# taz.de -- Rabbiner über Zentralrat der Juden: „Mehr als politische Vertret… | |
> Der Zentralrat wird 70 Jahre alt. Damals war noch unklar, ob wieder | |
> jüdisches Leben in Deutschland entstehen würde, sagt Andreas Nachama. | |
Bild: Im Zentralrat finden die verschiedenen Strömungen zusammen, sagt Rabbine… | |
taz: Herr Nachama, der [1][Zentralrat der Juden in Deutschland] feiert in | |
diesen Tagen sein 70-jähriges Bestehen: Er wurde am 19. Juli 1950 in | |
Frankfurt am Main gegründet. Was bedeutet dieses Jubiläum für die Jüdinnen | |
und Juden in Deutschland? | |
Andreas Nachama: Der Begriff „Zentralrat“ kommt immer etwas abgehoben | |
daher: Letztlich wird der Bundesverband der jüdischen Gemeinden 70 Jahre | |
alt. Es ist kein Zentralrat, der für sich selbst existiert, sondern er lebt | |
von den Delegierten aus den Landesverbänden und den Gemeinden – und damit | |
am Ende eben von den rund 100.000 Juden in diesen Gemeinden. | |
Und was bedeutet es für das Land insgesamt? | |
Es ist schon ein bedeutendes Jubiläum. Damals war nicht klar, ob es in | |
Deutschland dauerhaft wieder jüdisches Leben geben würde oder ob die | |
wenigen Gemeinden nur „Liquidationsgemeinden“ waren, die bestehen sollten, | |
bis alle Juden ausgewandert sind. Die [2][erste jüdische Zeitschrift in | |
Berlin nach dem Krieg hieß Der Weg] – von hier nach irgendwo. Dann gab es | |
die anderen Stimmen, meine Mutter etwa, die sagte: Ich bin doch nicht da, | |
um Hitlers Testament zu erfüllen und Deutschland „judenrein“ zu machen. | |
Welche dieser Überlegungen sich durchsetzen würde, war erst später klar. | |
Aber dieser Zentralrat wurde ein ganz anderes Organ als sein Vorgänger in | |
der Weimarer Republik. | |
Inwiefern? | |
Die Vorgängerorganisation hieß Centralverein deutscher Staatsbürger | |
jüdischen Glaubens. So haben sich viele Juden im Nachkriegsdeutschland | |
nicht mehr gesehen. Viele waren auch einfach keine deutschen | |
Staatsangehörigen. Deshalb hat schon die Namensgebung Weichen gestellt: | |
Zentralrat der Juden in Deutschland – egal, ob sie deutsche oder polnische | |
Staatsbürger sind oder, wie viele Menschen nach der Wende, [3][aus der | |
ehemaligen Sowjetunion kamen]. Der Zentralrat ist heute ein Abbild der | |
Gemeinden in der Bundesrepublik und nicht mehr wie damals der Verband einer | |
bestimmten Strömung mit einer bestimmten Haltung. | |
Im Zentralrat sind verschiedene jüdische Strömungen vereint – die Orthodoxe | |
Rabbinerkonferenz (ORD) ebenso wie die liberalere Allgemeine | |
Rabbinerkonferenz (ARK). Wie kann man sich da die Zusammenarbeit | |
vorstellen? | |
Natürlich haben wir unterschiedliche Positionen. Aber man kann trotzdem | |
zivilisiert miteinander umgehen. Und dafür ist der Zentralrat das richtige | |
Dach. Bei den [4][Verhandlungen mit der Bundesregierung über | |
Militärrabbiner] vor einiger Zeit etwa war ganz klar, dass der Zentralrat | |
dafür eintritt, dass beiden Organisationen die gleiche Anzahl an Rabbinern | |
und Mitteln zukommt. | |
Für die Politik ist der Zentralrat oft die Anlaufstelle, wenn es um die | |
jüdische Position zu etwas geht. Wie kommt ein so diverses Organ zu einer | |
einheitlichen Stimme? | |
Ich kann aus meiner Zeit im erweiterten Vorstand sagen: Schon damals war | |
klar, dass man von der Politik nur dann wahr- und ernst genommen wird, wenn | |
man nach außen abgestimmt spricht. Es wäre ja peinlich, wenn sich | |
öffentlich alle widersprechen. Wenn man mittendrin sitzt, weiß man manchmal | |
