| # taz.de -- Debatte Wahlen in Großbritannien: Föderalismus ist kein Fremdwort | |
| > Nach Camerons Wahlsieg braucht Großbritannien eine grundlegende | |
| > Verfassungsreform. Die Chancen dafür stehen so gut wie nie. | |
| Bild: So vereinigt wünscht man sich die Politiker nicht nur zum VE-Day | |
| Europa braucht vor David Camerons Wahlsieg keine Angst zu haben. Wenn der | |
| britische Premierminister bei der anstehenden Volksabstimmung über den | |
| Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union auch nur annähernd so | |
| klug für ein Ja wirbt, wie er jetzt seinen Wahlkampf zum Erfolg geführt | |
| hat, dann ist eine satte Mehrheit sicher. | |
| Denn die Briten sind, das hat [1][die Parlamentswahl vom 7. Mai] gezeigt, | |
| keineswegs ein seltsames Inselvolk, das irgendwie anders tickt. Cameron hat | |
| die Wahl aus ganz logischen Gründen gewonnen. | |
| Er war der fähigste zur Wahl stehende Premierminister; er war der einzige, | |
| dem man eine starke Regierung mit einer eindeutigen Politik zutraute; man | |
| gibt eine umstrittene Wirtschaftspolitik nicht ausgerechnet dann auf, wenn | |
| die größten Entbehrungen bereits getätigt sind, die Früchte aber gerade | |
| erst zu reifen beginnen. | |
| David Cameron kann zu Recht stolz sein. Er hat für seine Partei die | |
| absolute Mehrheit geholt und damit geschafft, was Angela Merkel 2013 knapp | |
| misslang. Er ist der erste britische Premierminister seit dem Ersten | |
| Weltkrieg, der nach einer vollen Amtszeit seine Parlamentssitze und seinen | |
| Stimmenanteil erhöhen konnte; das schafften nicht einmal Margaret Thatcher | |
| und Tony Blair. Er hat seinen Koalitionspartner vernichtend geschlagen und | |
| seine ärgsten Widersacher rechts und links in die Wüste geschickt. | |
| ## Die verborgene Natur des Systems | |
| Und dennoch ist dieses Wahlergebnis eine Kuriosität. Die Konservativen | |
| erzielen 0,8 Prozentpunkte mehr als 2010 und gewinnen 24 Sitze dazu; die | |
| Labour-Opposition holt 1,5 Prozent mehr als vor fünf Jahren und schrumpft | |
| um 26 Mandate. Die rechte Ukip bekommt 3,9 Millionen Stimmen und einen | |
| Sitz; die schottische SNP kommt auf 56 Sitze bei nur 1,45 Millionen | |
| Stimmen. | |
| Die These, die Briten hätten Cameron ein überwältigendes Mandat gegeben, | |
| hält der Wahlarithmetik nicht stand. Was diese aufzeigt, so eindeutig wie | |
| nie, ist die verborgene Natur des britischen Wahlsystems. | |
| Britische Parteien sind dann besonders stark, wenn sie eine regionale Basis | |
| haben statt eine ideologische. Ihre Abgeordneten, allesamt | |
| Wahlkreisabgeordnete, sind Interessenvertreter ihrer Direktwähler in den | |
| Institutionen. Man will gleichzeitig aber auch Klarheit darüber, welche | |
| politische Folgen es haben könnte, sein Kreuz bei einer bestimmten Partei | |
| zu machen. | |
| Ukip und die Liberalen haben weder eine ausreichende regionale Basis noch | |
| ein ausreichendes eigenes politisches Gewicht. Die Liberalen wurden hart | |
| dafür bestraft, dass sie es sich offen hielten, mit wem sie nach den Wahlen | |
| koalieren könnten – das kommt nicht an. | |
| Auch Ukip litt unter der konservativen Warnung, dass zu viele Stimmen für | |
| die Rechtspopulisten die Rechte spalten und Labour an die Macht lassen | |
| könnten. | |
| Labour wiederum ist stark in den Großstädten und in Teilen von Wales und | |
