# taz.de -- Die Wahrheit: Ein Piks für Kevin | |
> Der neueste Trend bei der Überwachung: Kinder werden jetzt aus | |
> Sicherheitsgründen gechipt und so rund um die Uhr beobachtet. | |
Bild: Ein winziger Mikrochip für die totale Überwachung von Kindern | |
Der Junge schlendert auf dem Heimweg von der Schule die Straße entlang, | |
kickt einen Stein über den Bürgersteig. Plötzlich wird er in ein Gebüsch | |
gezerrt. Wenig später findet man nur einen blutigen Rucksack. Szenen, die | |
wir alle tagtäglich sehen – im Fernsehen oder im Kopfkino. | |
Auch Markus M. (Name geändert) kennt solch ein Szenario, doch er hat etwas | |
dagegen getan. „Schauen Sie hier“, sagt er und wischt begeistert auf seinem | |
Tablet herum. Wir sehen einen Stadtplan. In der Mitte ist ein roter Punkt | |
mit einem weißen K zu sehen. „Das ist Kevin.“ Der achtjährige Sohn von | |
Markus M. ist mit seiner Mutter einkaufen gefahren, und tatsächlich sehen | |
wir nun den Punkt, der ihn darstellt. Denn Kevin ist gechipt. Dank eines | |
kleinen Funktransponders kann er geortet werden wie ein Handy. | |
„Na ja, das ist ein GPS-basiertes System“, sagt Markus M. „Wenn Sie ein | |
Handy orten wollen, brauchen Sie drei Funkzellen und dann ist das immer | |
noch nur eine Annäherung. Im Notfall viel zu ungenau. Mit GPS sind wir da | |
auf der sicheren Seite. Ist zwar etwas teurer, aber das ist uns die | |
Sicherheit unseres Sohnes wert.“ | |
Absolute Sicherheit gäbe es keine, meint Markus M. „Aber, ich sag mal so. | |
Wäre Natascha Kampusch damals gechipt gewesen, hätte sie nicht acht Jahre | |
im Keller eingesperrt auf ihre Rettung warten müssen.“ | |
Neu sei die Idee, dass man Leuten etwas einpflanzt, damit man sie orten | |
kann, ja nicht. „So was sehen Sie in jedem zweiten Hollywood-Film“, | |
bestätigt Markus M. „Da wird dann der US-Präsident gechipt. Oder Kurt | |
Russell in der ‚Klapperschlange‘. Oder in ‚Total Recall‘ der | |
Schwarzenegger. Der zieht sich dann ja auch so einen Sender aus der Nase.“ | |
## Ein Chip für Schnuppi | |
„Bei uns war es ein Zufall. Wir waren vor zwei Jahren beim Tierarzt, um | |
Schnuppi, unseren Cockerspaniel-Mischling, impfen zu lassen. Da fragte die | |
Ärztin, ob Schnuppi schon gechipt sei. Wir wussten zuerst nicht, was sie | |
meinte, da hat sie es uns erklärt.“ | |
Seit 1999 verlangen einige Bundesländer, dass Katzen und Hunde mit einem | |
Mikrochip-Transponder gekennzeichnet werden. Die darauf befindlichen | |
Informationen werden in einer Datenbank gesammelt. Wird ein streunendes | |
Tier gefunden, kann ein Tierarzt oder das Tierheim mit Hilfe des Chips und | |
eines Lesegerätes herausfinden, wem der entlaufende Liebling gehört. | |
„Wir fanden die Idee gut“, fährt Markus M. fort, „und haben gesagt: Ja, | |
machen Sie das. Und als die Ärztin dem Schnuppi dann den Chip mit einer | |
großen Spritze einsetzen wollte, hat der Hund gezappelt, und weil Kevin ihn | |
festgehalten hat, ist die Ärztin abgerutscht und hat unseren Sohn gechipt.“ | |
Markus M. lacht. „Das ist jetzt nicht der Chip, den Kevin heute hat. Der | |
war ja für Hunde. Aber so kamen wir auf die Idee.“ Ein paar Monate später | |
wurde Kevin dann richtig gechipt. Vorausgegangen waren monatelange | |
Recherchen seines Vaters. Es gibt nur drei Firmen auf der ganzen Welt, die | |
ein derartiges Ortungssystem auf kommerzieller Basis anbieten. Markus M. | |
nahm Kontakt zu einer Firma in Ohio auf. | |
Wir schauen wieder auf den Bildschirm. Der rote Punkt, der Kevin | |
symbolisiert, ist stehen geblieben. „Ah ja“, sagt Markus M. „Das da oben … | |
der Ecke Hauptstraße ist eine Tankstelle. Meine Frau tankt wohl gerade.“ | |
Aussagen, die Datenschützer mit Entsetzen aufhorchen lassen, denn sie sehen | |
solche Überwachungsmöglichkeiten naturgemäß etwas kritischer als Markus M. | |
„Das ist so typisch Helikopter-Eltern“, sagt Linus C. vom Chaos Computer | |
Club. „Auf die Privatsphäre scheißen die. Und was ist, wenn der Staat oder | |
ein Geheimdienst die Daten in die Hände bekommen?“, fragt er. „Da bekommt | |
der Begriff Überwachungsstaat eine bislang ungeahnte Dimension.“ | |
## Als Kind hat man keine Privatsphäre | |
Eine Meinung, die der sicherheitspolitische Sprecher der SPD Burkhard W., | |
der nicht genannt werden möchte, so nicht teilen möchte: „Das hat ja schon | |
mein Parteifreund Reinhold Gall so schön und richtig gesagt: ,Ich verzichte | |
gerne auf vermeintliche Freiheitsrechte, wenn wir einen Kinderschänder | |
überführen.‘ Als Kind hat man ja noch gar keine Privatsphäre, also gibt es | |
da auch kein Anrecht drauf. Und schon gar kein Grundrecht.“ | |
Peter H. vom Innenministerium stößt ins gleiche Horn und geht sogar noch | |
ein Stück weiter: „Wir könnten diese Technik in ein paar Jahren wunderbar | |
in der Kriminalitätsbekämpfung nutzen. Ist die deutsche Bevölkerung erst | |
einmal flächendeckend gechipt, wird die Mordrate dramatisch sinken, da die | |
Aufklärungsquote bei hundert Prozent liegt“, meint Peter H. | |
Bis es allerdings so weit sei, wird Kevin schon volljährig sein und kann | |
noch einige Male zum Mörder werden. „Na, man kann nicht alles haben“, sagt | |
Markus M. und blickt auf den Bildschirm, wo ein kleiner roter Punkt sich | |
langsam einem grünen Viereck nähert – dem Haus von Markus M. „Gleich sind | |
sie hier“, sagt er und lächelt. | |
6 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Michael-André Werner | |
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