| # taz.de -- Die Nacht in Istanbul: Gruppentherapie am Taksim | |
| > Trotz Erdogans Ultimatum bleiben die Demonstranten auf dem Taksim-Platz, | |
| > die Polizei verhält sich ruhig. Zeit für Gespräche und für Musik. | |
| Bild: Polizisten und Demonstranten lauschen dem Klavierkonzert auf dem Taksim-P… | |
| ISTANBUL taz | Nein, sie haben nicht getan, was der türkische | |
| Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Vormittag in seiner „[1][letzten | |
| Warnung]“ verlangt hatte. Sie haben den Gezi-Park nicht geräumt. | |
| Stattdessen sind sie am Abend wieder zu Zehntausenden in den Park und den | |
| angrenzenden Taksim-Platz geströmt. Und anstatt, wie von Erdogan verlangt, | |
| ihre Kinder binnen 24 Stunden nach hause zu holen, sind die Mütter selber | |
| gekommen. Jedenfalls ein paar hundert, die einem entsprechenden Aufruf | |
| gefolgt sind und nun eine Menschenkette vor den Polizeieinheiten am | |
| Taksim-Platz bilden. | |
| Das finden zwar alle Demonstranten gut, aber manche finden es hier schon zu | |
| mütterlich: „Mir hat eine Frau gesagt, ich soll mich nicht auf die | |
| Treppenstufen setzen, sonst würde ich mich erkälten“, erzählt ein stämmig… | |
| Thirthysomething lachend. Der Werbefachmann, der in Auseinandersetzungen | |
| der vergangenen zwei Wochen in den ersten Reihen stand, meint nun: „Das hat | |
| mich erschreckt, ich gehe jetzt.“ | |
| Dabei ist die Stimmung zunächst angespannt. Erst als die Polizei auch nach | |
| Anbruch der Dunkelheit keine Anstalten macht, gegen die Menschen | |
| vorzugehen, stellt sich Zuversicht ein: „Erdogan wird ja wohl nicht, | |
| während er mit unseren Leuten verhandelt, den Park angreifen “, sagen jetzt | |
| viele. | |
| Die Nachricht aus Ankara, wo sich der Ministerpräsident am späten Abend mit | |
| einer Abordnung der „Taksim-Solidarität“ zum ersten direkten Gespräch | |
| trifft, wird jedoch bis in den frühen Morgen auf sich warten lassen. Erst | |
| dann wird Hüseyin Celik, der stellvertretender Vorsitzende von Erdogans AKP | |
| verkünden, dass die Regierung bis zum Ende der anhängigen Gerichtsverfahren | |
| in Sachen Gezi-Park keine Maßnahmen ergreifen werde. | |
| ## Volksfeststimmung um Mitternacht | |
| Was das bedeutet und wie die Parkbesetzer darauf reagieren, ist noch | |
| unklar. Die „Taksim-Solidarität“ hat für diesen Freitag eine Erklärung | |
| angekündigt. Vielleicht ist die Volksfeststimmung, die um Mitternacht im | |
| Gezi-Park und am Taksim-Platz herrscht, nur Vorbote der großen Siegesfeier. | |
| Die Polizei, die [2][am Dienstag den Platz gestürmt hatte], hat sich an den | |
| östlichen Rand des Platzes zurückgezogen und steht mit ihren | |
| Einsatzfahrzeugen vor dem Atatürk-Kulturzentrum. Etwa dreißig weitere | |
| Polizisten bilden einen Kreis um das Denkmal der Republik in der Mitte des | |
| Platzes. Sie sollen verhindern, dass das Denkmal wieder mit Fahnen und | |
| Transparenten behängt wird. Die Beamten haben zwar ihre Schilder | |
| aufgestellt, aber sie tragen kurzärmlige Hemden und keine Helme. | |
| Um sie herum geht es arg harmonisch zu. Zum zweiten Mal in Folge spielt der | |
| Pianist Davide Martello an einem eigens herbeigekarrten Flügel Lieder für | |
| die Protestierenden. Hunderte Menschen sitzen um ihn herum auf dem Boden, | |
| sie trinken Bier, filmen mit ihren Handys und beklatschen ihn. Und | |
| zwischendurch skandieren sie Grußadressen an Demonstranten in Ankara, wo in | |
| dieser Nacht offenbar noch härtere Auseinandersetzungen toben als [3][in | |
| den vergangenen Tagen]. | |
