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# taz.de -- Zum Tod von Michail Gorbatschow: Auswärts beliebter als zu Hause
> Im Westen verehrt, in Russland beschimpft: Der frühere Sowjet-Präsident
> Michail Gorbatschow riss Mauern ein und glaubte an die Freiheit. Ein
> Nachruf.
Bild: Kuss vom großen Bruder: Michail Gorbatschow und SED-Prteichef Erich Hone…
Moskau taz | Noch kurz vor seinem 90. Geburtstag, als er bereits
gebrechlich war und sich kaum mehr der Öffentlichkeit zeigte, sagte Michail
Gorbatschow einen Satz, der stets seine Lebensüberzeugung gewesen war: „Es
darf keinen Krieg geben, wir müssen in Freundschaft leben.“ Ein Jahr nach
diesem Satz ließ Wladimir Putin, Gorbatschows Nachfolger, auch wenn
Gorbatschow nie russischer Präsident gewesen war, Bomben auf die Ukraine
fallen. Sechs Monate später starb Gorbatschow am Dienstagabend infolge
einer langen schweren Erkrankung in einem Moskauer Krankenhaus.
Putins Propagandist*innen frohlocken selbst in diesem Moment der
Trauer: „Gorbatschow ist tot. Zeit, das Versprengte wieder einzusammeln“,
schrieb etwa Margarita Simonjan, die Chefin des staatlichen Fernsehsenders
RT, in ihrem Telegram-Kanal. Es ist diese Art Verachtung, die Gorbatschow
im Russland Putins stets entgegenschlug, weil nicht wenige Menschen im Land
– wie auch Putin selbst – den Zerfall des großen Imperiums, dessen
Wegbereiter der erste und letzte sowjetische Präsident war, nie überwunden
haben.
Nun ist Krieg, im Heimatland von Gorbatschows Mutter. Er ist ein Symbol
dafür, wie unverarbeitet die sowjetische Vergangenheit bis heute in
Russland ist, und eine völlige Demontage von Gorbatschows Erbe, seiner
Überzeugung von einem Leben in Freiheit und Frieden. Heuchelei und Lüge
sind zurück, die Menschen in Russland tun – aus Angst oder auch aus
Überzeugung – wieder so, als ginge das Leben einfach weiter, obwohl
russische Soldaten ukrainische Städte zerstören und Kinder, Frauen und
Männer in einem anderen Land bestialisch töten und ihnen jegliches
Menschsein absprechen.
Sie tun so, als sei alles normal, obwohl russische Polizist*innen ihre
eigenen Nachbar*innen abholen, russische Richter*innen diese
Nachbar*innen für Jahre in die Strafkolonie schicken, weil diese Krieg
als Krieg bezeichnen und das tun, was sie aus Zeiten Gorbatschows gelernt
haben: kritisieren, unbedingt auch die Führung des eigenen Landes. Der Tod
des historisch unvergessenen Mannes, der im Westen stets „Gorbi, der
Friedensengel“, geblieben war und in Russland von vielen als „Gorbatsch,
der Totengräber der Sowjetunion“, gehasst wird, zeigt auf tragische Weise,
welche Epoche mit ihm zu Ende geht.
## Geprägt vom „Vaterländischen Krieg“
Michail Gorbatschow, 1932 im nordkaukasischen Stawropol geboren, war elf,
als der Krieg in sein Dorf kam. Es lag in der ukrainisch-russischen
Grenzregion. Der Zweite Weltkrieg, den die Russ*innen bis heute
„Vaterländischer Krieg“ nennen, dessen Bedeutung Putin entstellt und für
seine Politik voller Großmachtfantasien missbraucht, er prägte Gorbatschow
ein Leben lang. In nahezu jedem Interview ging er auf die entbehrungsreiche
Zeit ein, holte manches Mal auch zu weit aus, allein um das Ausmaß dessen
zu zeigen, was ihn stets geleitet hat. Er blieb ein Verfechter des „Nie
wieder“, ein Widerpart zum Putin’schen „Wir können es wiederholen“. De…
Politik hatte er zuletzt, als er noch auftreten konnte, kritisiert. Vor
allem im Innern. Hatte Putins Regierungsstil als „Imitation der Demokratie“
bezeichnet.
Außenpolitisch aber unterstützte der „Patriot“, als der er sich immer sah,
durchaus Putins Pläne. Er hieß die russische Annexion der Krim gut, ging
auch zuweilen konform mit Putins immer lauter werdender Kritik an den USA.
Der Überfall auf die Ukraine, so überliefern es zumindest jene, die noch
Zugang zu Gorbatschows Krankenbett hatten, machte ihn allerdings völlig
fassungslos.
Gorbatschow war 19, als er, ein Bauernjunge, zum Jurastudium nach Moskau
kam. Sein schwerfälliger südrussischer Akzent war stets Anlass zu Spott –
selbst als er bereits die höchste Karrierestufe des sowjetischen
Einparteienstaates erklommen hatte. Der Junge aus dem Dorf verstand
schnell, dass sich ihm die Türen erst mit dem Eintritt in die
Kommunistische Partei öffneten. Mit seinem Umzug wurde er Mitglied der
KPdSU, mit 40 stieg er ins Zentralkomitee auf. Acht Jahre später war er
eines der Mitglieder des Politbüros, des höchsten Leitungsgremiums der
Partei und somit auch des Staates.
