# taz.de -- Dramatikfestival in Berlin: Dschihad und Gesellschaft | |
> Wie man wird, was man ist: Milo Raus „The Civil Wars“ eröffnet das | |
> F.I.N.D.-Festival. Das Stück beschäftigt sich mit biografischen | |
> Formungen. | |
Bild: „The Civil Wars“, auf dem Sofa verhandelt. | |
Die Jugend ist die schönste Zeit des Lebens, heißt ein Song von Schorsch | |
Kamerun. Auch andere aus der Hamburger Postpunkszene wie Tocotronic | |
thematisieren in ihren Liedern immer wieder die Ambivalenz idealisierter | |
Vorstellungen von Kindheit und Jugend. Hoffnung, Romantik und | |
Liebesbedürftigkeit kollidieren mit Erwachsenen- und | |
Gesellschaftsrationalität. Dies formt die Subjektivität Heranwachsender, | |
ohne dass aus den Biografien (und Klassenlagen) der Werdegang Einzelner | |
linear erklärt werden könnte. Wie zum Beispiel wird aus einem jungen | |
Berliner Rapper ein Dschihadist in Syrien? | |
Die nicht immer glücklichen Beziehungen zwischen Kindern, ihren Eltern und | |
der Gesellschaft sind der Ausgangspunkt für Milo Raus tastende Recherche zu | |
„The Civil Wars“, mit der das Festival Internationale Neue Dramatik | |
(F.I.N.D.) an der Berliner Schaubühne an diesem Wochenende eröffnete. Milo | |
Rau, geboren 1977 in Bern, der gelegentlich auch für das Feuilleton dieser | |
Zeitung schreibt, hat sich in den letzten Jahren mit Inszenierungen wie | |
„Hate Radio“ oder den „Moskauer Prozessen“ einen internationalen Ruf | |
geschaffen. | |
Seine oftmals als Reenactment angelegte Inszenierungsweise kontrastiert | |
stark mit der lauten Phrasenhaftigkeit, die im „bürgerlichen“ | |
Theaterbetrieb doch häufiger als Chiffre für Gesellschafts- und | |
Kapitalismuskritik herhalten muss. Raus Theater setzt weniger auf | |
Haltungsposen als auf Erkenntnisgewinn. Es verlangt intellektuelles | |
Interesse, Bereitschaft zur Auseinandersetzung. Sein „The Civil Wars“ | |
gehört jetzt zu einer als Trilogie angelegten Spurensuche. Was hält die | |
Gesellschaften Europas noch zusammen? Und was bringt den einen in die | |
Psychiatrie, den anderen an die Front des Heiligen Kriegs oder auf die | |
Bühne eines Schauspielhauses? | |
Rau setzt hier zunächst unterhalb des rein Politischen an, bei | |
biografischen Erzählungen über die Familie und vielen | |
Vater-Kind-Beziehungen. 135 Minuten sprechen zumeist vier herausragende | |
Schauspielerinnen auf Französisch oder Flämisch. Karim Bel Kacem, Sara de | |
Bosschere, Sebastian Foucault und Johan Leysen wechseln die Plätze in einem | |
als Wohnzimmer arrangierten Bühnenraum. Sie filmen sich mit der Digikamera | |
abwechselnd dabei, die Aufnahmen werden live und das Gesagte mit | |
deutsch/englischen Untertiteln in den Rückraum projiziert. | |
## Hippies und Trotzkisten | |
Sie erzählen unweinerlich, manchmal witzig von dominanten Vätern, die | |
Hippies und Trotzkisten waren, und schon mal in der Psychatrie landeten. | |
Oder unsentimental, wie einer den Vater hassen lernte, der marokkanischer | |
Herkunft – und kein Opfer! – in Frankreich lieber von Sozialhilfe als von | |
Arbeit lebte, versoffen, nicht religiös und sehr brutal, Frau und Kinder | |
schickanierte. | |
So sehr, dass dem Sohn der Tyrannenmord die einzige Lösung schien. Aber | |
auch prominente Episoden aus dem eigenen Schauspielerleben. Wie Johan | |
Leysens lustige und prägende Begegnung mit Jean-Luc Godard. Oder | |
Verwirrendes, das vorraussetzt, dass man weiß, in welchen | |
Verwandtschaftsverhältnis Sébastian Foucault zu dem berühmten Philosophen | |
Michel Foucault steht. Oder auch nicht. | |
Nichts soll hier zu klar und einfach gedeutet werden, auch wenn es immer | |
mal wieder Hinweise gibt. Über die Herausbildung von Obsessionen, die | |
Verrücktheit eines Vaters, der sich in alle und jede Information als | |
Kontenpunkt verstrickt. Ob der Nachbar, die Familie, das Kind oder der | |
Fernseher zu ihm sendet, in autoritärer Distanzlosigkeit gerinnt alles zu | |
einem. | |
## Die Medialität heutiger Charaktere | |
Das Verfahren, das Spiel der Schauspieler durch die Kameraprojektion auf | |
die Leinwand im Bühnenwohnzimmer zu verdoppeln, erscheint da nur | |
konsequent. Sie unterstreicht die Medialität heutiger Charaktere, die | |
strengen Schwarz-Weiß-Aufnahmen verleihen der Bühnensituation eine | |
existenzialistische Noir-Note. „Die Figur gibt es nicht, es ist der Text.“ | |
Die bürgerliche Gesellschaft ist mit Zwischenmelodien von Bach und Händel | |
anwesend. Auch in einer goldenen Theaterloge, die aber gleich nach Beginn | |
der Inszenierung aus dem Blickfeld gedreht wird. Nur noch einmal wird sie | |
gegen Ende mit Sara de Bosschere und dank Digikamera sichtbar. Eine | |
kindlich-anrührend wirkende Geste, die das Ende der stärker westeuropäisch | |
geprägten Kindheit markiert, die sich bei Teil 2 der Trilogie „The Dark | |
Ages“ in Richtung 1989, Osten und Südosteuropa verschiebt. | |
20 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
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