| # taz.de -- Ausstellung zeigt Geschichte des Tattoos: Sehnsucht nach dem archai… | |
| > Tätowierungen sind heute nichts Besonderes mehr. Dennoch ist die | |
| > Ambivalenz zwischen Auszeichnung und Stigma nie ganz verschwunden. Eine | |
| > Hamburger Schau offenbart es. | |
| Bild: Umstritten: Ausgestopfters tätowiertes Schwein von Wim Delvoye. | |
| HAMBURG taz | Es ist archaisch und modern, Stigma und Orden, Brandmal und | |
| Ehrenzeichen: das Tattoo. Sowohl Ötzi um 4.000 v. Chr. als auch die | |
| skythischen Reiternomaden 3.000 Jahre später trugen Tattoos, sogar auf | |
| ägyptischen Mumien hat man sie gefunden. Priesterinnen und Sklaven der | |
| griechischen und römischen Antike wurden ebenso gebrandmarkt wie Verbrecher | |
| des europäischen Mittelalters. | |
| Christliche Pilger und Kreuzfahrer ließen sich Kreuze und | |
| Christus-Initialen tätowieren. Angesehene Handwerksgilden hatten ihre | |
| eigenen Zeichen, und Soldaten wurden tätowiert, damit man sie, falls sie | |
| die Schlacht nicht überlebten, identifizieren konnte. | |
| Man sieht: Das Tattoo oder Tatau – auf Tahitianisch „Zeichen einritzen“ �… | |
| ist ambivalent. Denn immer gab es diese Kluft zwischen spirituellem Zeichen | |
| und subkulturellem Geheimcode, wie ihn Gangs, Häftlinge, Prostituierte, | |
| Matrosen pflegten. | |
| Das offensive Zurschaustellen einer Gruppenzugehörigkeit und die Hoffnung | |
| auf Schutz durch Symbole scheint der Link zwischen all diesen Communitys zu | |
| sein. Die aktuelle „Tattoo“-Ausstellung in Hamburgs Museum für Kunst und | |
| Gewerbe breitet all diese Konnotationen ausführlich und erfreulich | |
| wertungsfrei aus. | |
| ## Fetisch des Tätowierers | |
| Das beginnt mit den Tätowierwerkzeugen, die wie Folterinstrumente in einer | |
| Vitrine lagern. Sie wirken wie Fetische, und damit liegt man gar nicht | |
| falsch: „Ein Tätowierer identifiziert sich mit seinem Instrument und gibt | |
| es ungern aus der Hand“, sagt Ausstellungskuratorin Susanna Kumschick mit | |
| Blick auf das Sortiment an Nadeln, Scherben, Knochen und Dornen. | |
| Sie sind Garanten für den Schmerz des Stechens, den man auf den 2002 | |
| gefertigten Fotos birmesischer Chin-Frauen fast körperlich nachvollzieht. | |
| Mit Dornen haben sie sich im Zuge eines Initiationsrituals Muster ins | |
| Gesicht stechen lassen, deren Bedeutung niemand mehr kennt. Herausgekommen | |
| sind ästhetische Gewebe, die die individuellen Gesichtszüge komplett | |
| verdecken, als hätte man eine Maske darübergezogen. Diese Symbolik | |
| entspricht der Implikation dieser Tattoos: Zugunsten der Gruppe hat sich | |
| der Einzelne ganz zurückzunehmen. | |
| Ob sich die birmesischen Frauen der Tätowierung hätten entziehen können, | |
| weiß man nicht. Sicher ist aber, dass die neuseeländischen Maori, die nach | |
| langer kolonialer Unterdrückung jetzt wieder Gesichtstattoos tragen dürfen, | |
| ihre Stammeszugehörigkeit öffentlich und freiwillig bezeugen. Zudem | |
| bedecken die flächig geschwungenen Ornamente auf Becky Nunes’ Fotos nicht | |
| das ganze Gesicht, sondern zeugen eher dezent vom Stolz eines Menschen des | |
| 21. Jahrhunderts, der seine Wurzeln zelebriert. | |
| Aus fernen Kontinenten ist das Tattoo auch, nachdem es im Spätmittelalter | |
| von der Kirche als „heidnische Verunstaltung“ verboten war, zum zweiten Mal | |
| nach Europa gekommen: Südseefahrer James Cook brachte im 18. Jahrhundert | |
| Tätowierte aus Tahiti mit und machte den Körperschmuck so salonfähig, dass | |
| sogar die hiesigen Königshäuser anfällig wurden. | |
| 100 Jahre später ließen sich Europas Herzöge und Könige, sogar Zar Nikolaus | |
| II., nochmals anstacheln, diesmal von japanischen Tattoos, die sie auf | |
| fernen Reisen gesehen hatten. Selbst Kaiserin Sissi ließ sich 1880 in einer | |
| Hamburger Hafenkneipe tätowieren – einen Anker auf die Schulter. | |
| Solch neckischem Accessoire steht die Tattoo-Tradition in Gefängnissen | |
| gegenüber: Die ist eine echte Geheimsprache, die im Knast als Auszeichnung | |
