Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- 8.-Mai-Siegesfeiern in Russland: Russland? Am Arsch!
> Mädchen, die mit dem Po wackeln? #Aufschrei! Die Kombination aus
> Laszivität und vaterländischer Untreue empört politische Sittenwächter.
Bild: Prüde ist Russland nicht: Nur das Setting muss passen.
MOSKAU taz | Tanzende und singende Russinnen gehören zu einer Risikogruppe,
von der erhöhte Gefahr für den russischen Staat ausgeht. Anders lassen sich
die staatsanwaltschaftlichen Schnellverfahren in Russlands Provinz nicht
erklären. Zwischen 10 und 15 Tagen Haft erhielten drei junge Frauen in der
Schwarzmeerstadt Noworossijsk für eine ins Netz gestellte Tanzeinlage.
Der Bürgermeister hatte Ermittler auf die hopsenden Teenager angesetzt.
Zwei andere Mädchen der Sechserformation kamen aus gesundheitlichen Gründen
mit einer Geldstrafe davon. Für die Jüngste muss unterdessen die Mutter
geradestehen. Ihr wird zur Last gelegt, den „moralischen Reifeprozess“ der
Tochter nicht nachhaltig gefördert zu haben.
Die Mädchen hatten sich am Twerk versucht, einem Modetanz, der eine
rückwärtsausladende Hockstellung verlangt. Die wackelnden Gesäße waren es
aber nicht, die den Bürgermeister in Erregung versetzten – die Topografie
tat’s. „Malaja semlja“ heißt der Ort der Performance, eine Anhöhe über…
Meer, die im Zweiten Weltkrieg zwischen Deutschen und Sowjets hart umkämpft
war.
Seit den 1980er Jahren erinnert ein Mahnmal an das Blutvergießen. Das sei
nun entweiht, meint die Behörde, die es bislang versäumte, die Müllberge
rund um die Gedenkstätte zu entsorgen. Ganz unbürokratisch ließ der
Bürgermeister hingegen alle städtischen Tanzschulen auf Repertoire und
Choreografie überprüfen. Triumphierend meldete die Staatsanwaltschaft auf
ihrer Webseite den Vollzug: „Die Besudlerinnen des Gedenkens an den Großen
Sieg haben bekommen, was ihnen gebührt.“
Auch in Orenburg kostete ein Twerking-Skandal eine Tanzschule die Lizenz.
[1][Junge Mädchen in braun-orange gestreiften Kostümen] pumpten wie Bienen
vor dem Abflug mit ihren Hinterteilen. Eine Szene, die dem sowjetischen
Zeichentrickfilm „Winnie the Pooh“ entlehnt war. Die pulsierenden Ärsche
provozierten einen empörten Aufschrei – allerdings nicht wegen der
Vulgarität der Darbietung, sondern der Optik der Bienenkostüme. Zuschauer
fühlten sich an die braunen und orangefarbenen Streifen des St.-Georg-Bands
erinnert, das seit einigen Jahren den Sieg über Hitlerdeutschland
symbolisiert.
Der Jahrestag des Triumphes am 9. Mai wird von Russland stets ausgelassen
gefeiert. Dieses Jahr kommt dem Fest eine noch größere Bedeutung zu, denn
Moskaus Selbstisolation erhöht die identitätsstiftende Funktion des Sieges.
Der Kreml tritt Nachbarn gegenüber aggressiv auf, gleichzeitig zerfließt er
in Selbstmitleid und stilisiert sich zum ewigen Opfer des Westens. Heraus
kommt ein bittersüßes Ressentiment, das die Bevölkerung begierig schlürft.
Ein eingespielter Mechanismus, der über Generationen das Fehlen eines
rationalen, zukunftsweisenden Einheitsgefühls ersetzt.
Dass die Behörde in Noworossijsk daran erinnert, die Totenruhe zu wahren,
ist verständlich. Doch dreht es sich weniger um deren Achtung als um die
Verletzung des Totenkultes, der in autoritären Staaten das individuelle
Trauern ersetzt. Der Gefühlshaushalt wird kollektiv überformt, persönliche
Erfahrungen des Leids gerinnen im Narrativ des Staates zu ehernem
Formelwerk. Die Kriegsgeneration ist längst ihrer eigenen Erfahrungen und
Sprache beraubt worden. Unter Wladimir Putin wurde der Totenkult zu einem
Teil der Staatsräson. Nur 18 Prozent der Russen halten die Siegesfeier noch
für einen Anlass persönlichen Gedenkens. Aus dem 9. Mai ist ein
Staatsfeiertag geworden.
## Wackelnde Wertewelt
Nach der Krimannexion und den Kriegshandlungen in der Ukraine möchten viele
Patrioten vor dem Jubiläum noch einen eigenen Beitrag zur Landessicherheit
leisten. Denn die Stimmung ist nach wie vor aufgeheizt. Laut staatlichen
Medien lauert der Feind überall. Und dieser habe es eben nicht nur auf
Russlands Reichtümer abgesehen, sondern auch auf die Zersetzung der
russischen Wertewelt. Und diese Welt ist konservativ. Spätestens seit
Wladimir Putin 2012 ins Präsidentenamt zurückkehrte und der Kreml als Hort
und Führungsmacht eines neuen Konservatismus auch international Profil zu
gewinnen versucht.
Diese Verbindung aus Patriotismus und Konservatismus hat es in sich. Denn
die Empörung über sexuelle Freizügigkeit ist künstlich. Russland ist alles
andere als prüde. Die Kombination aus Laszivität und vaterländischer
Untreue beflügelt jedoch Fantasien. Also wird nach allem gesucht, was sich
durch Abweichung für Bestrafung und Verfolgung eignen könnte. Der Kreml
muss dafür weder Verbote verhängen noch zur Wachsamkeit mahnen – die
Untertanen spüren, was der Obrigkeit gefallen könnte. Und die Willkür trägt
groteske Züge.
