# taz.de -- Roma in Berlin: Sie leben im „Părăseală“ | |
> In einem Abbruchhaus in einem Berliner Stadtteil wohnen Bogdan, Puiu und | |
> ihre Verwandten. Sie nennen diesen Ort: Verlassenheit. Ein Besuch. | |
Bild: Gekocht wird auf einem kleinen Gasherd. Zwei der BewohnerInnen des Hauses. | |
BERLIN taz | Einhundert, zweihundert, dreihundert. Es sollen vierhundert | |
Euro mit Western Union von Berlin nach Rumänien geschickt werden. Der | |
Schwager von Bogdan zählt die kleinen Münzen noch einmal. Wieder sind es | |
nur 380. Nicht genug. „Ich komme, um eine Arbeit gut zu machen, und nichts | |
kommt zustande“, sagt der Schwager. Zu Hause, als er das Geld zählte, waren | |
es 400. Die Dame von Western Union fragt auf Deutsch nach dem Wohnsitz für | |
das Formular. Bogdan fragt auf Spanisch: „De aquí o de Rumania?“ „Von | |
hier“, antwortet die Dame auf Deutsch. | |
Bogdan kann gut Spanisch. Sieben Jahre hat er in Spanien gelebt – in | |
Málaga, Granada, Madrid, Palma de Mallorca. Feldarbeit hat er gemacht, | |
Kartoffeln, Knoblauch, Trauben, Oliven geerntet. Seit zwei Jahren pendelt | |
er zwischen Rumänien und Deutschland. Dieses Mal will er bleiben und | |
Deutsch lernen. | |
Auch der Schwager spricht kein Deutsch. Er trägt eine Mütze und eine zu | |
enge blaue Jacke, was ihn klein und dick aussehen lässt. Bogdan dagegen ist | |
schlank und gut gekleidet. Seine Sportschuhe sind neu. Beide Männer riechen | |
nach Schweiß. In Bogdans Tasche steckt die Obdachlosenzeitung Straßenfeger. | |
## Kein Strom, kein Wasser | |
Zusammen mit anderen Verwandten leben die zwei auf einem Gelände in Berlin, | |
das sie „Părăseală“ – Verlassenheit nennen. Es ist ein leerstehendes H… | |
Durch ein Loch in der Wand zwängen sie sich hinein, denn Haustür und | |
Fenster sind zugemauert. Der graffitibeschmierte Flur ist lang und dunkel. | |
Bogdan geht mit der Taschenlampe voran. In drei Zimmern leben 30 Personen. | |
Ohne Strom, ohne Wasser. Kerzen sind die einzige Beleuchtung. Eine Packung | |
kostet zwei Euro und reicht für zwei Tage. Mit einer Gasflaschenheizung | |
heizen sie. Es ist warm, doch der Zigarettenrauch und der Geruch nach | |
gekochtem Essen machen die Luft beißend und stickig. „Hier ist es nicht wie | |
in der Wohnung“, sagt Puiu, ein Freund von Bogdan, der auch da wohnt. „Wirf | |
die Kippe auf den Boden. Claudia fegt. Sonst hat sie nichts zu tun.“ | |
Claudia lächelt, lässt die Lider sinken. | |
Puiu hat das Haus gefunden. „Wenn die Polizei uns vertreibt, weiß ich ein | |
anderes“, sagt er. Einmal wurden sie geräumt, aber Puiu, Bogdan und ihre | |
Verwanden sind zurück. Sie sind jetzt vorsichtiger, gehen um 5 Uhr morgens | |
weg und kommen erst nach Sonnenuntergang wieder. | |
Bogdan gefällt das Haus nicht. „Es ist, als stiege ich in ein Grab“, sagt | |
er. Manchmal wacht er nachts auf, geht raus in die Kälte und bleibt wach, | |
bis er zum „Mercator“ – dem Supermarkt – geht und davor | |
Obdachlosenzeitungen verkauft. | |
In der Nähe des Abbruchhauses ist eine Musikschule. Manchmal ist spätabends | |
ein Schlagzeug zu hören. Das nervt Puiu, der seit drei Jahren mit Frau und | |
Kind in Berlin lebt. Bogdan versucht ihm zu erklären, dass diese Schule für | |
„die Opera“ sei. Bogdan glaubt, dass die Menschen in Deutschland Opera | |
lieben. Er höre sich auch Opera an, um einschlafen zu können. | |