| fungiert und draußen sofort ins Stigma kippt. Da zeugen tätowierte | |
| Quasi-Schulterklappen von einer kriminellen Karriere. Rauten und andere | |
| Embleme auf den Fingern zeigen, dass jemand den kriminellen Codex einhält | |
| und nicht mit Behörden kooperiert. | |
| Das kann natürlich auch Fake sein; der Tätowierer liest ja nicht die | |
| Gerichtsakten. Aber meist gilt das Unter-die-Haut-Stechen der Community als | |
| Beweis von Authentizität, als unterschriebener Vertrag – sei er nun | |
| kriminell oder spirituell. | |
| In Thailand zum Beispiel lassen sich Menschen auch heute noch den Rücken | |
| mit spirituellen Texten volltätowieren, die vor Unglück schützen und ein | |
| moralisches Leben erleichtern sollen. Damit das funktioniert, müssen diese | |
| Zeichen allerdings durch einen Priester gesegnet und „aktiviert“ werden. | |
| Die in Hamburg gezeigten Fotos dieser Leute übrigens auch: Jedes von ihnen | |
| trägt ein Emblem, das die Aktivierung bezeugt. | |
| Dieses Oszillieren zwischen Archaik und Moderne war dem Metier stets | |
| inhärent: Auch für die Hamburger Urgesteine des Tattoos – Christian Warlich | |
| sowie seinen Schüler und Nachfolger, den 2010 verstorbenen Herbert Hoffmann | |
| – war Tätowieren stets Ritual, Kunsthandwerk und Kunst zugleich, ein | |
| eigener Stil und Codex Ehrensache. So befand Warlich, der „König der | |
| Tätowierer“, der ab 1919 als erster in Deutschland eine elektrische | |
| Tätowiermaschine nutzte: „Ein anständiger Tätowierer tätowiert nicht im | |
| Gesicht.“ | |
| Herbert Hoffmann, der von 1964 bis 1981 in Hamburg die „Älteste | |
| Tätowierstube in Deutschland“ führte, versuchte lebenslang, das Tattoo | |
| gesellschaftsfähig zu machen. In die Vereinigung der Berufstätowierer trat | |
| er nicht ein, das war ihm zu konventionell; er plädierte für einen | |
| individuellen Weg. Dazu gehörte, dass er sich und seinen Partner auch im | |
| Alter samt Tätowierung fotografieren ließ und Fotos anderer Tätowierter | |
| sammelte. Da gibt es zum Beispiel den Band „Tätowierte Damen“: Zirkusdamen | |
| sind da zu sehen, die ihre Körper gegen Geld zeigten und später teils | |
| selbst tätowierten – etwa die Amerikanerin Maud Stevens Wagner, die erste | |
| bekannte westliche Tätowiererin. | |
| ## Vertraute Fotos | |
| Sehr anrührend und intim ist auch das 1976 entstandene Foto der 83-jährigen | |
| Irene „Bobbie“ Libarry mit blankem, tätowiertem Oberkörper. Aufgenommen h… | |
| es die damals 93-jährige Fotografin Imogen Cunningham; die beiden Frauen | |
| müssen einander sehr vertraut gewesen sein. | |
| Aber das Bild zeugt nicht nur von der Vergänglichkeit der „lebenden | |
| Leinwand“ Tattoo, sondern auch vom Ende der Exklusivität und des Stigmas. | |
| Denn zeitgleich entdeckten Hippies und Punks das Tattoo, und inzwischen ist | |
| es in der Mitte der Gesellschaft angekommen: Fast ein Viertel der unter | |
| 25-Jährigen sei inzwischen tätowiert, fanden Leipziger Forscher heraus. | |
| „Heutzutage, wo sich jede Conny von nebenan wegen ihres Neugeborenen ein | |
| Tattoo auf den Hintern machen lässt, ist es nichts Besonders mehr“, sagt | |
| eine jener Frauen, die Goran Galic und Gian-Reto Gredig für ihre Hamburger | |
| Video-Installation befragt haben. „Ich hoffe, nie jemanden mit demselben | |
| Tattoo zu treffen“, sagt eine andere. Sie zählt zur | |
| Individualisten-Fraktion, die sich Biografisches – Erinnerungen an Freunde, | |
| Urlaube, überwundene Krankheiten – tätowieren lässt, um unverwechselbar zu | |
| werden. | |
| Die Haut als Ausstellungsfläche auf ewig: ein merkwürdiges Phänomen im | |
| Zeitalter der flüchtigen virtuellen Identitäten. Bizarr auch, sich heute, | |
| da sich Berührung auf ein Fingerwischen am iPad reduziert, ausgerechnet | |
| einem Schmerzritual zu unterziehen. Aber vielleicht wächst gerade deshalb | |
| eine Sehnsucht nach einem archaischen, irreversiblen Akt. | |
| ## ■ „Tattoo“: bis 6. September, Hamburg, Museum für Kunst und Gewerbe | |
| 19 Mar 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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