# taz.de -- Die Wahrheit: Dumm und faul – oder gefährlich? | |
> Westliche Werte: Wer zu wenig konsumiert, untergräbt die Demokratie. | |
> Unsere Freiheit muss an der Kaufhauskasse verteidigt werden. | |
Drei Meter Gebäck, drei Meter Schokolade und noch zwei Meter Bonbons und | |
Fruchtgummis. Markus M. (Name der Redaktion bekannt) deutet das lange Regal | |
entlang. Wir stehen in einem Supermarkt, wie er in jeder beliebigen Stadt | |
Deutschlands zu finden ist. „Und die Süßwaren gehen da hinten noch weiter�… | |
sagt Markus M. „Sonderverkaufsdisplays, Knabberzeug … Und bei den | |
Milchprodukten …“, er winkt ab, in seiner Stimme schwingt eine Mischung aus | |
Verzweiflung und Frust mit. | |
„Dabei geht das hier eigentlich. In den großen Supermärkten am Stadtrand | |
sind solche Regale locker vier- oder fünfmal so lang und zweimal so hoch.“ | |
Früher, erzählt er, habe er mehr als eine halbe Stunde vor solch einem | |
Regal gestanden. Hilflos, etwas kaufen zu wollen, sich aber nicht | |
entscheiden zu können. | |
Dann sei er unverrichteter Dinge nach Hause gefahren und habe aus lauter | |
Frust zwei Tage nicht aus dem Bett gefunden. Aber eines Tages, als Markus | |
M. wieder vor einem Regal stand, hin und her überlegte, verglich und | |
verzweifelt um eine Entscheidung rang, ob er nun die Sauren Gurken | |
indischer Art oder die Sauren Gurken à la Mexico kaufen sollte, machte es | |
Klick in seinem Kopf. | |
„Ich habe einfach nichts von beidem gekauft“, berichtet er. „Ich merkte in | |
meinem Inneren, wenn ich nicht kaufen will, sollte ich es eben lassen.“ | |
Seitdem ist Markus M. Nichtkäufer. | |
„Nichtkäufer“, betont er, „ist ein diskriminierender Begriff, den uns | |
unsere politischen Gegner verpasst haben.“ Er selbst bevorzuge die | |
Bezeichnung Wenigkäufer. Denn natürlich kaufe er. Er muss essen und trinken | |
und braucht Kleidung, Bücher, Zeitungen, technische Geräte. Aber nicht | |
immer das neueste Handy, nur weil es das jetzt in Mattschwarz gibt statt in | |
Anthrazit. Er kaufe einfach so wenig oder so viel, dass er sich dabei gut | |
fühle. | |
## Hilflos am Regal | |
Markus M. ist ein bekanntes Gesicht der Wenigkäufer-Bewegung, er wird | |
erkannt in Supermärkten und Kaufhäusern. Beim Discounter mit dem großen A | |
hat er Hausverbot, in anderen Läden wird er von Verkäufern und | |
Filialleitern oft beschimpft. Rückhalt hat er in seiner Familie, doch auch | |
das war nicht immer so. Seine Eltern begegneten seinem Wenigkäufertum | |
anfangs mit Unverständnis, machten sich Sorgen, besonders seine Mutter, die | |
in ihrem Kiez eine berüchtigte Schnäppchenjägerin ist. | |
Aber das gab sich bald. „Ich finde es gut, was der Markus macht“, sagt sie, | |
„mir selbst fehlt ein bisschen der Mut dazu, ohne was zu kaufen aus einem | |
Laden rauszugehen. Einmal hab ichs versucht, da kommt man sich schon | |
komisch vor.“ | |
Wenig oder gar nichts zu kaufen, ist keine neue Idee. Seit 1992 gibt es den | |
„buy nothing day“, der in Deutschland Kauf-nix-Tag heißt. Markus M. hat | |
dazu eine gespaltene Meinung. Im Prinzip finde er den Kauf-nix-Tag gut, | |
aber das sei im Grunde genau dasselbe wie der Konsumdruck, nur umgekehrt. | |
Er möchte sich nicht vorschreiben lassen, wann er kaufen dürfe und wann | |
nicht. | |
Nicht alle Menschen in Politik und Wirtschaft sehen den Umgang mit Kaufen | |
und Nichtkaufen so locker wie die Wenigkäufer. Immer wieder werden mahnende | |
Stimmen laut. Nichtkäufer seien zu faul zum Kaufen, heißt es, oder: | |
Nichtkäufer seien zu dumm zum Kaufen. | |
„Natürlich ist die Bildung ein wichtiger Faktor beim Konsum“, sagt Heinz | |
Schnaufer vom Bundesverband des Einzelhandels, „man muss schon in der | |
Schule die Kinder und Jugendlichen zu konsumfähigen Bürgern erziehen. Die | |
Eltern können das oft nicht leisten, weil sie selbst aus | |
Alt-68er-Elternhäusern kommen, die sich vom Konsum abgewandt haben. Auf uns | |