| Als die Melodie von „Hit the Road Jack“ ertönt, stehen einige junge Leute | |
| auf und tanzen. Hit the Road, hau endlich ab, das spricht ihnen aus dem | |
| Herzen, das ist das, was sie Erdogan seit Tagen zurufen. | |
| ## Polizisten sind geduldig | |
| Vor dieser Kulisse kommt es zu einer der bemerkenswertesten Szenen der | |
| vergangenen Tage. Mehr und mehr Menschen gehen auf die im Kreis stehenden | |
| Polizisten – meist sehr junge und sehr erschöpft aussehende Männer – am | |
| Denkmal zu und verwickeln beinahe jeden von ihnen in ein Gespräch. | |
| Gruppentherapie auf dem Taksim-Platz. | |
| Die Polizisten reagieren geduldig und meist überraschend freundlich auf die | |
| mal spöttischen, mal erregten, aber immer höflichen Fragen und Bemerkungen | |
| der Demonstranten. Nur wenige verweigern jedes Gespräch. | |
| Ein junger Istanbuler mit Tätowierungen auf den Armen und Schutzhelm auf | |
| dem Kopf versucht den ihm gegenüber stehenden Polizisten aus der Reserve zu | |
| locken. Doch der Beamte, groß, schlaksig und aus der türkischen Provinz, | |
| lässt alle Fragen gut gelaunt an sich abprallen: | |
| – „Wie geht es Ihnen denn so, wenn ein Einsatz kurz bevor steht? Gibt es | |
| Ihnen einen Kick, wenn Sie wissen, gleich können Sie wieder losprügeln?“ | |
| – „Nein, nichts davon, wir erfüllen hier nur unsere Pflicht.“ | |
| – „Na ja, aber langweilig ist es schon, wenn es so ruhig bleibt wie heute, | |
| oder?“ | |
| – „Nein. Außerdem könnte ich Sie das gleiche fragen. Macht es euch Spaß, | |
| Polizisten anzugreifen?“ | |
| – „Da fragen Sie den Falschen. Ich habe nie einen Stein geworfen und wurde | |
| trotzdem von Polizisten angegriffen.” | |
| – „Andere Frage. Was macht ihr beim Mobilen Einsatzkommando denn so, wenn | |
| nicht gerade Proteste sind?” | |
| – „Dies und das.“ | |
| – „Okay, noch eine Frage: Hast du schon jemals in deinem Leben, außer | |
| vielleicht bei einer Hochzeit, einem Klavierkonzert gelauscht?“ | |
| – „Nein, noch nie.“ | |
| – „Und, ist das hier gerade nicht toll? Ein Klavierkonzert auf einem | |
| öffentlichen Platz?“ | |
| – „Ja, es gefällt mir sehr.“ | |
| – „Tja. Aber sowas wird es in diesem Land irgendwann nicht mehr geben, wenn | |
| ihr diesen Kampf gewinnt.“ | |
| An dieser Stelle mischt sich der Zugführer ein und schickt den für seinen | |
| Geschmack offenbar zu gesprächigen Polizisten zu einer anderen Stelle. | |
| Dessen Platz nimmt ein finster dreinblickender Kollege ein, der auf Fragen | |
| nur mürrisch reagiert. | |
| ## Empathie und Spott | |
| Ob er schon viele Verletzte unter seinen Kollegen gesehen habe, fragt ein | |
| paar Meter weiter ein Teenager einen Polizisten, der mit seinem kindlichen, | |
| bartlosen Gesicht kaum älter ist als er selbst. „Ja,“, antwortet dieser | |
| zurückhaltend. „Ehrlich gesagt habe ich auf unserer Seite mehr ernsthafte | |
| Verletzungen gesehen als auf eurer Seite.“ Die Demonstranten reagieren | |
| darauf nicht etwa feindselig, sondern ehrlich interessiert. Sie wollen | |
| Einzelheiten wissen, es entwickelt sich ein freundliches, fast empathisches | |
| Gespräch. | |
| Anderswo geht es spöttischer zu: „Entschuldigen Sie die Frage, aber darf | |
| man als Mitglied des Mobilen Einsatzkommandos eigentlich so eine Wampe | |
| haben?“, fragt jemand einen Beamten, der mit Ende zwanzig zu den älteren in | |
| diesem Kreis gehört. „Ich meine ja nur, immerhin müssen Sie schnell und | |
| mobil sein, das steht ja quasi in Ihrem Jobtitel. Geht das denn gut, wenn | |
| man zu viel Bauch hat?” – „Das ist schon okay. 90 Prozent aller türkisch… | |
