| # taz.de -- Mädchen in Ägypten: Die Powergirls von Davudiya | |
| > Ein Dorfverein in Ägypten kämpft gegen Kinderehen und die | |
| > Genitalverstümmelung von Mädchen – auch mit einem Theaterstück. | |
| Bild: Eine Theateraufführung in Davudiya. | |
| DAVUDIYA taz | Wenn Armut idyllisch aussehen kann, dann im ägyptischen Dorf | |
| Davudiya, drei Autostunden von Kairo entfernt. Der 6.000-Seelen-Ort liegt | |
| am östlichen Ende des Niltales, an der Grenze zwischen dem Grün der Felder, | |
| gespeist von den Bewässerungskanälen auf der einen und einer | |
| Kalkstein-Bergkette auf der anderen Seite, die den Beginn der Wüste | |
| markiert. | |
| Rechts vom Bewässerungskanal geht es in eine staubige Gasse. Zwischen zwei | |
| Häuserwänden ist eine Schnur gespannt, daran hängen zwei farbenprächtige | |
| Tücher, davor steht eine Bank. Fertig ist die improvisierte Theaterbühne. | |
| Zwei Dutzend Frauen warten auf die Aufführung. Auch ein Hund hat es sich | |
| neben der Bühne bequem gemacht. Dahinter bereiten sich acht Mädchen auf | |
| ihren Auftritt vor. Manchen von ihnen wird noch schnell ein Schnurrbart | |
| angemalt. | |
| In dem Stück, das die Mädchen und jungen Frauen aus dem Dorf im Alter | |
| zwischen zwölf und zwanzig Jahren aufführen werden, geht es um die in | |
| Ägypten weit verbreitete Tradition der Verstümmelung der weiblichen | |
| Genitalien (FGM) und die Sitte, junge Mädchen zu verheiraten. In der ersten | |
| Szene geht es gleich heftig zur Sache. „Ab jetzt wird nicht mehr draußen | |
| gespielt“, sagt die Mutter. Sie kündigt an, die Tochter aus der Schule zu | |
| nehmen. Dann soll sie beschnitten und verheiratet werden. | |
| ## Bis zu 80 Prozent der Mädchen sind beschnitten | |
| Die Zuschauerinnen wissen, was hier gespielt wird. Bis zu 80 Prozent der | |
| ägyptischen Mädchen im Alter zwischen 15 und 18 Jahren mussten laut einer | |
| staatlichen Studie die grausame Prozedur der Genitalverstümmelung über sich | |
| ergehen lassen. Auf dem Land ist die Rate noch höher. Es ist eine | |
| jahrhundertealte afrikanische Tradition, die sowohl bei Musliminnen als | |
| auch bei Christinnen in Ägypten fortgesetzt wird. Das will der im Dorf | |
| gegründete Frauenverein "Töchter des Landes" verändern, und das | |
| Theaterstück ist neben täglichen Hausbesuchen das wichtigste Instrument | |
| dafür. | |
| In der nächsten Szene versucht eine Nachbarin die Mutter von ihrem Vorhaben | |
| abzubringen. Doch die will nichts davon wissen. „Du bist nur eifersüchtig, | |
| weil du deine eigenen nicht beschnittenen Töchter bisher nicht verheiraten | |
| konntest“, beendet die Mutter den Dialog. | |
| Kurz darauf humpelt die Daiya, die Hebamme, am Stock auf die Bühne, | |
| gespielt von Schaima, einem 13-jährigen Mädchen aus dem Dorf. Sie kommt mit | |
| der Mutter (gespielt von der 20-jährigen Sumaya) über die Beschneidung der | |
| Tochter (gespielt von Samah, der älteren Schwester Schaimas) ins Geschäft: | |
| umgerechnet 15 Euro für den Eingriff. Besiegelt wird der Deal mit einem | |
| Handschlag zwischen Mutter und Hebamme. | |
| Die Beschneidung wird in der nächsten Szene hinter einem Tuch gespielt. Die | |
| Tochter wird von Hebamme und Mutter hinter das Tuch gezerrt, dann sind nur | |
| noch Schreie des Mädchens zu hören. Dabei läuft es den Zuschauern kalt über | |
| den Rücken. Umso mehr, als alle drei Hauptdarstellerinnen selbst diese | |
| Erfahrung gemacht haben. | |
| Niedergeschlagen sitzt die Tochter in der nächsten Szene auf der Bank. "Ich | |
| will weiter zur Schule gehen und nicht heiraten", schreit sie ihre Mutter | |
| an, die auf sie einprügelt. Doch die Hochzeit findet statt. Der Bräutigam | |
| nimmt das Mädchen mit nach Hause. Am Ende stirbt er bei einem Arbeitsunfall | |
