# taz.de -- Die Wahrheit: Eine fremde Frau im Ort | |
> Wer einen Waldhaushalt besitzt, muss einer Dame, die des Weges kommt und | |
> von Fischen aus dem Fluss mit Dreck beworfen wird, Unterschlupf gewähren. | |
Seit vierzehn Tagen hielt sich in unserem Ort eine fremde Person auf, eine | |
etwa dreißigjährige Frau. Zuerst war sie von niemandem bemerkt worden, denn | |
damals besuchten viele Auswärtige unseren Ort, um sich im Kunstmuseum das | |
verschwundene Bild anzusehen. Erst allmählich erkannten wir in jener Frau | |
einen Dauergast. Es wurde Zeit, sie zur Rede zu stellen. Die Aufgabe fiel | |
mir zu, und eines Dienstagnachmittags platzierte ich meinen Waldhaushalt | |
so, dass die Fremde auf ihrem Weg unweigerlich daran vorbeikommen, wenn | |
nicht sogar hindurchgehen musste. | |
In unmittelbarer Nähe verlief der Fluss. Die Fische saßen am Ufer und | |
warfen Dreck ins Wasser. „Seht euch diesen Mist an“, sagte einer von ihnen. | |
Die Fische machten Probleme. Bei uns war das Wasser genormt, und wir | |
wollten, dass es so bliebe. Doch obwohl wir es ihnen streng verboten | |
hatten, warfen die Fische dauernd Dreck hinein, worunter die Norm litt. An | |
besagtem Dienstagnachmittag warfen sie sogar Dreck nach der Frau, als sie | |
sich meinem Waldhaushalt näherte. Ich bot ihr an, bei mir in Sicherheit | |
abzuwarten, bis die Fische weiterschwammen. Notgedrungen kam sie herein. | |
„Herrje, die vielen Bahn-Bilder an den Wänden!“, rief sie aus. Ich erklär… | |
ihr: „Als Kind wollte ich zur Bahn, doch meine Eltern waren dagegen und | |
sagten: ’Du kannst dir Bilder von der Bahn ansehen. Das reicht.‘ Und so ist | |
es bis heute geblieben.“ | |
Bevor ich die Frau fragen konnte, was sie in unserem Ort zu suchen hatte, | |
fing sie von allein an zu berichten: „Ich bin zur Beerdigung meines Onkels | |
hergekommen. Das war vor vierzehn Tagen, und jetzt bin ich noch immer hier. | |
Ist es denn richtig, dass mein Onkel täglich wieder beerdigt wird?“ | |
Woher sollte ich das wissen? Zufällig hatte ich den Verstorbenen zur Hand, | |
sogar lebend. In einer Kommodenschublade bewahrte ich ihn, etwa um zwei | |
Drittel verkleinert, zwischen allerhand Tüchern auf, so dass er es | |
behaglich hatte. Infolgedessen wirkte er immer etwas verschlafen, doch | |
keinesfalls unzufrieden. Ich zeigte ihn meiner Besucherin, und die beiden | |
begrüßten einander wie alte Bekannte, während der Dreck von draußen an die | |
Fensterscheibe klatschte. | |
„Mir geht es gut“, sagte der Onkel zu seiner Nichte, „fahr ruhig nach | |
Hause. Die Menschen suchen nur etwas Zerstreuung, deshalb bestatten sie | |
mich so gern.“ Ich merkte altklug an: „Zerstreuung ist gut, sollte jedoch | |
nicht bis zur Pulverisierung gehen.“ Niemand lachte. | |
Die Frau fragte ihren Onkel, ob er ein Beruhigungs- oder Schlafmittel | |
benötige, er aber erwiderte, er könne auswendig schlafen. Nach einem | |
formlosen Abschied wurde die Schublade wieder in die Kommode | |
zurückgeschoben. „Gut, dass das nun zu Ende ist“, sagte die Frau. Mir fiel | |
weiter nichts mehr ein. „Die Fische sind fort“, stellte ich nach einem | |
Blicks aus dem Fenster fest. In der nächsten Sekunde war auch die fremde | |
Frau fort. | |
Erschöpft sank ich auf meinen Ruhesessel nieder. „Ich werde jetzt ein Stück | |
Schokolade essen“, sprach ich zu mir selbst, „das Leben muss weitergehen.“ | |
18 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Eugen Egner | |
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