# taz.de -- Zwischenbilanz Kurzfilmtage Oberhausen: Kunst statt Parolen | |
> Ernsthafte Debattenfreude, hoher Schauwert, Universalismus: Eindrücke von | |
> den Oberhausener Kurzfilmtagen stimmen positiv. | |
Bild: Szene aus „Ba’ad Thalek La Yahdoth Shea“ (Nothing Happens After Tha… | |
„Kommen Sie aus Oberhausen oder aus der Welt?“, fragt Nati, Besitzerin | |
eines Second-Hand-Shops, wenn man ihren Laden gegenüber dem Festivalkino | |
Lichtburg in der Oberhausener Fußgängerzone betritt. | |
Die Frage [1][nach dem Verhältnis von Oberhausen zur Welt] wird auch am | |
ersten der sechs Kurzfilmtage auf einem Podium diskutiert: „Sind Festivals | |
noch ein universalistisches Projekt?“ Angeleitet von Moderatorin Dunja | |
Bialas versuchen sich documenta-Forscher Harald Kimpel, FAZ-Feuilletonist | |
Andreas Kilb, Lea Wohl von Haselberg, Programmdirektorin des Jüdischen | |
Filmfestivals Berlin-Brandenburg, und der französische Filmkritiker Ariel | |
Schweitzer an einer Antwort. | |
[2][Diskussionsrunden spielen bei den diesjährigen Kurzfilmtagen eine | |
übergeordnete Rolle]. Noch bevor der Eröffnungsfilm über die Leinwand | |
flackerte, wurde im Rahmenprogramm „Tagung“ die Tiefe aktueller kultureller | |
und politischer Gräben theoretisch vermessen. | |
## Ambivalenzen aushalten | |
Für die Panelisten am Tag darauf stellt [3][sich die Frage nach dem | |
universalistischen Projekt als Frage nach der Kunst – also nach ihrem | |
Vermögen, zu irritieren und Ambivalenzen auszuhalten]. Hier wünscht man | |
sich: Politische Kunst statt plakativer Parolen und eine Kulturpolitik, die | |
Verantwortung übernimmt, wo der Kulturbetrieb den Boden der Demokratie | |
verlässt. | |
Den „Schutzraum der Kunst“ als Ort von Kontroversen will Andreas Kilb | |
bewahren. Für Filmfestivals wie die Berlinale, bei der es im Februar | |
ebenfalls zu Protesten im Zuge des Kriegs in Nahost gekommen war, hieße das | |
aber auch, zwischen Filmen und den Institutionen zu unterscheiden, die sie | |
hervorbringen. | |
Zumindest laut dem Urteil von Lea Wohl von Haselberg und Ariel Schweitzer: | |
Ihnen gilt die Kritik an „stillen Boykotten“ israelischer Filme durch | |
Kuratoren, Programmleitungen und Verleiher nicht als Eingriff in die | |
Kunstfreiheit oder Ausdruck starrer Repräsentationsquoten, sondern sie sei | |
notwendig, um den Raum der Kunst vor Übergriffen zu schützen. | |
## Universalistischer Anspruch | |
Hinter den vielen Worten, die sich im Rahmenprogramm schützend vor die | |
Kunst stellen, sind es aber die Filme selbst, die uns den | |
universalistischen Anspruch Oberhausens auch 70 Jahre nach Gründung des | |
Festivals verdeutlichen. Ein Blick in den internationalen Wettbewerb der | |
ersten Tage genügt: „Ba’ad Thalek La Yahdoth Shea'“ (2023) des | |
sudanesischen Regisseurs Ibrahim Omar inszeniert die Entrechtung | |
sudanesischer Kriegsflüchtlinge in Ägypten als tragisch-komische Posse über | |
die Unmöglichkeit, ein totes Kind zu beerdigen. | |
Irina Savon entgeht mit ihrem Film „Ovozlar“ (2023) dem Darstellungsdilemma | |
des Kollektivismus: Sie zeigt usbekische Bauarbeiter, die sich fern ihrer | |
Familien in der Enge provisorischer Räume zur liebevollen | |
Zweck-Wohngemeinschaft zusammenfinden – als Individuen mit Würde, nicht als | |
gesichtslose Platzhalter von Ideologien. | |
Zuletzt ist es auch der in London lebende chinesische Regisseur Wang Zhiyi, | |
der beweist, dass politische Filme keine Parolen brauchen, um Kritik zu | |
üben. In seinem Film „Spring 23“ (2023) wird die Suche des einsamen | |
Protagonisten nach Feuerwerkskörpern zum hintersinnigen Protest gegen den | |
Kontrollzwang des Regimes – und zum kollektiven Trauerspiel einer | |
Gesellschaft am Ende der Coronapandemie. | |
## Ambivalente Form | |
Nicht das ideologische Pathos des Inhalts bewegt, sondern die ambivalente | |
Form, die vom Aufbegehren des Einzelnen gegen den Zwang zeugt. Die Politik | |
dieser universalistischen Geste findet sich in Oberhausen auch abseits | |
prominenter Krisenregionen: Sei es in Filmen wie „Fishing“ der britischen | |
Regisseurin Josie Charles, die uns mit ihrer düsteren Komödie über die | |
tödlichen Folgen der sexuellen Vorlieben ihrer Protagonistin Lola aus den | |
identitätspolitischen Sackgassen der Gegenwart hinausführt. | |
Oder in Programmen wie „The Oberhausen Selection“, das Bewohner eines | |
örtlichen Seniorenheims aus Filmen des Festivalarchivs zusammengestellt | |
haben. Im selbstverständlichen Nebeneinander von satirischen Heimatfilmen | |
und denen feministischer Filmemacherinnen wie Jovana Reisinger zeigt sich | |
nicht nur der Schauwert ungewohnter Collagen, sondern auch, was alte | |
Menschen möglicherweise wollen. | |
Weniger Entfremdung, den Ausbruch aus dem Käfig und, ja, auch ein bisschen | |
Heimat und in Ruhe auf der Strandliege abhängen.Das muss man nicht teilen, | |
sehenswert ist es dennoch. Ist es doch die Auseinandersetzung mit dem | |
Ungewohnten, mit der uns die Kunst voranbringt. Am zweiten Tag fragte ein | |
Panel: „Was legitimiert Festivals?“ In Oberhausen wünscht man sich die | |
Antwort: Es sollte nicht die Politik, es muss die Kunst sein. | |
5 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Jonathan Guggenberger | |
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