# taz.de -- Debatte um Social Freezing: Die Moderne schlägt zu | |
> Immer mehr Firmen bieten Mitarbeiterinnen an, ihre Eizellen für später | |
> einzufrieren. So vermischen sie Privates mit Beruflichem. | |
Bild: Soziale Kontrolle aus dem Nebel: Aufbewahrung unbefruchteter Eizellen. | |
Mit dem Angebot, ihren Mitarbeiterinnen das frühzeitige Einfrieren von | |
Eizellen zu bezahlen, damit sie in späterem Alter schwanger werden können, | |
sind Apple und Facebook in Deutschland überwiegend auf Ablehnung gestoßen. | |
Getreu dem Motto „Bad news are good news“ ist ihnen damit ein geschickter | |
Werbecoup gelungen. Sie präsentieren sich als einfallsreiche Unternehmen, | |
die weder Kosten noch Mühe scheuen, um ihre Mitarbeiterinnen zu fördern. | |
Sie geben sich einmal mehr unkonventionell, technikaffin und | |
innovationsfreudig. | |
Und wer will es einer Frau verwehren, den Zeitraum, in dem sie Kinder | |
bekommen kann, zu verlängern? Die neue Technologie kann Freiheitsspielräume | |
eröffnen und die Abhängigkeit von der biologischen Uhr mindern. Ein | |
wünschenswerter Schritt zu mehr Chancengleichheit der Geschlechter? | |
Frauen planen ihre Schwangerschaften ohnehin bereits unter beruflichen | |
Aspekten. Die Verhütungsmittel, von Konservativen zunächst genauso empört | |
abgelehnt wie jetzt das Social Freezing, werden heute selbstverständlich | |
angewandt, um den Zeitpunkt der Mutterschaft zu wählen. So gesehen liegt | |
Social Freezing auf einer längst bekannten Linie. Und warum sollte man es | |
einer Frau verbieten, eine weitere technische Option zu nutzen? Zumal in | |
einem liberalen Staat, der den Lebensstil von Frauen nicht zu bewerten hat, | |
auch nicht in Bezug auf ihre Fortpflanzung. | |
Dass sich die beiden christlichen Kirchen flugs gegen das Social Freezing | |
ausgesprochen haben, scheint säkulare Befürworter einer technisch | |
unterstützten Selbstgestaltung zu bestätigen: Hier dürfte es um Fortschritt | |
gehen, um Freiheit! – So weit, so gut. | |
## Geringe Erfolgsquoten | |
Doch die Sache ist komplizierter. Da wären zunächst einmal die | |
Erfolgsquoten. Die Technologie ist nicht nur teuer, sie ist auch weitgehend | |
erfolglos, insbesondere im fortgeschrittenen Alter, und dafür ist das | |
Social Freezing ja vorgesehen. Die Erfolgsquoten der In-vitro-Fertilisation | |
sind ernüchternd: Nur 15 Prozent der Frauen bekommen ein Kind pro | |
Behandlungszyklus. Dieser Anteil gilt für jüngere Frauen, ab 30 Jahren | |
verschlechtert sich die Erfolgsquote, ab 40 sinkt sie auf kaum mehr als 5 | |
Prozent. Viel höher wird die Quote auch nicht durch mehrere Therapiezyklen. | |
Also lassen sich die Frauen auf eine Technologie ein, bei der ab 40 etwa 90 | |
Prozent nicht mit dem gewünschten Kind rechnen dürfen. | |
Gleichwohl, wenn eine Frau um diese Erfolgs- oder besser Misserfolgsquote | |
weiß und trotzdem bereit ist, viel Geld auszugeben, und wenn für das | |
Kindeswohl gesorgt ist – wo sind die tragfähigen Argumente, es ihr zu | |
verbieten, solange sie vorher korrekt aufgeklärt wurde? Doch an Aufklärung | |
mangelt es gegenwärtig in den reproduktionsmedizinischen Zentren, die ihre | |
Erfolge geschickt schönen. | |
Social Freezing wird getragen von den Motiven der Moderne. Die Natur | |
beherrschen, ja überwinden, den Zufall eliminieren, Freiheitsspielräume | |
erweitern, Lebensstile individualisieren, sich selbst verwirklichen – all | |
das sind höchst bekannte Motive der säkularen Moderne, die paradoxerweise | |
quasireligiösen Charakter angenommen haben. Auch die Unterscheidung | |
zwischen natürlich und künstlich verliert ihre Relevanz. Es spielt keine | |
Rolle, auf welche Weise das Kind gezeugt wurde. Das letzte Credo lautet: | |
Jede Frau entscheide nach eigenen Vorstellungen für sich selbst, solange | |
das Kindeswohl gewahrt bleibt. | |
## Typische Ambivalenz des Wandels | |
Doch all dies ist nicht ohne einen Preis zu haben. Und nicht alles, was | |
sich nicht verbieten lässt, muss deshalb auch zu einem guten Leben | |
beitragen. Die Moderne kommt bekanntermaßen mit einem dauerhaften Wandel | |
der Lebenswelt und mit zahlreichen ungefragten Herausforderungen daher. Sie | |
zeigt im Social Freezing einmal mehr ihre typische Ambivalenz. Denn das | |
Verfügen über Lebensbereiche durch Technologie geht mit einem | |
Über-sich-verfügen-Lassen einher. Aus der Option für Frauen, die Phase | |
ihrer Reproduktionsfähigkeit zu verlängern, ergibt sich der zumindest | |
subtile Druck, genau dies auch zu tun. Es ist doch illusorisch zu glauben, | |
von dieser Möglichkeit ginge keine Normativität des Faktischen aus. | |
Erleiden Frauen, die auf die neue Technologie verzichten, nicht automatisch | |