| in einem der Steinbrüche am Rande des Orts. Das Mädchen ist schwanger, ihr | |
| Mann tot. Die Schwiegermutter wirft sie als Unglücksbringerin aus dem Haus. | |
| Der Vater geht zu einer Anwältin, die ihm erklärt, dass die Ehe vom Staat | |
| nicht anerkannt wird, weil seine Tochter noch nicht das gesetzliche | |
| Mindestheiratsalter von 18 jahren erreicht hat. Damit ist das Baby im Bauch | |
| der Tochter unehelich. Im ländlichen Ägypten ist das kein Einzelfall. | |
| ## Manche lachen verlegen, eine weint | |
| Langer Applaus. Manche Frauen lachen verlegen, eine andere weint still vor | |
| sich hin. „Ich werde meine Töchter nicht mehr beschneiden lassen, obwohl | |
| das weit verbreitet ist“, erklärt dagegen die Zuschauerin Afaf Adel Naim | |
| entschlossen. „Genau so, wie die Menschen im Dorf das Alter der Töchter oft | |
| hochsetzen, um sie zu verheiraten. Egal, wie viel man darüber redet, das | |
| alte Denken lässt sich nur langsam verändern“, fügt sie hinzu. Ehe die | |
| Zuschauer ihres Weges ziehen, bekommen sie zum Abschied noch eine Packung | |
| Waschmittel, als Dank fürs Kommen und als Anreiz. damit das nächste Mal | |
| auch die Nachbarn dabei sind. | |
| Sumaya Amer ist eine der Hauptdarstellerinnen, mit all den Problemen, die | |
| die junge Frauen im Dorf haben. Sie hat es immerhin bis in die 9. Klasse | |
| der Schule geschafft, mit sehr guten Noten, wie sie betont. Doch dann hat | |
| ihr drogenabhängiger Vater sie aus der Schule genommen, weil er das Geld | |
| statt in ihre Ausbildung in seine Drogen steckte. Der Missbrauch von Drogen | |
| und starken Schmerzmitteln ist unter den Männern, die in den Steinbrüchen | |
| schuften, oft die einzige Möglichkeit, diese Arbeit auszuhalten. Oft | |
| bekommen sie die ersten Drogen direkt von den Besitzern der Steinbrüche | |
| kostenlos ausgehändigt, die diese später vom Lohn abziehen. | |
| „Dass ein Mädchen hier nicht beschnitten wird, ist fast ein Ding der | |
| Unmöglichkeit. Auch ich bin beschnitten“, erklärt Sumaya freimütig. „Aber | |
| durch unsere Gruppe habe ich erfahren, wie schädlich das ist. Es hat | |
| gesundheitliche Nebenwirkungen, macht schwermütig und zerstört das | |
| Eheleben.“ Mehrmals hat sie ihre Mutter mit in ihren Dorfverein gebracht. | |
| „Für mich war es zu spät, aber immerhin habe ich es geschafft, dass meiner | |
| 15-jährigen Schwester dieses Schicksal erspart geblieben ist.“ | |
| „Wir spüren viel Gegenwind im Dorf. Von den Islamisten, von prominenten | |
| Einwohnern des Dorfes, vom Schuldirektor, vom Dorfvorsteher und von allen | |
| möglichen Predigern. Man wirft uns vor, die Mädchen aufzuhetzen“, sagt die | |
| Gründerin des Vereins und der Theatergruppe, Zenat Ali, die ebenfalls aus | |
| dem Dorf stammt. | |
| Manchmal ist sogar die hartgesottene Zenat überrascht, was ihr da so alles | |
| als Opposition im Dorf entgegenschlägt. „Ein Imam hat in der Moschee das | |
| Gerücht verbreitet, dass ich den Mädchen Pornofilme gezeigt haben soll“, | |
| sagt sie. „Die Nichte des Imams ist auch bei uns im Verein. Sie hat ihn | |
| dann gefragt, ob Lügen durch die Religion nicht untersagt sei.“ Der Verein | |
| habe über 50 Mädchen und Frauen als Mitglieder. Auch drei Männer gehören | |
| dazu, wie Muhammad, einer der wenigen im Dorf mit einer | |
| Universitätsausbildung. Er hat das Theaterstück geschrieben. | |
| In Kairo beschreibt die Ärztin und Frauengesundheitsexpertin Mawahib | |
| El-Muelhy das Ausmaß der Mädchenbeschneidung in Ägypten. "Laut Demographic | |
| and Health Surveys 1995 waren 97 Prozent der Frauen beschnitten, 2008 waren | |
| es 91 Prozent“, erläutert sie. Diese Zahl verändere sich nur sehr langsam, | |
| weil sie die Altersgruppe zwischen 15 und 49 beinhaltet. „Einmal | |
