# taz.de -- Debatte Polizeigewalt und „Body-Cams“: Kameras retten kein Leben | |
> Angesichts der Polizeigewalt in den USA wird über Schulterkameras | |
> diskutiert. Doch die Überwachung ist teuer. Und hilft nur wenig. | |
Bild: Eine Polizeikommissarin in Frankfurt bei der Vorstellung der Bodycam 2013 | |
Eine „Dashboard Cam“ habe ich das erste Mal im vergangenen Jahr bei einem | |
Besuch in Russland gesehen – und zwar in so gut wie jedem Auto, in dem ich | |
mitgefahren bin. Die kleinen Digitalkameras, die am Rückspiegel oder auf | |
dem Armaturenbrett montiert sind, nehmen automatisch die ganze Fahrt | |
frontal durch die Windschutzscheibe auf. | |
Auf die Frage, warum man diese Dokumentation des Fahrverhaltens Anderer | |
bräuchte, bekam ich wüste Geschichten von ungebremsten road rage zu hören: | |
von Betrunkenen, die auf der Autobahn Zickzack fahren, von Fahrern, die | |
andere Autos abdrängen oder diese zum Anhalten zwingen, um deren Lenker zu | |
verprügeln. Auf den russischen Straßen scheint das Faustrecht zu herrschen. | |
Davor sollen die Kameras schützen, fast wie ein orthodoxes Heiligenbild am | |
Rückspiegel. | |
Wenn man alles ununterbrochen aufzeichnen muss, um die Mitmenschen von | |
Gewalttaten und Verbrechen abzuhalten, ist man in einer | |
Gesellschaftsordnung angekommen, in der das Recht der Stärksten und | |
Skrupellosesten gilt. | |
In so einer Welt ist der Contrat social, der das Allgemeinwohl und ein | |
friedliches Zusammenleben sichern soll, zusammengebrochen und durch einen | |
gewalttätigen Urzustand ersetzt worden, in dem jeder sich selbst der | |
Nächste ist – solange er nicht dabei gefilmt wird. Weil die normalen Regeln | |
des Miteinanders nicht mehr funktionieren, wird der Technik die Aufgabe | |
übertragen, für ein geordnetes Zusammenleben zu sorgen. | |
## Wen sollen die Kameras schützen? | |
Daran sollte man sich erinnern, wenn nun – nach mehreren zufällig mit | |
Handykameras dokumentierten Todesschüssen von Cops auf schwarze Bürger in | |
den USA – darüber diskutiert wird, ob man Polizisten mit Schulterkameras | |
ausstatten soll, die sie bei Einsätzen filmen. In den USA ist diese Idee | |
von Bürgerrechtlern als Reaktion auf die zahlreichen Fälle von auf Video | |
dokumentierter Polizeigewalt der letzten Monate ins Spiel gebracht worden. | |
In Deutschland, wo dieses Konzept besonders von der Polizeigewerkschaft | |
propagiert wird, gibt es bereits eine Reihe von Modellversuchen. Doch bei | |
all diesen Initiativen geht es um Kameras, die von den Polizisten | |
kontrolliert werden. Das Ziel ist, die Polizei vor Angriffen durch Bürger | |
zu schützen, nicht die Bürger vor Übergriffen der Polizei. Die | |
Streifenpolizisten schalten ihre Kameras in problematischen Situationen | |
nach Ankündigung ein („Das nehmen wir jetzt mal lieber auf.“), und filmen | |
aus ihrer Perspektive – wenn auch aus Datenschutzgründen ohne Ton. | |
In Hessen filmen Streifenpolizisten in Frankfurt, Offenbach und Wiesbaden | |
Einsätze in Problemvierteln. Das Experiment ist aus Sicht der Polizei so | |
erfolgreich, dass nun Schulterkameras für das ganze Bundesland erwogen | |
werden. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung will die hessische Polizei | |
allerdings nicht mit der Öffentlichkeit teilen oder wissenschaftlich | |
evaluieren lassen. | |
