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# taz.de -- Kommentar Proteste in Türkei: Weiter, was denn sonst?
> Die Besetzer des Gezi-Parks bleiben, denn Erdogan hat keine
> Zugeständnisse gemacht. Sie haben viel erreicht - und dafür bezahlt.
> Jetzt müssen sie sich auf Minimalziele einigen.
Bild: Sie kämpfen weiter: DemonstrantInnen in Istanbul.
Die Besetzerinnen und Besetzer des Gezi-Parks machen weiter. Warum sollten
sie auch aufhören? Denn anders als viele, gerade ausländische Medien
vermeldet haben, hat Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan keinerlei
Zugeständnisse gemacht. Er hat lediglich angekündigt, die Urteile des
anhängigen Gerichtsverfahrens abzuwarten.
Wer darin ein Entgegenkommen erkennt, ist entweder naiv oder hat nur
geringe Ansprüche an den türkischen Rechtsstaat. Denn was wäre das
Gegenteil dieser Einlassung? Ein Ministerpräsident, der öffentlich sagt,
dass er auf rechtskräftige Urteile pfeift?
Die Menschen vom Gezi-Park haben jetzt schon viel erreicht. Sie haben sich
nicht einschüchtern lassen vor einer entfesselten Polizeigewalt, haben
jeden Meter, den sie im [1][Gasnebel aufgeben mussten], zurückerobert; sind
nach jedem brutalen Einsatz in noch [2][größerer Zahl auf die Straße
gegangen].
Das gilt für die Menschen in Istanbul, das gilt aber umso mehr für die
tapferen jungen Leute in Ankara, die sich seit zwei Wochen Abend für Abend
der Polizeigewalt aussetzen und dabei − obwohl sie in der Hauptstadt leben
− von der türkischen wie der internationalen Öffentlichkeit kaum zur
Kenntnis genommen werden.
Und sie haben dafür bezahlt: Mit ihrer Gesundheit, mit ihrem Augenlicht,
mit ihrem Leben. Am Freitag wurde der Tod von Ethem Sarisülük bestätigt,
der in den ersten Tagen des Proteste in Ankara von einem Polizisten
angeschossen worden war und seither im Koma gelegen hatte. Der vierte Tote.
All das nicht allein wegen eines − übrigens nicht allzu hübschen − Parks
inmitten von Istanbul. Schon seit der ersten brutalen Räumung der
Parkbesetzer geht es um mehr. Es geht darum, dem selbstherrlichen
Ministerpräsidenten und seiner Diktatur der Mehrheit deutlich zu machen,
dass er nicht alles so machen kann, wie es ihm gerade passt.
## Erdogan hat seine Haltung nicht geändert
Dass Erdogan in der vergangenen Woche eine mehr oder minder legitimierte
Abordnung der çapulcu, der „Marodeure“, empfing, war zwar ein
[3][symbolischer Erfolg im Kampf um Anerkennung].
Aber in seiner [4][Rede vom Freitagnachmittag] hat Erdogan gezeigt, dass er
seine Haltung nicht geändert hat. Er wiederholte nicht nur sämtliche seiner
Verschwörungstheorien (verantwortlich für die Proteste seien die
„Finanzlobby“ und „ausländische Kräfte“) und Propagandabehauptungen (…
Beispiel die, dass Demonstranten, die vor der Polizei in eine Moschee
geflüchtet waren, dort Bier getrunken hätten, was der Imam der betreffenden
Moschee vehement bestreitet) der vergangenen Wochen. In einem Nebensatz
sagte er wörtlich − und das war die ehrlichste Passage seiner Rede −, dass
er im Grunde nicht verstanden habe, worum es den Demonstranten gehe.
Natürlich würden die am liebsten die Regierung stürzen. Doch trotz der
Unterstützung, die sie in allen gesellschaftlichen Schichten genießen, wird
es dafür im Moment nicht reichen. Dafür genießt Erdogan immer noch zu viel
Zuspruch in einem großen Teil der Bevölkerung. Das wissen die
Demonstranten, auch wenn es nicht alle wahr wollen.
## Liste der Forderungen
Der mehr oder minder lose Zusammenschluss namens „Taksim-Solidarität“, auf
dessen Schultern ein großer Teil der Verantwortung für den Aufstand lastet,
hat vier (eigentlich fünf) Forderungen formuliert: Einstellung aller
Bebauungspläne für den Gezi-Park, die Öffnung alles städtischen Plätze für
Kundgebungen und Demonstrationen, das Verbot des Einsatzes von chemischen
Kampfstoffen, die Freilassung aller in den vergangenen Wochen
festgenommenen Demonstranten sowie die Entlassung der Gouverneure von
Istanbul, Ankara, Adana und Hatay, welche für die unverhältnismäßig harten
Polizeieinsätze verantwortlich sind.
Das kann man so machen. Aber anstatt diese Liste, wie [5][in diesen Tagen
im Gezi-Park diskutiert wird], noch um dit und dat (dritte Bosporusbrücke,
neuer Flughafen etc.) zu ergänzen, täten die Besetzerinnen und Besetzer gut
daran, für sich ihre Minimalziele klar zu definieren. Wenn sie sich mit
zwei, drei oder vier Forderungen durchsetzen würden, hätten sie tatsächlich
viel gewonnen.
Das wäre der Moment, den sie nicht verpassen dürften. Der Moment, an dem
sie sich mit großen Partys auf dem Taksim-Platz, dem Kizilay-Platz in
Ankara, den Plätzen in Tunceli, Eskisehir, Bolu zurückziehen könnten; im
Wissen, dass sie jederzeit zurückkommen zu können. Aber dieser Moment ist
noch lange nicht gekommen.
15 Jun 2013
## LINKS
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[5] /!118179/
## AUTOREN
Deniz Yücel
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