| beschnitten taucht eine Frau über 30 Jahre in der Statistik auf“, sagt sie. | |
| Der Fortschritt lasse sich eher an der Altersgruppe zwischen 15 und 18 | |
| Jahren erkennen. Dort lag die Rate 2008 bei 80 Prozent. | |
| ## Laut Gesetz ist Genitalverstümmelung seit 2008 verboten | |
| Die hohen Raten stehen im krassen Gegensatz zur Gesetzeslage. Denn seit | |
| sieben Jahren ist FGM in Ägypten gesetzlich verboten. Aussagekräftig ist | |
| aber auch, dass es genauso lange bis zur ersten rechtskräftigen | |
| Verurteilung dauerte. Im Januar dieses Jahres wurde nach dem Tod der | |
| 13-jährigen Soheir El-Batea der operierende Arzt Raslan Fadl wegen | |
| fahrlässiger Tötung und für die Durchführung einer illegalen Operation zu | |
| zwei Jahren Haft verurteilt. El-Muelhy feiert das Urteil als einen | |
| Meilenstein. „Wenn noch ein, zwei solcher Urteile gefällt werden, wird sich | |
| Angst unter Ärzten und Hebammen breitmachen, diese Operation weiter | |
| anzubieten“, lautet ihre Kalkulation. | |
| Doch bei einer so langen Tradition bleiben Gesetzesbücher oft nicht viel | |
| mehr als geduldiges Papier. In Davudiya wird dies deutlich. Der | |
| Frauendorfverein hat eine einfache Rechnung aufgestellt. „Wenn wir | |
| anfangen, Menschen im Dorf anzuzeigen, würde das unsere gesamte Arbeit | |
| torpedieren“, glaubt Zenat. „Wer zeigt schon seine Nachbarn an? Wir wollen | |
| doch die Menschen überzeugen und müssen mit ihnen zusammenarbeiten“, meint | |
| auch Hanan Ramadan, ein anderes Mitglied des Vereins. „Wir können nicht das | |
| Dorf zu unserem Feind machen“, sagt sie. | |
| Dabei geht es um weit mehr als FGM. Denn der Verein spielt nicht nur | |
| Theater. Das Recht auf Bildung ist vielleicht sein wichtigstes Anliegen. So | |
| haben die Mädchen und Frauen überlegt, warum so viele Mädchen im Dorf früh | |
| verheiratet und aus der Schule genommen werden. Zenat schätzt, dass das auf | |
| 40 Prozent der Mädchen zutrifft. Schnell erkannten sie das Problem. Im Dorf | |
| existierte nur eine Grundschule. Für die Mittelschule mussten die Mädchen | |
| ins Nachbardorf fahren. Zwischen beiden Dörfern herrscht jedoch ein | |
| Blutrachekonflikt, sodass viele Eltern ihre Töchter aus der Schule im | |
| Nachbarort geholt hatten. | |
| Der Verein brachte die Dorfoberen und einen Bezirksschulvertreter zusammen | |
| und unterbreitete ihnen den Vorschlag, die Grundschule im Dorf nachmittags | |
| als Mittelschule zu nutzen. Dem wurde zugestimmt. Mit diesem Schuljahr gibt | |
| es im Dorf also auch eine Mittelschule. | |
| Das war bisher einer der größten Erfolge der Powergirls von Dawudiya. Davon | |
| angetrieben wendeten sie sich dem nächsten Problem zu. Die wenigen Mädchen, | |
| die es bis in die Oberschule geschafft haben, mussten jeden Tag in die | |
| nächste größere Stadt Minja fahren. Unterwegs wurden sie immer belästigt. | |
| Einer der Gründe, warum manche konservative Eltern im Ort ihre Töchter | |
| nicht mehr dorthin schicken wollten. Der Verein mietete kurzerhand einen | |
| Kleinbus für die Mädchen an, den die Eltern der Mädchen gemeinsam zahlen. | |
| Zenat und Sumaya gehen an diesem Nachmittag von Haus zu Haus und reden mit | |
| Müttern und Großmüttern. Nächste Woche wird es in der Schule ein paar Tage | |
| Ferien geben. Im Dorf herrscht dann FGM-Hochsaison. | |
| Seit acht Jahren arbeiten Zenat und die Mädchen daran, die Sitten in ihrem | |
| Dorf zu verändern. Wie viele Mütter haben sie überzeugt, ihre Töchter nicht | |
| mehr verstümmeln zu lassen? „Vielleicht fünf Prozent“, sagt Zenat und fü… | |
| hinzu: „Aber wir geben nicht auf.“ | |
| 9 Apr 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Karim El-Gawhary | |
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