# taz.de -- Zehntes Jubiläum des Studienwerks Eles: Fast wie ein zweites Zuhau… | |
> Das Jubiläum von Eles wird überschattet von dem Anschlag in Halle. Hier | |
> erzählen vier Stipendiat*innen von Netzwerken, Identität und jüdischer | |
> Vielfalt. | |
Bild: Eles-Stipendiat*innen im Jahr 2018 in Rheinsberg bei einem Kolleg des Kul… | |
BERLIN taz | „Bei uns geht es um ein lebendiges Judentum“, sagte Jo Frank, | |
Geschäftsführer des [1][Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks] (Eles) beim | |
[2][Festakt zum zehnjährigen Jubiläum des Werks] am Donnerstagabend, einen | |
Tag nach dem Anschlag in Halle. Es sei ein „Ort jüdischer | |
Selbstbehauptung“. Das Begabtenförderungswerk wurde 2009 eröffnet und hat | |
seither 800 vor allem jüdische Studierende und Promovierende gefördert. | |
Vier aktuelle und ehemalige Stipendiat*innen haben der taz vor dem Anschlag | |
erzählt, wie das Werk ihre Identität und ihr Leben hier geprägt hat – und | |
andersherum. Heute ist es umso wichtiger, die Vielfalt und das | |
Selbstbewusstsein junger jüdischer Menschen in Deutschland zu zeigen. | |
## „Freundschaften fürs Leben“ | |
Cecilia Haendler: Mein Mann Yair und ich sind 2010 zum Studium nach | |
Deutschland gekommen. Er ist aus Israel, ich bin aus Italien – wir wollten | |
einen dritten Ort, an dem wir uns als Paar entdecken konnten. Dass wir uns | |
bei Eles beworben haben, war vor allem eine finanzielle Frage. Aber dann | |
hat sich mir dort eine Tür in die jüdische Welt hier in Berlin geöffnet. | |
Yair und ich sind modern-orthodox. Uns hat die Anbindung gefehlt; wir sind | |
zwar in die Gemeinde gegangen, weil das für uns ein unverzichtbarer Teil | |
unseres religiösen Lebens ist. Die Stimmung war aber nicht lebendig, es | |
waren vor allem ältere Menschen da, und selbst an Feiertagen war die | |
Synagoge halb leer. Wir hatten zwar jüdische Freunde, aber das waren vor | |
allem Israelis; eine Gruppe, die viel unter sich bleibt. Was uns gefehlt | |
hat, war der Kontakt zu jungen jüdischen Menschen, die in Deutschland | |
aufgewachsen sind. | |
Bei Eles gab es plötzlich so viele spannende Leute. Als Religiöse sind wir | |
dort in der Minderheit. Dass die Gruppe so gemischt ist, finde ich aber | |
wichtig; wir wollten gerne die verschiedenen Arten und weisen, jüdisch zu | |
sein, kennenlernen. | |
Religiöse Rituale könnten ruhig noch mehr Raum bei Eles bekommen – gar | |
nicht unbedingt praktiziert, aber in der Diskussion. Das liegt aber in der | |
Hand der Studierenden. Als Yair und ich einen Thora-Lesekreis organisiert | |
haben, hat Eles uns dabei sehr unterstützt. | |
Ich habe durch das Stipendium auch mehr gelernt über die Geschichte der | |
jüdischen Gemeinde in Deutschland; über die Migration aus der Sowjetunion | |
und darüber, warum es so viele Spannungen gibt. Ich habe auch das erste Mal | |
liberale Juden kennengelernt; von mir aus wäre ich ja nie in eine liberale | |
Gemeinde gegangen. Ich habe bei Eles Freundschaften fürs Leben gefunden. | |
Genauso ist es mit muslimischen Freunden. Im Dialogprogramm zwischen Eles | |
und [3][dem Avicenna-Studienwerk] waren mein Mann und ich die einzigen | |
Orthodoxen unter den jüdischen Teilnehmenden – und wir haben dann amüsiert | |
festgestellt, wie viele Parallelen es zwischen uns und den Muslimen gibt. | |
Die Speisegesetze, das Kopftuch – praktische Rituale und alltägliches Leben | |
können sich so ähnlich sein. | |
## „Ich bin bei Eles jüdischer geworden“ | |
Guy Katz: Ich war einer der allerersten Stipendiaten von Eles. Ich und eine | |