| Polizisten haben eine kleine Wampe, das schränkt uns nicht ein.” | |
| Dann will ein Vollbartträger um die 40 wissen, wann die Polizei den | |
| besetzten Gezi-Park räumen wolle: „Sagen Sie uns das doch bitte, dann | |
| brauchen wir uns nicht umsonst jede Nacht hier um die Ohren schlagen.” Die | |
| Umstehenden lachen, auch der angesprochene Polizist lacht mit. Umso | |
| gereizter reagiert der neben ihm stehende Kollege: „Gehen Sie mal schnell | |
| weiter“, blafft er den witzelnden Mann an und macht einen Schritt auf ihn | |
| zu, wird aber sofort von zwei anderen Beamten festgehalten: „Keine | |
| Aufregung, das war ein Scherz.” | |
| Nebenan sind drei Jungs aus Kirklareli, einer Kleinstadt auf der | |
| europäischen Seite der Türkei, auf einen Landsmann gestoßen: „Das habe ich | |
| mir gleich gedacht, dass wir Landsleute sind”, sagt der dunkelblonde Jungs | |
| zu dem dunkelblonden Polizisten. Alle lachen. | |
| ## Wer hat angefangen? | |
| Dann fragt einer der Jungs: „Ich kann nicht bestreiten, dass es unter Leute | |
| gibt, die mit Steinen werfen. Aber wenn es passiert, greifen sofort | |
| Dutzende anderer ein. Gibt es bei Ihnen so was auch, dass einer sagt: Lass | |
| mal gut sein?“ Noch ehe der Polizist antworten kann, springt der Zugführer | |
| ein: „Natürlich. Ich selbst habe das schon oft getan.“ | |
| Er erzählt ein paar Begebenheiten, in denen er eingegriffen und Kollegen | |
| vor übertriebener Härte abghalten haben will. Jetzt sind sie bei den Fragen | |
| angelangt, um die die meisten Gespräche handeln: Wer hat mit der Gewalt | |
| angefangen? Und in wessen Reihen gibt es mehr schwarze Schafe? | |
| Dann sagt der Zugführer noch: „Der Gouverneur hat nicht gelogen, als er | |
| gesagt hat, der Park würde nicht attackiert werden. Unser Befehl am | |
| Dienstag lautete nur, dass wir Kulturzentrum und das Denkmal von den | |
| Transparenten und Fahnen säubern sollten. Aber wir haben es nicht | |
| ausgehalten, dass ein paar Meter vor uns Öcalan-Fahnen wehten. Deshalb | |
| haben wir weitergemacht.“ | |
| Auch nebenan geht es um die vereinzelten PKK-Fahnen: „Sie haben da drüben | |
| zwei riesige türkische Fahnen aufgehängt“, sagt ein Demonstrant Anfang 50. | |
| „Aber über die neue Barrikade links vom Park ist dieselbe Fahne gespannt. | |
| Wie kann das sein?” – „Aber unter Ihnen sind Leute mit Öcalan-Fahnen" – | |
| „Wenn da zwei Öcalan-Fahnen sind, sind da 200 türkische Fahnen.” – „J… | |
| sehe das, und das tut mir im Herzen weh. Aber Sie lassen sich von solchen | |
| Leuten missbrauchen.“ – „Wären Sie am Anfang nicht so brutal vorgegangen, | |
| gäbe es hier keine PKK-Fahnen. Sie haben erst die PKK hergeholt.“ | |
| Der Polizist sagt nichts mehr. Man merkt, dass ihm das Gespräch unangenehm | |
| wird. Dann mischt sich eine Frau ein, Anfang vierzig und zwei Köpfe kleiner | |
| als der Beamte. „Warum hassen Sie uns so?“ – „Wir hassen Sie nicht.“ … | |
| „Warum schießen Sie dann aus nächster Nähe einer kleinen Frau wie mir | |
| Pfeffergas ins Gesicht? Ich bin Lehrerin, ich unterrichte Ihre Kinder, | |
| seien Sie bitte nicht so gewalttätig.” Der Polizist lächelt verlegen. Und | |
| die Lehrerin will ihn offenbar nicht weiter in die Enge treiben. Fast | |
| versöhnlich sagt sie: „Wenn Sie den Befehl haben, das Pfeffergas | |
| einzusetzen, dann schießen Sie bitte nur die Hälfte. Glauben Sie mir, das | |
| ist immer noch viel.“ | |
| 14 Jun 2013 | |
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| ## AUTOREN | |
| Deniz Yücel | |
| Yasemin Ergin | |
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