# taz.de -- Hamburgs Koalitionsvertrag-Märchen: Des Kerstans neue Kleider | |
> Jens Kerstan heißt der neue mächtige Mann der Hamburger Grünen, der unter | |
> Olaf Scholz nun Senator werden wird. Der Visionär Hans Christian Andersen | |
> hat ihm vor fast 180 Jahren ein Märchen auf den Leib geschneidert. | |
Bild: Im neuen Gewande? Grünen-Vorsitzender Jens Kerstan. | |
HAMBURG taz | Es lebte ein Kerstan, der so ungeheuer viel auf grüne Politik | |
hielt, dass er all seine Kraft dafür aufwand, um recht erfolgreich zu sein. | |
In der großen Stadt, in der er wohnte, ging es sehr munter her. An jedem | |
Tag kamen viele wichtige Politiker im Rathaus an, und eines Tages kamen | |
auch einige Betrüger, die gaben sich für Sozialdemokraten aus, und sagten, | |
dass sie den schönsten Koalitionsvertrag, den man sich denken könne, mit | |
ihm zu verhandeln gedachten. | |
Die Farbe sei Rot mit viel Grün und das Muster sei nicht allein | |
ungewöhnlich schön, sondern die Koalitions-Kleider, die aus dem | |
Vertragswerk alsbald genäht würden, sollten die Gabe besitzen, den Kerstan | |
zu einem bedeutenden Senator der Stadt zu machen und ihn vortrefflich zu | |
kleiden. Zudem hätten sie die wunderbare Eigenschaft, dass sie selber, vor | |
allem ihre grünen Farbtupfer, für jeden Menschen unsichtbar seien, der | |
nicht für sein Amt tauge oder der unverzeihlich dumm sei. | |
„Das wären ja prächtige Kleider“, dachte der Kerstan, „wenn ich solche | |
hätte, wäre ich ein mächtiger Herr und könnte ja dahinterkommen, welche | |
Männer und Frauen in meiner Partei zu dem Amte, das sie haben, nicht | |
taugen, ich könnte die Klugen von den Dummen unterscheiden! Ja, das Zeug | |
muss sogleich für mich gewebt werden!“ Er machte den Sozialdemokraten viele | |
Zugeständnisse – ein Handgeld, damit sie ihre Arbeit beginnen sollten. | |
Sie stellten auch viele Verhandlungsstühle auf, luden Kerstans Vertraute | |
ein, taten, als ob sie mit ihnen gemeinsam arbeiteten, aber sie hatten | |
nicht das geringste für sie auf dem Verhandlungstische. Trotzdem verlangten | |
die Sozialdemokraten immer mehr grüne Inhalte, die steckten sie aber in | |
ihre eigene Tasche und arbeiteten dann weiter im Rathaus bis spät in die | |
Nacht hinein. | |
„Nun möchte ich doch wissen, wie weit wir mit dem Koalitions-Zeug sind!“, | |
dachte der Kerstan, aber es war ihm beklommen zumute, wenn er daran dachte, | |
dass keiner, der dumm sei oder schlecht zu seinem Amte tauge, seine großen | |
Verhandlungserfolge sehen könne. Er glaubte, dass er das für sich selbst | |
nicht zu fürchten brauche. | |
Nun wollte der Kerstan das neue Koalitions-Gewand selbst sehen, während | |
noch fleißig an ihm gearbeitet wurde. Mit einer ganzen Schar auserwählter | |
Parteifreunde traf er sich erneut mit den listigen Sozialdemokraten, die | |
sich nun mit allen Kräften an dem Kostüm zu schaffen machten, aber ohne | |
grünen Inhalt oder roten Faden. | |
„Was!“, dachte der Kerstan, „ich sehe gar nichts Grünes! Das ist ja | |
erschrecklich! Bin ich dumm? Tauge ich nicht dazu, Senator zu sein? Das | |
wäre das Schrecklichste, was mir begegnen könnte.“ | |
„Oh, es ist sehr hübsch“, sagte er, „es hat meinen allerhöchsten Beifal… | |
und er nickte zufrieden und betrachtete den leeren Verhandlungstisch; er | |
wollte nicht sagen, dass er nichts, und schon gar nichts Grünes, sehen | |
könne. Das ganze Gefolge, was er mit sich hatte, sah und sah, aber es bekam | |
