollar für den Kampf gegen resistente Keime auszugeben. | |
In Garching sagt Stephan Sieber: „Das Risiko des Scheiterns ist hoch.“ | |
25 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Heike Haarhoff | |
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