# taz.de -- Debatte Lage auf dem Balkan: Korruption und Krise | |
> Im Norden von Mazedonien explodierte vergangene Woche die Gewalt. War das | |
> ein Auftakt neuer bewaffneter Kämpfe in der vernachlässigten Region? | |
Bild: Vor Trümmern: Anwohner der Stadt Kumanovo nach den Gefechten zwischen Po… | |
Am vergangenen Samstag umzingelte die mazedonische Polizei in einem Vorort | |
der Stadt Kumanovo eine schwer bewaffnete albanische Gruppe. [1][Die | |
Gefechte dauerten den ganzen Tag]. Panzerfahrzeuge und schweres Gerät | |
wurden eingesetzt. Für kurze Zeit herrschte Kriegszustand. Mindestens 22 | |
Menschen wurden getötet, 8 Polizisten und 14 Terroristen, teilte das | |
mazedonische Innenministerium mit. | |
Dutzende Menschen auf beiden Seiten wurden verwundet, Dutzende an den | |
Gefechten beteiligte Albaner festgenommen, viele mit einer kosovarischen | |
Staatsbürgerschaft. War das ein isoliertes Phänomen oder die Ankündigung | |
neuer bewaffneter Auseinandersetzungen auf dem im Schatten der EU-Krise, | |
der Ukraine und des „Islamischen Staates“ vergessenen und vernachlässigten | |
Westbalkan? | |
Über die Hintergründe der Aktion in Kumanovo, über die Vorhaben der | |
bewaffneten albanischen Bande weiß man wenig. Mazedonische Behörden | |
behaupten, sie hätte terroristische Aktionen geplant, und feiern nun die, | |
trotz der vielen Opfer, „gelungene“ Operation. Sicher ist jedoch eines: | |
Viele, sehr viele, wahrscheinlich die meisten Menschen in dieser ethnisch | |
gemischten und geteilten Region werden das Blutbad nicht als eine | |
Abrechnung der Polizei mit einer illegalen Truppe betrachten, sondern als | |
Zusammenstoß der slawisch-orthodoxen Mazedonier mit Albanern. | |
Egal was tatsächlich geschah, geschieht, oder geschehen wird, die Serben | |
hegen zwangsläufig Sympathien für die orthodoxen mazedonischen Brüder und | |
Abneigung gegen die Albaner. Und umgekehrt, die Albaner aus dem Kosovo und | |
Albanien werden sich a priori hinter die in Serbien, Mazedonien, | |
Griechenland und Montenegro verstreuten Volksgenossen stellen. Das | |
nationale Empfinden steht über jeder Ideologie. | |
## Keine Überraschung | |
Niemanden, der sich die Zeit nahm, zwei und zwei der regionalen Missstände | |
zusammenzuzählen, hat das Gemetzel in Kumanovo überrascht. Die | |
Arbeitslosigkeit in der Region liegt zwischen 30 und 90 Prozent. | |
Am schlimmsten ist sie im Kosovo, das die jüngste Population in Europa hat. | |
Millionen junger Menschen leben in Armut, haben keine Perspektive, keine | |
Hoffnung auf ein besseres Leben. Der Frust ist groß, der Unmut gewaltig, | |
auch wegen der Korruption, wegen ungelöster ethnischer und staatlicher | |
Verhältnisse. In extremen gesellschaftlichen Zuständen ist man anfällig für | |
extremistische Ideen. | |
Der Frieden in Mazedonien beruht auf dem 2001 nach gewaltsamen | |
Auseinandersetzungen zwischen Mazedoniern und Albanern unterzeichneten | |
Abkommen von Ohrid. Obwohl seitdem eine albanische politische Partei stets | |
an der Regierung beteiligt ist, leben sich die Mazedonier und die rund 30 | |
Prozent Albaner auseinander. In Skopje hat sich, ganz so wie in Belgrad, | |
ein autoritäres, autokratisches Regime etabliert, das die Form einer | |
Demokratie aufrechterhält, im Wesentlichen jedoch die Idee einer freien, | |
bürgerlichen Gesellschaft mit unabhängigen Medien und unabhängiger Justiz | |