Mitstipendiatin waren auch die ersten Gesamtsprecher der Studenten. Ich | |
würde sagen, ich bin in dieser Zeit vom Israeli in Deutschland zum | |
deutschen Juden geworden. | |
Als ich 2009 zu Eles kam, war ich gerade fünf Jahre in Deutschland. Ich bin | |
nach dem Militärdienst zum Studieren hergekommen. Warum? Weil ich schon | |
etwas Deutsch konnte, und weil es keine Studiengebühren gibt. Nach fünf | |
Jahren fängt man an sich zu fragen: Wer und was bin ich eigentlich? Und | |
bleibe ich hier? | |
[4][Israelis sind die kleinste Gruppe der jüdischen Gemeinschaft in | |
Deutschland] und oft nicht so in diese involviert. So war das auch bei mir. | |
Ich bin nicht religiös, und als Jude in Israel bist du Teil der | |
Mehrheitsgesellschaft. Du musst dich nicht fragen, was dein Jüdischsein für | |
dich bedeutet, und du musst es niemandem erklären. In Deutschland musste | |
ich mich damit das erste Mal auseinandersetzen. | |
Unter einem Studienwerk konnte ich mir nicht so viel vorstellen. Eles war | |
damals lange nicht so gut aufgestellt wie heute; es bestand quasi aus zwei | |
Personen, es gab keine Facebookseite, keine tolle Webseite. Heute ist es | |
eine richtige Institution. Wie krass dieses Programm eigentlich ist, habe | |
ich erst in der Einführungswoche verstanden; diese Idee der jüdischen | |
Begabtenförderung, man trifft auf so viele Leute, so viele neue und andere | |
Perspektiven – sowohl auf das Judentum als auch auf Politik und | |
Gesellschaft. | |
Dass Eles meine Promotion gefördert hat, war natürlich finanziell eine | |
Hilfe. Es hat mich aber vor allem in meiner Identität gestärkt. Viele | |
Deutsche bekommen nie einen Juden zu Gesicht. Das bedeutet für uns auch | |
eine Verantwortung, Botschafter zu sein, ob wir wollen oder nicht. Aber das | |
übernehme ich gerne. | |
Und Eles war meine erste Übung im Ehrenamt. Heute bin ich Vizepräsident des | |
Jüdischen Nationalfonds, und ich bin in der jüdischen Gemeinde aktiv. Ich | |
war sogar für vier Jahre Vorstandsmitglied. Das heißt aber nicht, dass ich | |
religiöser geworden bin – ich bin eben jüdischer geworden. | |
## „Dort fragt niemand, wie jüdisch man ist“ | |
Neta-Paulina Wagner: Meine Beziehung zu den offiziellen jüdischen | |
Institutionen war für mich immer gespalten. Mein Vater ist Israeli, meine | |
Mutter deutsche Nichtjüdin. Ich bin kulturjüdisch, bin zu Hause mit | |
jüdischen Traditionen aufgewachsen und war auf der jüdischen Grundschule. | |
Trotzdem blieb immer eine Grenze und mir war der Zutritt zur deutschen | |
jüdischen Gemeinde verwehrt, [5][die das Jüdischsein über die Mutter | |
definiert]. | |
Dann hat mir jemand erzählt, bei Eles sei es anders; es gebe dort jüdischen | |
Pluralismus; kulturjüdisch, religiös, nichtreligiös – all das würden sie | |
dort irgendwie vereinen. Heute kann ich es nicht anders sagen: Eles ist | |
mein jüdisches Zuhause geworden. Es gibt dort eine Gemeinschaft, wie ich | |
sie so in Deutschland nicht kannte. | |
Bei Eles fragt einen niemand, wie jüdisch man ist. Diese Frage ist für mich | |
ähnlich wie dieses „Woher kommst du“: Meine Identität wird hinterfragt. M… | |
solchen Fremdzuschreibungen möchte ich mich nicht befassen. Weder in der | |
Gemeinde, wo meine nichtjüdische Mutter ein Problem sein soll, noch in der | |
Mehrheitsgesellschaft, wenn mir Nichtjuden erklären wollen, dass ich nicht | |
wirklich jüdisch bin. | |
In [6][Projekten wie den Dialogperspektiven] können bei Eles Judentum, | |
Islam, Christentum und all die anderen Religionen aufeinandertreffen, ohne | |