| Nordengland, aber ohne die bisherigen Hochburgen in Schottland reicht das | |
| nicht. Und es gibt bei Labour Luft nach unten, wie bei den französischen | |
| Sozialisten: in den alten nordenglischen Industriestädten, wo Ukip fast | |
| ohne nennenswerten eigenen Wahlkampf bis zu 30 Prozent holte, droht Labour | |
| beim nächsten Mal das Aus. | |
| ## Absurditäten des Wahlsystems | |
| Aber eine SNP kann mit 50 Prozent der schottischen Stimmen 56 von 59 | |
| schottischen Sitzen erobern, weil sie am lautesten „Schottlands Stimme in | |
| Westminster“ darstellt. Ihr linkspopulistisches Image ist Show; ihre | |
| Regierungspraxis in Schottland erinnert eher an die CSU in Bayern. | |
| Die Konservativen schließlich dominieren den Süden Englands mit Ausnahme | |
| von London und einigen Großstädten genauso wie die SNP Schottland. Sie | |
| haben die Wahl deshalb so deutlich gewonnen, weil sie gezielt in knappen | |
| Wahlkreisen Süd- und Mittelenglands Wechselwähler ansprachen und damit die | |
| Konkurrenz dort hinter sich ließen, wo es sich in Sitzen auszahlt. | |
| Die Kehrseite davon ist jedoch ein Großbritannien, das immer weiter | |
| auseinanderdriftet. Es gibt im ganzen Land keine einzige politische Kraft | |
| mehr, die in allen Landesteilen so viel Respekt genießt, dass sie zumindest | |
| theoretisch überall eine Mehrheit erzielen könnte. | |
| Die Frage, wie Großbritannien nach dem knapp gescheiterten schottischen | |
| Unabhängigkeitsreferendum von 2014 zusammengehalten und neugeordnet wird, | |
| steht nun wieder ganz weit oben auf der politischen Tagesordnung. | |
| Wie kann der strahlende Sieger Cameron damit umgehen? Der unbefriedigendste | |
| Weg wäre, bilateral mit der SNP irgendeinen neuen schottischen Sonderstatus | |
| auszuhandeln, der wieder nur als Etappe Richtung Unabhängigkeit gewertet | |
| wird. | |
| ## Regionalisierung als Chance | |
| Besser wäre, die zunehmende Regionalisierung der britischen Politik als | |
| Chance zu begreifen und als Föderalisierung zu vollenden. Die Konservativen | |
| regieren in London, Labour in Wales und die SNP in Schottland. Die Bühne | |
| steht, um eine föderale Verfassung zu erarbeiten, die das „Vereinigte | |
| Königreich“ insgesamt auf eine neue Grundlage stellt. | |
| Föderalismus ist für die Briten eigentlich kein Fremdwort. Er gehört zur | |
| angelsächsischen politischen Tradition. Föderale Systeme begreifen Politik | |
| nicht als Werkzeug zur Durchsetzung ideologischer Vorstellungen, wie in | |
| zentralistischen Ländern, sondern als Rahmen einer geordneten Pluralität | |
| legitimer Interessen. Alle großen Bundesrepubliken auf der Welt verdanken | |
| ihr föderales System der englischen Prägung: die USA, Indien, Deutschland | |
| nach dem Zweiten Weltkrieg. Nur im eigenen Land hielt man das nie für nötig | |
| – bisher zumindest. | |
| Wird Cameron nun den Mut zu einem großen Wurf haben? Sein Naturell, | |
| möglichst wenig Aufregung zu verbreiten, spricht dagegen. Aber sein | |
| Instinkt, im richtigen Moment die richtigen Entscheidungen zu treffen, hat | |
| ihm 2010 wider alle Vorhersagen eine stabile Koalitionsregierung beschert | |
| und 2015 wider alle Prognosen einen deutlichen Wahlsieg. Jetzt muss er sich | |
| zum dritten Mal bewähren. | |
| 11 May 2015 | |
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| ## AUTOREN | |
| Dominic Johnson | |
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