So wurden aus einem Moskauer Kinderwarenhaus die Spielzeugsoldaten
entfernt. Genauer: Wehrmachtssoldaten in Nazi-Uniform. Generationen von
Kindern spielten bislang mit den Plastiklandsern, als Teil der
„antifaschistischen“ Erziehung seit Kriegsende, die die sowjetrussische
Welt in „wir“ und „sie“ einteilte. Niemanden störte das. Im Gegenteil.
Inzwischen erfüllen die Uniformen mit Hakenkreuz den Tatbestand der
„Anstachelung zu Hass und Feindseligkeit“.
Auch das Comic-Buch „Maus“ wurde aus den Regalen entfernt. Art Spiegelmans
Geschichte des Holocaust zählt zu den bedrückendsten literarischen
Stellungnahmen gegen das Naziregime und wurde mit dem Pulitzer-Preis
ausgezeichnet. Nur: Auf dem Einband prangt ein Hakenkreuz. Um einem
potenziellen Verdacht auf Extremismus zuvorzukommen, säuberten
Buchhandlungen das Sortiment.
## Orthodoxe Welt
In Sibirien setzten die Behörden Astrid Lindgrens „Karlsson vom Dach“, „…
Sawyer“ von Mark Twain und selbst Puschkins „Märchen vom goldenen Hahn“ …
den Index. Denn das Jugendschutzgesetz gegen „schädliche Informationen“
verbietet so gut wie alles, was Krankheit und Leiden schildert und das
herkömmliche Bild der Familie infrage stellt.
Orthodoxe Gläubige setzten in Nowosibirsk durch, dass Richard Wagners
„Tannhäuser“ abgesetzt und der renommierte Regisseur Timofei Kuljabin
entlassen wird. Sie sahen sich durch die Inszenierung in ihren religiösen
Gefühlen verletzt. Eine entblößte Schauspielerin hatte mit einem Foto des
gekreuzigten Heilands in der Venusgrotte 28 Sekunden lang ihre Scham
bedeckt. Trotz eines Gerichtsurteils, das nichts Anstößiges feststellen
konnte, und Protesten von Künstlern aus dem In- und Ausland, obsiegten die
Frömmler mit Rückendeckung der orthodoxen Kirche.
Auch in Pskow musste das staatliche Theater kurz vor der Premiere eines
dokumentarischen Stückes den Spielplan ändern. Monatelang hatten die
Schauspieler nicht nur geprobt, sie hatten das dokumentarische Material
auch zusammengetragen und arrangiert. Bis sie plötzlich feststellten, dass
sie wegen der ordinären Sprache – Prostituierte, Polizisten und Ganoven
kamen vor allem zu Wort – die Aufführung nicht mehr mittragen könnten. Der
russische Kulturminister Wladimir Medinski hatte Bedenken geäußert.
Gar nicht erst in den Verleih gelangte der Hollywoodfilm „Child 44“, der
eine Mordserie an Knaben in der Stalinzeit erzählt. Das widerspricht dem
künstlichen Bild jener Ära, die unter Putin als Hort der Ordnung und
Gerechtigkeit gepriesen wird.
Das momentan erfolgreichste russische Start-up ist übrigens
„[2][tittygram]“ aus Uljanowsk. Junge Frauen stellen ihre Brüste als
Werbefläche zur Verfügung und verschicken ein Selfie für umgerechnet acht
Euro an den Auftraggeber. Selbst der russische Burger King bewirbt so seine
Double Whopper. Niemand findet daran etwas Anstößiges. Anders wäre es wohl,
wenn sich die Damen bei den Veteranen mit dem offiziellen „Spasibo dedu sa
pobedu“ – Dank dir Opa für den Sieg – erkenntlich zeigten.
8 May 2015
## LINKS
[1] http://www.youtube.com/watch?v=ns-1zm5LoaM
[2] http://tittygram.com/
## AUTOREN
Klaus-Helge Donath
## TAGS
Freizügigkeit
Kreml
Russisch-Orthodoxe Kirche
Verbot
Russland
Russland
Russland
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Schwerpunkt HIV und Aids
Katja Suding
Feminismus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Theater und Performance aus Russland: Der unbegreifliche Riese
Russische Gegenwartskunst scheint fern. Das Festival „Karussell“ aber
ermöglichte in Dresden, in bildreiche Performances einzutauchen.
Roman über Theater in Russland: Wie einst Dostojewski
Artur Solomonow trifft mit „Eine Theatergeschichte“ den Nerv der Zeit. Er
erzählt vom Einfluss der Kirche und der Oligarchen auf ein Theater.
70 Jahre nach dem Tag der Befreiung: 8. Mai – Die Rückkehr zur Wahrheit
Die Ukraine verabschiedet sich von den sowjetischen Erinnerungsritualen.
Das Sieges- und Versöhnungsfest bleibt – nur ohne verlogenen Pathos.
Fotos des Jahres ausgezeichnet: Eine Brücke für Gefühle
Viele FotojournalistInnen arbeiten in Eigenregie. Bei den World Press
Awards in Amsterdam wurden Bilder zu Schwulen und Aids ausgezeichnet.
Kolumne Macht: Er mag Titten gar nicht
Der Fall Katja Suding, FDP Hamburg, und Jörg Rupp: Dürfen Grüne
umgangsprachliche Wörter für die weibliche Brust benutzen?
Feminismus-Debatte: Wir brauchen keinen Zumba-Jesus
Unwitzig, für Männer abschreckend und ohne weise Führung? So leicht lässt
sich der neue Feminismus nicht abwatschen. Eine Replik.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.