dass sie jeweils monolithisch sein müssen. Ich bin der festen Überzeugung, | |
dass wir mehr Dialog und Begegnung brauchen. Wir sind alle nicht im | |
luftleeren Raum aufgewachsen und tragen Stereotype und Halbwissen mit uns | |
herum, ob nun bewusst oder unbewusst. Es ist ein Highlight für mich, wenn | |
mir durch den Dialog ein Spiegel vorgehalten wird – auch wenn man noch so | |
liberal von sich denkt. Menschen sind paradox, und das ist auch in Ordnung | |
so. | |
Neulich sind wir als Eles-Team einen Marathon in Luxemburg mitgelaufen. Ein | |
Christ, ein Muslim und zwei Jüdinnen laufen zusammen. Einfach, weil sie es | |
können. Dieses gelebte Miteinander ist eine Erfahrung, die ich nicht missen | |
möchte. Und wenn ich mir die politische Entwicklung anschaue, ist so etwas | |
dringend nötig. | |
## „Das Sprachrohr unserer Eltern“ | |
Greta Zelener: Das Jüdischsein hat im Leben meiner Eltern früher vor allem | |
eine negative Konnotation gehabt. Der Antisemitismus in der Sowjetunion war | |
groß, und dass sie Juden waren, stand in ihren Pässen. Meine Uroma hat das | |
Religiöse wie auch das Kulturelle nach dem Holocaust nicht an meine Oma und | |
Mutter weitergegeben – das Trauma war zu groß. | |
1996 sind wir aus Odessa nach Berlin gekommen, da war ich sechs Jahre alt. | |
Weil es meinen Eltern wichtig war, das Judentum für mich hier positiv zu | |
besetzen, haben sie mich auf die jüdische Grundschule geschickt. Mit 18 | |
habe ich mich gefragt, was Jüdischsein für mich eigentlich heißt. Ich | |
wollte raus aus meiner jüdischen Blase und bin auf ein staatliches | |
Gymnasium gegangen. Das Judentum ist eher in den Hintergrund gerückt. | |
Eles gab mir ein Stück meiner jüdischen Identität zurück. Ich bin ihnen bis | |
heute sehr dankbar dafür. Ich genieße es, in einer Runde zu sein, in der | |
viele ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie ich. Menschen aus der | |
ehemaligen Sowjetunion bilden heute 90 Prozent der jüdischen Gemeinschaft | |
in Deutschland. Auch wenn sich das in den Gemeindeämtern nicht so | |
widerspiegelt: Die sogenannten Kontingentflüchtlinge waren erst mal damit | |
beschäftigt, sich ein Leben aufzubauen, Arbeit zu finden, die Sprache zu | |
lernen. Um uns, ihren Kindern, ein besseres Leben zu ermöglichen. | |
Heute bekommen [7][viele von ihnen Armutsrenten], weil Deutschland ihre | |
Arbeitsjahre in der Sowjetunion nicht anerkennt – anders als etwa bei | |
Russlanddeutschen. Es ist, als hätten meine Eltern nie gearbeitet, bevor | |
sie nach Deutschland kamen. Darüber wird immer noch viel zu wenig | |
gesprochen. | |
Aber wir sind jetzt erwachsen, unsere Generation kann das Sprachrohr sein, | |
das unsere Eltern nie hatten. Eles funktioniert dabei wie ein Verstärker | |
und bietet uns die Plattform und die Reichweite, um unsere Themen in die | |
Öffentlichkeit zu tragen. Dort habe ich das Selbstbewusstsein entwickelt, | |
rauszugehen und meine Geschichte zu erzählen. Das ist nicht | |
selbstverständlich. | |
Hinweis der Redaktion: Die Gespräche wurden vor dem Anschlag in Halle | |
geführt. | |
11 Oct 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://eles-studienwerk.de/ | |
[2] /Festakt-im-Juedischen-Museum-Berlin/!5632715 | |
[3] http://www.avicenna-studienwerk.de/ | |
[4] /Israelis-in-Berlin-vor-der-Wahl/!5583793 | |
[5] /Identitaetsfrage-im-Judentum/!5016298 | |
[6] /Expertinnen-ueber-interreligioesen-Dialog/!5618080 | |
[7] /Renten-juedischer-Kontingentfluechtlinge/!5574999 | |
## AUTOREN | |
Dinah Riese | |
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