nicht mehr heraus, aber sie sagten gleich wie der Kerstan: „Oh, das ist | |
hübsch!“ und sie rieten ihm, diese neuen prächtigen Koalitions-Kleider das | |
erste Mal bei der großen Versammlung aller Grünen, die bevorstand, | |
anzulegen. | |
Die ganze Nacht vor dem Morgen, an dem die Versammlung stattfinden sollte, | |
waren Kerstans Gefährten und die Sozialdemokraten auf und hatten sechzehn | |
Lichte angezündet, damit man sie auch recht gut bei ihrer Arbeit beobachten | |
konnte. Die Leute konnten sehen, dass sie stark beschäftigt waren, des | |
Kerstans neue Kleider fertig zu machen. Sie taten, als ob sie das Zeug aus | |
der Realität nähmen, sie erzeugten heiße Luft mit großen Worten und sagten | |
zuletzt: „Sieh, nun ist der Vertrag, nun ist das Koalitions-Gewand fertig!“ | |
Der Kerstan mit seinen vornehmsten Parteifreunden kam selbst, und die | |
Sozialdemokraten hoben den einen Arm in die Höhe, gerade, als ob sie etwas | |
hielten, und sagten: „Seht, hier sind die Inhalte, hier ist das Grün, hier | |
ist der Fortschritt!“ und so weiter. „Es ist so leicht als sei es ohne | |
Inhalte; man sollte glauben, man habe nichts an Substanz, aber das ist | |
gerade die Schönheit dabei!“ „Ja!“ sagten alle Parteifreunde, aber sie | |
konnten nichts sehen, denn es war nichts da. | |
„Belieben Eure Kerstanliche Majestät Ihre Oppositions-Kleider abzulegen“, | |
sagten die Sozialdemokraten, „so wollen wir Ihnen die neuen hier vor dem | |
großen Rathaus-Spiegel anziehen!“ Der Kerstan legte seine Kleider ab, und | |
die Sozialdemokraten stellten sich, als ob sie ihm ein jedes Stück der | |
neuen Kleider anzogen, die fertig genäht sein sollten, und der Kerstan | |
wendete und drehte sich vor dem Spiegel. „Ei, wie gut sie kleiden, wie | |
herrlich sie sitzen!“, sagten alle. „Welche Inhalte, welch grüne Farbe! Das | |
ist ein kostbarer Anzug!“ „Seht, ich bin ja fertig!“ sagte der Kerstan. | |
„Sitzt es nicht gut?“ und dann wendete er sich nochmals zu dem Spiegel; | |
denn es sollte scheinen, als ob er seine Koalitions-Kleider recht | |
betrachte. | |
Die grünen Bediensteten, die das Recht hatten, das Vertragswerk zu tragen, | |
griffen mit den Händen nach den versprochenen grünen Inhalten, sie gingen | |
und taten, als hielten sie etwas in der Luft; sie wagten es nicht, es sich | |
merken zu lassen, dass sie nichts bei sich hatten. | |
So zog der Kerstan auf der Versammlung ein und alle Menschen im Saale | |
sprachen: „Wie sind des Kerstans neue Kleider unvergleichlich!“ Keiner | |
wollte es sich merken lassen, dass er nichts sah; denn dann hätte er ja | |
nicht zu seinem Amte im Kreisvorstand oder der Fachgruppe getaugt oder wäre | |
sehr dumm gewesen. | |
„Aber er hat ja gar nichts an!“, sagte endlich ein einfaches | |
Parteimitglied. „Hört die Stimme der Basis!“, sagte sein Freund; und der | |
eine zischelte dem andern zu, was das einfache Mitglied gesagt hatte. „Aber | |
er hat ja gar nichts an!“, rief zuletzt das ganze grüne Volk. | |
Das ergriff den Kerstan, denn seine grüne Basis schien ihm Recht zu haben, | |
aber er dachte bei sich: „Nun muss ich aushalten.“ Und seine wichtigen | |
Gefährten traten den Rufen zum Trotz an das Pult und trugen die grünen | |
Verhandlungserfolge vor, die gar nicht da waren. | |
9 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Hans Christian Andersen | |
Marco Carini | |
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Katharina Fegebank | |
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