An einem Sonnabend ist Puiu sehr aufgeregt. Seine Schwester, ganz neu in | |
Berlin, wurde festgenommen. Sie soll bei Kaiser’s gestohlen haben. Bogdan | |
hilft ihm bei der Suche. Sie halten einen Polizisten auf der Straße an. Die | |
Frau? Wo? – „Ich hab nichts gestohlen“, sagt sie, nachdem sie wieder | |
freigelassen wurde. | |
Am nächsten Tag ein neues Problem: Bogdan will mit einem seiner vielen | |
Schwäger zum Arzt. Er zieht sich schwarz lackierte Schuhe an, schwarze | |
Hosen und die Jacke, die er immer trägt. Er hat gehört, dass man ohne | |
Versicherung zum Arzt gehen kann. Er hat auch gehört, dass hier Zähne | |
kostenlos implantiert werden. Er will die Schneidezähne seiner mittleren | |
Schwester machen lassen. Sie hat nämlich keine mehr. Sie heißt Garoafa – | |
Nelke. | |
## Kein Paradies | |
Sein Schwager hat aber eine Versicherung. Dessen Frau, Violeta, hat die | |
ganze Familie beim „jomsent“ – Jobcenter? – mithilfe der | |
Romaberatungsstelle Amaro Foro e. V., wo sie putzen geht, anmelden können. | |
Sie haben vier Kinder: drei Töchter und einen Sohn. Die Töchter besuchen | |
die Schule. Der 17-jährige Sohn ist zu alt dafür. Er kann nicht lesen und | |
schreiben. Über diese Familie hat „Ali“, ein „Nemţoici“ – ein Deuts… | |
berichtet, als sie letztes Jahr mit anderen Roma ein Haus in | |
Berlin-Charlottenburg besetzten. | |
Dieser „Nemţoici“ kam jeden Tag mit Geld, mal 30, mal 50 Euro, und hat | |
Fotos von ihnen beim Abendessen veröffentlicht. Violeta hat eins | |
einschweißen lassen und auf ein Regal gestellt. Denn dieser Bericht habe | |
ihnen viel geholfen, sagt sie. Auch wollte jemand einen Film über sie und | |
ihre Verwandten in Rumänien drehen. Tarzan, Bogdans Bruder, hat aber zu | |
viel Geld verlangt; er dachte, man wird mit dem Film Millionen Euro | |
verdienen. | |
Bogdan hat drei Brüder und fünf Schwestern. Einer der Brüder wurde als Baby | |
einer kinderlosen Romafrau gegeben. Der andere ist mit 28 an | |
Lungenentzündung gestorben. Eine der Schwestern wohnt in Spanien, eine in | |
Bukarest und drei sind in Deutschland. Als Bogdan 14 Jahre alt war, starb | |
sein Vater. | |
Bogdan, heute 28 Jahre alt, mit tiefschwarzen Augen und buschigen | |
Augenbrauen, hat ein dreijähriges Kind. Es ist in Caracal in Rumäniens bei | |
der Mutter. Sehr jung hat er eine rumänische Frau geheiratet. „Ich habe sie | |
mehr als meine Eltern geliebt, mehr als meinen Sohn, ich habe sie über alle | |
Maßen geliebt“, sagt Bogdan. Aber Bogdans Mutter wollte die Frau nicht, | |
weil sie Rumänin ist, und die Mutter der Frau wollte Bogdan nicht, weil er | |
Rom ist. Es ging nicht gut. Einmal in der Woche, so hat es das Gericht | |
entschieden, dürfte er das Kind besuche – wenn er dort wäre. Trotzdem: Der | |
Sohn verleihe seinem Leben Sinn. Als sein Sohn krank war, hat er Gott | |
versprochen, jedes Jahr ein Lamm zu schlachten. Er will es auch in | |
Deutschland tun, weiß aber nicht genau wie. | |
Von allen Geschwistern ging nur Bogdan zur Schule. Zehn Klassen hat er | |
absolviert und wurde Schweißer. Aber in dem Beruf verdiente er nur 800 Lei | |
– 160 Euro. Lieber handelte er mit Kühen. Er ging von Dorf zu Dorf und | |
kaufte Kühe, um sie zu besseren Preisen in der Nähe von Bukarest zu | |
verkaufen. Das Geschäft läuft inzwischen nicht mehr gut. | |
Er habe immer Glück gehabt, glaubt Bogdan. Nur in der Liebe nicht. „So wie | |
