# taz.de -- Nach Einführung des Mindestlohns: Mindestens passabel | |
> Der Mindestlohn wird 100 Tage alt. Viele Beschäftigte verdienen besser, | |
> wenige verlieren ihre Jobs. Und einige Unternehmen versuchen zu tricksen. | |
Bild: In der Gastronomie verändert der Mindestlohn etwas. Bundesarbeitsministe… | |
BERLIN taz | Der neue Mindestlohn in Deutschland ist erfolgreich – darüber | |
sind sich viele KennerInnen des Arbeitsmarktes einig. „Ja, der Mindestlohn | |
setzt sich durch“, sagt beispielsweise Reinhard Bispinck von der | |
gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Schleswig-Holsteins | |
Arbeitsminister Reinhard Meyer (SPD) sieht es ähnlich. | |
8,50 Euro pro Stunde – so viel sollen nun alle ArbeitnehmerInnen erhalten, | |
von Ausnahmen abgesehen. Am 1. Januar trat das Gesetz in Kraft. Die ersten | |
100 Tage sind vorbei. Doch eine Bilanz ist schwierig zu ziehen. Die | |
Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls kontrolliert die Firmen zwar, hat | |
aber noch keine Statistik aufgestellt. Die Erfolgsmeldungen können daher | |
nur auf Indizien beruhen. | |
Rund 3,7 Millionen Beschäftigte, die bisher weniger als 8,50 Euro bekamen, | |
profitieren laut Bundesarbeitsministerium von der neuen Lohnuntergrenze. | |
Ihre Löhne sollen steigen. Tun sie das nicht, stehen den Betroffenen | |
Telefonhotlines beim Ministerium und dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) | |
zur Verfügung. Doch die Beschwerden dort halten sich in Grenzen. Gut 9.000 | |
Leute hätten seit Januar angerufen, sagt eine Sprecherin des DGB – die | |
meisten um sich zu informieren. Der Anteil der Beschwerden im Verhältnis zu | |
den 3,7 Millionen liegt bei weniger als 0,1 Prozent. In einer | |
repräsentativen Umfrage im Auftrag des DGB sagten 3 Prozent der Befragten, | |
ihnen werde der Mindestlohn vorenthalten. | |
Trotzdem müsse sich vieles „zurechtruckeln“, so Bispinck. Manche Betriebe | |
verhandeln mit ihren Beschäftigten noch über die neuen Arbeitsverträge. Und | |
die Kontrolleure des Zolls drücken ein Auge zu. Jetzt ermahnt man sie nur, | |
erst bei der nächsten Prüfung wird es ernst. Viele Fälle, in denen der | |
Mindestlohn umgangen wird, entdeckt der Zoll auf Baustellen, im Taxigewerbe | |
und in der Fleischindustrie. | |
Unternehmen suchen und finden Schlupflöcher. So bekommen ArbeitnehmerInnen | |
etwa neue Verträge mit gleicher Bezahlung wie vorher, aber niedrigerer | |
Arbeitszeit. Nur auf dem Papier steigt die Bezahlung auf 8,50 Euro. Dies | |
ist der Hintergrund des Streits über die sogenannte Dokumentationspflicht. | |
Um Täuschungen zu erschweren, müssen die Unternehmen den Beginn und das | |
Ende der Arbeitszeit, die Stundenzahl und die Entlohnung der Beschäftigten | |
erfassen. Während Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) und der DGB daran | |
festhalten wollen, kritisieren CSU und Wirtschaftsverbände die vermeintlich | |
überflüssige Bürokratie. | |
## 150.000 Minijobs weniger | |
Auch zu einem anderen beliebten Streitpunkt fehlen Daten: Führt der | |
Mindestlohn dazu, dass hunderttausende Arbeitsplätze verlorengehen? Auf bis | |
zu 900.000 hat der Münchner Ökonom Hans-Werner Sinn die möglichen | |
Jobverluste beziffert. Begründung: Wenn die Arbeitnehmer zu teuer werden, | |
schmeißen die Unternehmen sie raus. | |
Die Minijobzentrale in Essen, bei der geringfügig Beschäftigte unter | |
anderem in Privathaushalten angemeldet sind, registrierte im Januar dieses | |
Jahres rund 150.000 Minijobs weniger als saisonal üblich. „Ein Zusammenhang | |
zum Mindestlohn ist zu vermuten“, aber nicht nachweisbar, heißt es. Unklar | |
sei, ob die Minijobs einfach wegfallen, die Tätigkeiten in die | |
Schwarzarbeit abwandern oder die ArbeitnehmerInnen bessere, komplett | |
sozialversicherungspflichtige Stellen bekommen. | |
Belege für Jobverluste gibt es auch in anderen Branchen – allerdings nur in | |
Form von Einzelbeispielen, systematische Untersuchungen fehlen. So werden | |
Taxifahrer entlassen, die nicht die 8,50 Euro erwirtschaften. Manche | |
Betreiber von Hotels und Gaststätten reduzieren ihr Angebot, um auf die | |
teureren Niedriglöhner verzichten zu können. Ingesamt seien die | |
Auswirkungen des Mindestlohns für die Zahl der Arbeitsplätze aber nicht | |
dingfest zu machen, sagt Karl Brenke vom Deutschen Institut für | |
Wirtschaftsforschung (DIW). Es würden sich zu viele Entwicklungen | |
überlagern, um eine davon isolieren zu können. | |
Angesichts der allgemeinen Lage am Arbeitsmarkt muss man sich jedoch keine | |
Sorgen machen: Die Arbeitslosigkeit geht zurück. „6,4 Prozent liegen nahe | |
an der Vollbeschäftigung“, heißt es beim DIW. Und die Zahl der Stellen wird | |
wohl weiter zunehmen. Das bedeutet: Sollte der Mindestlohn Jobs kosten, | |
gleicht die positive Wirtschaftsentwicklung diesen Verlust mehr als aus. | |
Die Arbeit zu verlieren ist hart. Aber eine neue zu finden, war lange nicht | |
so einfach wie heute. | |
9 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Hannes Koch | |
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