Nachteile gegenüber ihren Konkurrentinnen? Die Technologie ist verfügbar, | |
und von nun an stellt sich die Frage, ob Frau sie nutzen will. | |
Die Gleichzeitigkeit von Verfügen und Über-sich-verfügen-Lassen ist nicht | |
neu. Viele Technologien eröffnen Möglichkeiten, aber zugleich führen sie | |
uns in Abhängigkeiten. Auch wenn der Nutzen im Ganzen gesehen größer ist | |
als die Nachteile (warum sonst hätten sich die Technologien so schnell | |
verbreitet?), so kann das Verhältnis von Verfügen und | |
Über-sich-verfügen-Lassen in bestimmten Situationen durchaus ein schlechtes | |
sein. Diese Frage stellt sich bei jeder Technologie aufs Neue – erst recht | |
beim Social Freezing angesichts dürftiger Erfolgsquoten und der weiteren | |
Folgen. | |
Denn das Angebot eines Arbeitgebers, den Mitarbeiterinnen Social Freezing | |
zu finanzieren, überschreitet eine Grenze; es ist übergriffig. Es vermischt | |
auf tückisch normative Weise zwei Bereiche, die gegenwärtig eigentlich | |
getrennt werden: Familien- und Berufsleben. Unter modernen Bedingungen ist | |
die Familie ein abgeschotteter Bereich des Privaten, der für die | |
Fortpflanzung, die Weitergabe von angemessenem Verhalten – sprich: | |
Erziehung – und gegenseitige Stützung zuständig ist. Entscheidungen in | |
diesem Bereich unterliegen, solange sie moralisch akzeptabel sind, | |
letztlich der Frage, inwiefern sie authentisch sind. Das Erwerbsleben | |
findet hingegen zumeist außerhalb der Familie und unter anderen Vorgaben | |
statt. | |
Das Angebot von Facebook und Apple verknüpft nun beide Bereiche auf subtile | |
Weise. Deswegen ist es perfide. Es appelliert an zwei unterschiedliche | |
Sphären und verbindet sie mit einer versteckten Vorgabe. Es betrifft das | |
Private und das Erwerbsleben gleichermaßen mit ihren unterschiedlichen | |
Entscheidungskriterien. Einerseits gilt im Privaten die individuelle | |
biografische Selbstgestaltung der Frau oder des Paares. Andererseits | |
berührt das Angebot die Rationalität des Berufslebens. Und dort sind | |
private Beliebigkeiten nicht gerade karrierefördernd. Hier führt eine | |
Durchrationalisierung der Erwerbsbiografien eher zum Erfolg. Erst recht, | |
wenn die Anforderungen im Berufsleben steigen. | |
## Latenter Zwang | |
Gleichzeitig bleibt offen, ob die Offerte der Unternehmen primär auf | |
Chancengleichheit und erweiterte, individuellere Gestaltungsmöglichkeiten | |
der Familienbiografie oder auf die Rationalisierung der Erwerbsbiografie | |
abzielt. Beides ist möglich, beides ist angesprochen, und beides lässt sich | |
in der Praxis ohnehin nicht trennen. Die Offerte lässt ihr primäres Ziel | |
offen, und das ist das Perfide. Selbstverständlich ist es nur ein Angebot, | |
keine Frau muss, aber jede kann ihre eigene, individuelle | |
Fortpflanzungsentscheidung treffen. Erwartet das Unternehmen, dass das | |
Angebot genutzt wird? Dazu muss es sich noch nicht einmal äußern. Denn die | |
Erwartung, es zu nutzen, kommt von selbst, allein durch die Anforderungen | |
des Erwerbslebens. | |
Am Ende stehen der latente Zwang und die ihm folgende schleichende | |
Selbstverständlichkeit, ganz frei und authentisch die Erwerbsbiografie nun | |
auch noch mittels Social Freezing zu optimieren. Die private, persönliche | |
Fortpflanzungsstrategie gelingt am besten, wenn sie zufälligerweise auch | |
mit den beruflichen Anforderungen übereinstimmt. | |
Insofern stehen beim Social Freezing ganz unterschiedliche Interpretationen | |
nebeneinander: Ermöglicht es erweiterte, authentische Entscheidungen einer | |
Frau, den Zeitpunkt ihrer Mutterschaft selbst zu bestimmen? Oder nötigt es | |
zur weiteren Unterwerfung der Lebensplanung unter das Diktat des | |
Erwerbslebens? Auf beide Fragen kann man mit Ja antworten, und vor allem: | |
Die Antworten schließen sich nicht einmal gegenseitig aus. Die perfekte | |
Ambivalenz. | |
Eines ist jedoch klar: Die Entwicklung lässt sich nicht rückgängig machen. | |
Social Freezing ist da, und ab jetzt sind Frauen mehr oder weniger explizit | |
mit der Option konfrontiert. Es ist nicht das erste Angebot zur | |
authentischen Selbstgestaltung der eigenen Biografie unter harten | |
ökonomischen Vorgaben – und sicher nicht das letzte. Und ausweichen geht | |
nicht: Wer nicht wählt, hat auch gewählt. Angesichts der ständigen | |
Herausforderungen der Moderne verbleibt einmal mehr nur die mühsam zu | |
erlernende Tugend der Gelassenheit. Denn es ist trotz allem und | |
tröstlicherweise nicht auszuschließen, dass eine Frau auch ohne Social | |
Freezing ein gelingendes Leben führen kann. | |
10 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Urban Wiesing | |
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