ich jetzt dastehe, ist mir egal, welche Nationalität die Frau hat“, sagt | |
er. Obwohl er Romafrauen unmodern findet. „Diese langen Röcke, mit denen | |
sie die Straßen fegen, mag ich nicht.“ Auch nicht, wenn sie ihre Haare | |
bedecken. Er mag ihr Verhalten nicht. Er weiß nicht, wie er es weiter | |
erklären soll. Aber er gibt zu, dass die Romafrauen die Familienlast | |
tragen. Und die Schuld – die ihnen die Romamänner aufbürden. Das mag er | |
auch nicht an den Roma. | |
Derzeit hat er Bianca, eine Romafrau aus Rumänien, die er in Berlin | |
kennengelernt hat. Sie trägt Hosen und kurze Röcke. Das gefällt ihm. „Diese | |
Liebe ist kompliziert“, sagt Bogdan. Sie ist verheiratet. Sie ist 18 Jahre | |
alt und hat eine Tochter. Er muss vorsichtig sein. „Ich habe mit ihr nichts | |
gemacht. Wenn es nach ihr ginge, würden wir sofort was machen. Sie hat | |
keine Angst. Aber ich. Ich kann dadurch viel verlieren: Geld, Familie. Bei | |
uns Zigeunern muss sie erst zu ihren Eltern gehen, die sie von ihrer | |
jetzigen Ehe befreien können. Das gilt als Scheidung.“ Bis dahin | |
telefoniert er täglich mit ihr, sie trinken mal zusammen Kaffee, aber bis | |
sie frei ist, darf mehr nicht passieren, sagt Bogdan. Er sei nicht | |
verliebt. Aber er will wieder heiraten. | |
## Sparen für ein Busticket nach Rumänien | |
Vor ein paar Tagen hat er Geld nach Rumänien geschickt: 600 Euro. Er will | |
das Haus seiner Mutter erweitern. Ein Salon soll da noch hinein. Das Haus | |
sei keine Villa mit Blechdach; diese seien übrigens außer Mode, sagt er. Es | |
ist ein altes, bescheidenes Haus. | |
Jetzt muss er aber Geld für die Rückkehr Biancas nach Rumänien | |
beiseitelegen. Er geht zur Landsberger Allee, wo das Büro der | |
Obdachlosenzeitung ist, und kauft fünf Zeitungen. Weil die meisten Leute | |
nur Geld geben, ohne die Zeitung zu nehmen, reicht das. Dann geht er zur | |
Frankfurter Allee. Es ist kalt. | |
Vor dem Supermarkt steht er jetzt. Er erzählt von einer Frau, die ihm kurz | |
vor Silvester in einem Umschlag 320 Euro schenkte. Auch erzählt er von | |
einem alten Mann, der ihm jeden Tag 50 Cent gibt. „Jeden Tag.“ An guten | |
Tagen macht er 80 Euro, an schlechten 20. Und Bogdan erzählt noch von den | |
Roma, die im Ausland betteln und miserabel aussehen und in Rumänien dicke | |
Portemonnaies rumtragen. | |
Seine Schwester Garoafa nennt, was er tut, auch betteln. Bogdan schämt sich | |
ein wenig. „Das ist das erste Ausland, wo ich betteln muss“, sagt er. Nach | |
zweieinhalb Tagen hat er 150 Euro zusammen, das Geld für Biancas Busticket | |
nach Rumänien. | |
Bogdan hat jetzt nur noch zehn Cent in der Tasche. Es ist Sonntag und er | |
ist bei seiner Schwester Violeta eingeladen, die in einer Dreizimmerwohnung | |
im Berliner Wedding lebt. Mindestens 30 Menschen sind da. Auf dem Sofa, am | |
Fenster, und auf den Sesseln sitzen die Männer. Auf den beiden Seiten | |
reihen sich die Frauen bis zur Tür. Ab und zu tanzen sie. Von den Männern | |
tanzt nur Bogdan. Er trinkt Bier, er raucht und tanzt. Mit gesenktem Kopf | |
schaut er auf seine Schritte, auf seine schwarz lackierten Schuhe. Dann | |
hebt er den Kopf, streckt die Arme auseinander, dreht sich. Und lacht. | |
5 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Aura Cumita | |
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