# taz.de -- Die Wahrheit: Die Erfüllung der Forderung | |
> Eine Straße in die Vergangenheit. Eine Einladung in ein Haus aus einer | |
> anderen Zeit. Eine Frau von gestern. Wohin soll das bloß führen? | |
Stattdessen machte ich einfach weiter. Ich lief durch die Straßen, durch | |
die ich vor vierzig und mehr Jahren gelaufen war, und wunderte mich, dass | |
ich nicht dieselben Leute wie damals traf. In einer Seitenstraße traf ich | |
den Kosmos. Wäre er das Formalhuhn gewesen, hätte ich ihn mit den Worten | |
angesprochen: „Heda, Formalhuhn, wo gehst du hin am sündigen Donnerstag?“ | |
Doch war er nicht das Formalhuhn, und ebenso wenig war Donnerstag. | |
Zuerst erkannte der Kosmos mich nicht, denn ich trug neue Schuhe. Sobald er | |
aber meine Verkleidung durchschaute, wurde er zutraulich. „Habe ich | |
erwähnt, dass der Himmel wieder meine Hose getragen hat?“, fragte er. | |
Darauf mochte ich nicht eingehen, weil ich fürchtete, in etwas | |
hineingezogen zu werden, das mich erstens nichts anging und mir zweitens | |
gewiss nur Ärger einbrachte. „Ich muss weiter“, sagte ich und ließ den | |
Kosmos stehen. Zweifellos hatte ich rüde an ihm gehandelt, aber was ging | |
mich seine Hose an! | |
Zwei Blocks weiter passierte ich das Haus, in dem der Heide Sondermann | |
wohnte. An seinem bis auf die Straße schallenden Pressspangebrüll konnte | |
ich ablesen: Er konvertierte zum Puddingessen. „Der Heide Sondermann baute | |
die Sondermann-Orgel im Biertunnel“, wird immer behauptet, dazu möchte ich | |
mich nicht äußern, denn wir leben längst in Verhältnissen, die keine freie | |
Meinungsäußerung mehr zulassen. | |
Jemand (weder der Kosmos oder das Formalhuhn noch sonst jemand, den ich | |
kannte) sah aus einem Fenster in der ersten Etage und lud mich ein: „Kommen | |
Sie doch herein!“ Ich war noch nie gut im Identifizieren von Menschen, | |
eventuell hatte ich es mit einem weiblichen Exemplar zu tun. Laut Handbuch | |
konnten die Körpermerkmale so gedeutet werden, daher will ich im Folgenden | |
vorsichtshalber Worte wie „sie“ und „Frau“ verwenden. | |
Es ist beileibe nicht originell, wenn ein Passant zum Betreten eines ihm | |
fremden Hauses eingeladen wird. Dergleichen dürfte in zahllosen Geschichten | |
vorkommen, allerdings bin ich da auf Vermutungen angewiesen, denn ich kenne | |
keine Geschichten. Ich vermute zudem, dass ich schließlich in einer | |
sogenannten Küche landete. | |
Die Frau, die mich hereingebeten hatte, saß am Tisch und beachtete mich | |
nicht. Unerschütterlich aß sie die stärksten Fleischsorten, ohne Rücksicht | |
auf mein zartes Gemüt zu nehmen. Einer schlechten Angewohnheit nachgebend, | |
versuchte ich, eine Konversation zu eröffnen. „Fleisch wird zum Welterbe | |
erklärt“, war alles, was mir einfiel. Darauf erfolgte keine Reaktion. Ich | |
versuchte es also anders: „Sie essen, als hätten Sie einen zweiten Magen | |
draußen in den Bäumen.“ – „Das hätte mein Doktorvater sagen können“… | |
die Frau, „er hat immer gesagt: ’Die Leistungsinfrastruktur muss ausgebaut | |
werden.‘“ | |
Jäh wurde ihr klar, dass sie berufen war, diese Forderung ihres | |
Doktorvaters zu erfüllen. Noch am selben Nachmittag war es so weit: Zum | |
Ausbau der Leistungsinfrastruktur stellten wir vor dem Rathaus einen | |
selbstgebauten Kasten auf, in dem wir wochenlang schnarchend saßen. | |
20 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Eugen Egner | |
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