erstickt und Polizei und Geheimdienste missbraucht. | |
Kosovo geht in Korruption und organisiertem Verbrechen vor der Nase der | |
EU-Mission Eulex und der internationalen Friedenstruppe unter, die | |
Anerkennung wird von Serbien, mit der Unterstützung Moskaus, wo immer es | |
geht, blockiert. Bosnien und Herzegowina ist ein ethnisch geteilter, | |
funktionsunfähiger Staat, der nicht zusammenwächst. Es gibt nicht den | |
geringsten Fortschritt. | |
## Wachsende Frustration | |
Manche würden sagen, ja, aber Hauptsache ist, dass nicht mehr gemordet | |
wird. Wie lange noch? Beziehungsweise: Hat es mit Kumanovo schon wieder | |
begonnen? | |
Der Frieden kehrte nach Bosnien und Kroatien (im jüngsten EU-Staat liegt | |
übrigens die Arbeitslosigkeit ebenfalls bei rund 27 Prozent) vor genau | |
zwanzig Jahren zurück. In Serbien werden es in diesem Oktober fünfzehn | |
Jahre nach der demokratischen Wende sein. [2][Das Land hat im Januar 2014 | |
die Beitrittsverhandlungen mit der EU begonnen], kein einziges Kapitel | |
wurde jedoch bisher geöffnet, der europäische Integrationsprozess Serbiens | |
wird an die Lösung der Beziehungen mit Prishtina geknüpft. | |
Die Geschichte lehrt uns, dass aus dem Zustand der Massenarbeitslosigkeit, | |
der unverheilten Kriegswunden, der gegenseitigen Schuldzuweisung, der | |
Aussichtslosigkeit und Verzweiflung nichts Gutes herauskommen kann. Die | |
Völker des Balkans sind Demut gewöhnt, aber das Bewusstsein, dass sich | |
sozial und wirtschaftlich nichts verbessern wird, verbreitet sich | |
unaufhaltsam – und somit die Ungeduld. Der Glaube an die EU verschwindet. | |
## Das Spiel mit dem Feuer | |
Und das bekannte Muster für Machterhaltung liegt allen regionalen | |
Machthabern und denen, die es werden wollen, zur Hand: der anderen Nation | |
die Schuld an der eigenen Misere zuzuschieben, mit einem nationalistischen | |
Kampfaufruf die eigenen Reihen zu schließen. Man kennt es: Auch wenn man | |
nicht wirklich größere Konflikte provozieren möchte, das Spiel mit dem | |
Feuer auf der Spielwiese der allgemeinen Frustration gerät leicht außer | |
Kontrolle und verwandelt sich in ein Fegefeuer. | |
In Belgrad betrachtet man die Krise in Mazedonien in Zusammenhang mit der | |
großalbanischen Idee, der „ungelösten albanischen Frage“. Erst neulich | |
sorgte Albaniens Ministerpräsident Edi Rama für Aufregung mit der Aussage, | |
dass Albanien und der Kosovo „gezwungen sein werden, sich auf klassische | |
Weise“ zu vereinigen, sollte ihre Vereinigung im Rahmen der Europäischen | |
Union zu lange auf sich warten lassen. Großalbanische Landkarten umfassen | |
neben Albanien und dem Kosovo Teile Serbiens, Mazedoniens, Montenegros und | |
Griechenlands. | |
Man stelle sich vor, acht Polizisten wären in Berlin oder Paris im Gefecht | |
mit Terroristen nichtdeutscher oder nichtfranzösischer Abstammung getötet | |
worden. Die gesamte westliche Welt wäre auf den Beinen. Es geschah aber in | |
Mazedonien, weit von Kerneuropa entfernt, dort, wo schon zweieinhalb | |
Jahrzehnte keine Ruhe einkehrt. Die EU, die USA, die OSZE und so weiter | |
riefen alle da unten auf, sich zurückzuhalten und sich zu vertragen. | |
14 May 2015 | |
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## AUTOREN | |
Andrej Ivanji | |
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