Juri Andropow, der damalige Chef des sowjetischen Geheimdienstes KGB,
förderte den aufstrebenden Genossen. Als nach dem Tod Andropows auch dessen
Nachfolger Konstantin Tschernenko am 11. März 1985 starb, übernahm
Gorbatschow nur einen Tag später den Posten des Generalsekretärs der
Kommunistischen Partei – mit gerade einmal 54 Jahren, ein Jüngling fast im
Vergleich zu seinen Vorgängern.
An die Partei und die Sowjetunion glaubte er noch, als sich diese längst in
Auflösung befanden. Einer Auflösung, deren Wegbereiter er selbst war – mit
seinen Reformen, durch die er die Welt zwei russische Begriffe lehrte:
Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umbau). Als er auf dem 27.
Parteitag der KPdSU im Februar 1986 von der „Strategie zur Beschleunigung
der sozialökonomischen Entwicklung“ sprach, versetzte er sein Land in
einen stürmischen Denkprozess. Er ließ Eigentum legalisieren, ließ
politische Gefangene frei und sowjetische Truppen aus Afghanistan abziehen.
Er machte die deutsche Einheit möglich, verhandelte mit den USA über
Abrüstung. 1990 bekam er dafür den Friedensnobelpreis.
## Kritik war nun gestattet
Durch Gorbatschows Öffnung wurde in der Sowjetunion gezweifelt, gestritten,
endlich Politik gemacht. Er nahm den Menschen die Angst vor der Obrigkeit
und war – im Gegensatz zu Stalin und Putin – nie der Meinung, dass der Chef
immer recht habe. Er ließ sich selbst kritisieren, was ihm auch nach dem
Ende der Sowjetunion Stärke verlieh. Dennoch hatte er sich bis ins hohe
Alter an den Gedanken gehalten, das sowjetische Imperium, das durch das
Sammeln von Territorien, durch Zwang und Gewalt geformt worden war, trotz
seines Umbaus zu halten gewesen wäre. Die Freiheit, die er möglich machte,
ging mit leeren Ladenregalen einher. In den sowjetischen Republiken
forderten immer mehr Menschen ihre Unabhängigkeit. Die Kasachen wollten
einen eigenen Staat, die Balten gingen für ihre Selbstständigkeit auf die
Straße, im Kaukasus kam es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen.
Altkommunistische Hardliner putschten schließlich, hielten Gorbatschow
tagelang auf der Krim fest. Boris Jelzin, der so unerschrocken auf einen
Panzer vor dem Weißen Haus in Moskau kletterte, bot den Ewiggestrigen die
Stirn – demütigte mit seinem Verbot der KPdSU aber auch deren entführten
Generalsekretär. Sechs Jahre nach dem Amtsantritt ging Gorbatschow zusammen
mit dem Land, an das er so sehr glaubte und das er notfalls auch mit Gewalt
zusammenzuhalten bereit war. Das Prinzip der Gewalt zur Lösung von
Problemen ist bis heute ein fester Bestandteil russischer Politik.
Gorbatschow war gescheitert – und ist gerade durch dieses Scheitern ein
Vorbild, zumindest für eine Minderheit in Russland: Er ist bis heute der
einzige Staatsmann der russischen Geschichte, der zurücktrat und die Macht
durch eine echte Wahl einem anderen überließ. Putin, der nie einen Hehl
daraus machte, wie sehr er Gorbatschow und seinen Reformen abgeneigt war,
hat mit dem Krieg in der Ukraine Gorbatschows Vermächtnis zunichtegemacht.
Hat dessen Träume von einem „gemeinsamen Haus Europa“ zerstört. Für Putin
bedeutet der Verlust des Imperiums mehr als die Freiheiten, die aus
Gorbatschows Reformpolitik erwuchsen.
Gorbatschow versank nach seinem Rückzug schnell in der Bedeutungslosigkeit.
Mit seiner Stiftung setzte er sich für Menschenrechte und Umweltschutz ein,
war Mitinhaber der unabhängigen Zeitung Nowaja Gaseta. Nach dem Überfall
auf die Ukraine und den harschen Mediengesetzen stellte das Blatt die
Arbeit ein. Der letzte Sowjetchef lebte zuletzt, bis er ins Moskauer
Zentralkrankenhaus kam, ein einsames Leben auf seiner Staatsdatscha nahe
der russischen Hauptstadt. Hier hatte er Helfer, Köchinnen, die ihn mit
Pelmeni, den russischen Teigtaschen, versorgten, Pfleger, die ihn ins Bett
trugen. Und hier hatte er Fotos seiner längst verstorbenen und geliebten
Frau Raissa. Viele Fotos.
Auf dem Moskauer Friedhof des Neujungfrauenklosters wird er neben seiner
Raissa beigesetzt. Wohl ohne hohe ausländische Gäste. Auch das eine Tragik,
herausgewachsen aus der Monstrosität des russischen Krieges in der Ukraine.
31 Aug 2022
## AUTOREN
Inna Hartwich
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