rollt eine Welle konsumunfähiger Deutscher zu.“ | |
Bereits 2030, so schätzen Experten, könnte der Anteil der Anti-Konsumenten | |
den Anteil der Analphabeten in Deutschland überholen. „Das kann sich kein | |
Land wirtschaftlich leisten. Wenn uns die Binnennachfrage wegbricht …“ | |
Schnaufer schüttelt den Kopf. „Bildung muss gerade in einer | |
Konsumgesellschaft wie unserer oberste Priorität haben.“ | |
Es gibt auch Stimmen, die sagen, Nichtkäufer seien einfach zu arm zum | |
Kaufen. Da müsse man natürlich etwas tun, meint Schnaufer. Der Staat müsse | |
den Ärmsten mit einer Konsumunterstützung unter die Arme greifen, die | |
könnten die Leute auch für Alkohol und Zigaretten ausgeben, Hauptsache, sie | |
kauften überhaupt etwas. | |
## Unterschätzte Gefahr | |
Nichtkäufer gefährden die deutsche Wirtschaft, darin sind sich Politiker | |
und Ökonomen einig. An jedem Produkt hängen zig Arbeitsplätze, selbst, wenn | |
es gar nicht in Deutschland hergestellt, sondern importiert wird: Handel, | |
Logistik, Transport, Werbung, die Druckindustrie, ja selbst die | |
Abfallwirtschaft. | |
Klaus-Theo von Kröten, Wirtschaftspolitischer Sprecher der CDU, hält schon | |
den Begriff Wenigkäufer für einen gefährlichen Euphemismus. „Was diese | |
Konsumhasser tun, gefährdet nicht nur unsere Wirtschaft, sondern auch | |
unsere Demokratie. Wo sonst als im Supermarkt sollen die Bürger sich auf | |
demokratische Mechanismen und Wahlen vorbereiten. Konsum ist Demokratie im | |
Kleinen.“ | |
Auch er kennt die Argumente der Wenigkäufer, ein Produkt sei wie das | |
andere, es gebe gar keine Unterschiede mehr, alles schmecke gleich. Das sei | |
natürlich Unsinn, und von Kröten wird deutlicher: „Mäkelig ist das. Früher | |
hieß es: Freiheit statt Sozialismus. Heute müssten wir sagen: Konsum statt | |
Kommunismus. Freiheit und Konsum sind kongruent. Freiheit steht ja nicht | |
umsonst in unserem Grundgesetz. Sich dagegen zu entscheiden, gefährdet | |
unsere Verfassung.“ | |
Helmut Graf Brenner von der FDP geht sogar noch einen Schritt weiter: | |
Wenigkäufer sind für ihn Verbrecher. „Wirtschaftsterrorismus“, nennt er | |
das, „die Menschen sind 1989 doch nicht auf die Straße gegangen, weil sie | |
zu viel Auswahl in ihren Läden hatten!“ | |
Mit Freiheit argumentiert auch Markus M., doch für ihn ist es die Freiheit, | |
sich gegen das Kaufen entscheiden zu können. Er ist kein | |
Wirtschaftsverweigerer, er engagiert sich durchaus wirtschaftlich. Er leiht | |
Freunden Geld, investiert in ökologische und soziale Projekte, spendet für | |
Tiere oder in Krisengebiete. | |
Graf Brenner schüttelt den Kopf, als er das hört. Für ihn ist unsere | |
Konsumgesellschaft klar geregelt: „Spenden ist nicht Kaufen! In der | |
Marktwirtschaft gibt es Angebot und Nachfrage. Sich da zurückzulehnen und | |
zu sagen, ,ich spiel nicht mehr mit', ist eine elitäre, ja ignorante | |
Haltung. Wer heute nicht konsumiert, hat in ein paar Jahren vielleicht gar | |
keine Auswahl mehr.“ | |
## Der Markt verpflichtet | |
Er und einige Parteifreunde wollen deshalb eine Konsumpflicht einführen. 80 | |
Prozent des Nettoeinkommens sollen für Waren des täglichen Konsums | |
ausgegeben werden. Wer dem nicht nachkomme, müsse eine Konsumstrafe zahlen. | |
Pläne, die aber selbst bei einem Großteil der Wenigkäufer-Gegner nicht | |
unbedingt auf Gegenliebe stoßen. Gerade im konsumsozialen Lager will man | |
nicht, dass das demokratisch erkämpfte Konsumrecht zu einer Konsumpflicht | |
wird, und auch die Christkapitalisten haben noch Einwände. | |
Markus M. verlässt den Supermarkt. Früher hat er kiloschwere Tüten nach | |
Hause geschleppt. Jetzt hat er in der Jackentasche nur eine Packung | |
Kaugummi. Er scheint dabei nicht unglücklich zu sein. | |
28 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Michael-André Werner | |
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