In Baden-Württemberg gibt es erste Versuche mit „Body-Cams“ in Freiburg und | |
Mannheim. Auch in Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Bremen wird über | |
derartige Maßnahmen nachgedacht; in Berlin zeigt sich der | |
Möchtegern-Law-and-Order-Innensenator Henkel „sehr aufgeschlossen“. | |
## Eine Kamera rettet kein Leben | |
Die Überwachungskameras, die seit den 80er Jahren mit ähnlichen Argumenten | |
eingeführt wurden wie jetzt die Body-Cams und inzwischen flächendeckend und | |
weitgehend akzeptiert große Teile des öffentlichen Raums abdecken, haben | |
allerdings keinen der U-Bahn-Schläger der letzten Jahre davon abgehalten, | |
auszurasten. Allenfalls haben sie zur nachträglichen Identifizierung der | |
Täter beigetragen. | |
Videokameras konnten auch nicht das Leben der Studentin Tugce A. retten, | |
die vor mehreren Überwachungskameras auf dem Parkplatz eines | |
Fastfood-Restaurants in Offenbach erschlagen wurde. Wenn die Täter | |
aufgebracht oder betrunken genug sind, lässt die einschüchternde Wirkung | |
von Videokameras offenbar zu wünschen übrig. | |
Dass Überwachungskameras Verbrechen verhindern, hat bisher noch niemand | |
nachweisen können; nicht zuletzt, weil es inzwischen einfach zu viele von | |
ihnen gibt, als dass ihre Aufnahmen noch irgendjemand sinnvoll auswerten | |
könnte – schon gar nicht die wenig qualifizierten und unterbezahlten | |
Menschen, die im McJob Wachmann arbeiten. | |
Könnten also am Körper getragene Videokameras Übergriffe der Polizei | |
verhindern, wie von ihren liberalen Verteidigern erhofft? Die Body-Cam ist | |
ein weiteres Element eines Überwachungssystem, das der britische Soziologe | |
Zygmunt Bauman das Postpanoptikum nennt: die Ausübung von Kontrolle durch | |
technische Beobachtung. Ohne dass er direkt Gewalt ausübt, wird der | |
Polizist durch die Kamera in eine Machtposition versetzt. | |
## Asymmetrie der Kräfte | |
Die Body-Cams schaffen ein asymmetrisches Kräfteverhältnis zwischen | |
Gefilmten und Filmenden. Denn die Produktion, Kontrolle und Auswertung von | |
beweiskräftigen Bildern liegt ganz bei der Polizei. | |
Das kann man auch durch Zurückfilmen – etwa mit der Handykamera – kaum | |
ändern. Denn der Polizist kann sich in Deutschland auf sein Recht am | |
eigenen Bild berufen, die Kamera beschlagnahmen, und hat bei | |
Veröffentlichung seines Bildes unter Umständen sogar Anspruch auf | |
Schadensersatz. Den Gefilmten bleibt das Recht auf die „informationelle | |
Selbstbestimmung“ – und dass das in Deutschland nicht viel wert ist, weiß | |
man spätestens seit dem NSA-Skandal. | |
Wie die Digitalkameras in Russlands Autos sollen die Body-Cams technisch | |
ein Problem lösen, das eigentlich sozialer Natur ist. Muss man einem | |
Polizisten wirklich à la Robocop eine Kamera anmontieren, damit er nicht | |
acht Mal von hinten auf einen flüchtenden Unbewaffneten schießt, wie es der | |
Polizist Michael Slager in North Charleston getan hat? Oder ist da nicht | |
eher bei dessen Auswahl und Ausbildung etwas sehr schief gelaufen? | |
Wem es zu anstrengend ist, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen, dem mag | |
die Body-Cam als eine einfache – wenn auch leider kostspielige – Lösung f�… | |
das in Rede stehende Problem erscheinen. | |
27 Apr 2015 | |
## AUTOREN | |
Tilman Baumgärtel | |
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