gar nicht, wie das gehen soll. Letztlich findet man sich irgendwie | |
zusammen. Mal mit mehr Schmerzen, mal mit weniger. | |
Sie kennen den Zentralrat seit vielen Jahren, von innen und von außen. Wie | |
hat er sich über die Jahrzehnte verändert? | |
Der Zentralrat ist heute viel mehr als nur eine politische Vertretung. Mit | |
all seinen Institutionen – den Rabbinerkonferenzen, der | |
Zentralwohlfahrtsstelle, der Akademie, die in Frankfurt am Main entsteht – | |
ist er viel mehr auch eine Serviceorganisation für die Gemeinden. Das | |
politische Wort ist das, was in der Zeitung steht und den Zentralrat nach | |
außen wichtig macht. Nach innen, für die Gemeindemitglieder, zählt, dass | |
sie ihre Kinder in Sommer- und Wintercamps schicken können, dass es | |
Kulturveranstaltungen gibt und vieles mehr. | |
Vor 70 Jahren ging es um den Wiederaufbau jüdischen Lebens in Deutschland. | |
Und heute? | |
Eine der großen Herausforderungen ist es, die neuen Formen des | |
[5][Rechtsradikalismus und Antisemitismus] politisch zu bekämpfen. Das ist | |
natürlich auch Aufgabe der Politik. Aber es ist noch mal etwas anderes, | |
eine Stimme zu haben, die von innen heraus spricht. Denken Sie nur, als man | |
damals bei der Antisemitismuskommission im Deutschen Bundestag vergessen | |
hatte, jüdische Mitglieder zu benennen. Es ist wichtig, dass das nicht nur | |
Journalisten bemängeln, sondern dass es eine jüdische politische Stimme | |
gibt, die sagt: So geht es nicht. | |
Umfragen zu Antisemitismus zeigen, dass viele Menschen der Meinung sind, | |
jüdische Menschen redeten zu viel über Antisemitismus und Holocaust. Sehen | |
Sie die Gefahr, dass der Zentralrat als politische Stimme auf dieses Thema | |
reduziert wird? | |
Diese Gefahr besteht immer – aber das liegt nicht an den Juden, sondern an | |
den Antisemiten. Wer hätte sich denn gewünscht, dass wir letztes Jahr an | |
Jom Kippur nicht über Jom Kippur sprechen, sondern über den | |
[6][antisemitischen Anschlag in Halle]? Das ist ein Spiegelbild der | |
schwierigen Situation, in der wir nun mal gerade sind. | |
Es gibt in Deutschland mehr jüdische Menschen, als es Gemeindemitglieder | |
gibt. Welche Rolle spielt der Zentralrat für die? | |
Das ist wohl ähnlich wie bei christlich geprägten Menschen, die nicht | |
Kirchenmitglied sind: Was die jeweiligen Institutionen sagen, spielt | |
gelegentlich eine Rolle, weil man es wahrnimmt. Doch vielleicht fühlt man | |
sich nicht davon vertreten. Ich muss aber sagen: Wer sich ärgert und Dinge | |
anders will, der muss sich einbringen und Veränderung voranbringen. Der | |
Zentralrat hat nicht den Anspruch, für alle jüdischen Menschen in | |
Deutschland zu sprechen – er spricht für die in den Gemeinden. | |
Was ist mit den anderen? In Deutschland lebende Israelis sind selten in | |
Gemeinden organisiert, genau wie Menschen, die einen jüdischen Vater haben, | |
aber keine jüdische Mutter, und deswegen gerade aus Sicht der Orthodoxen | |
nicht als jüdisch gelten. | |
Junge Israelis, die sich gar nicht als religiöse Juden sehen, müssen doch | |
nicht in eine Gemeinde eintreten. Warum auch? Dass es verschiedene | |
Haltungen gibt, gehört in einer offenen Gesellschaft doch dazu. Ins | |
Gespräch zu kommen, ist natürlich immer gut. Das macht der Zentralrat heute | |
ja auch, anders als in den 1970er oder 1980er Jahren, da war er tatsächlich | |
sehr vernagelt. Kürzlich gab es mit dem Gemeindebarometer eine große | |
Umfrage, da hat man auch die gefragt, die nicht Gemeindemitglieder sind: | |
Woran liegt’s? Ich bin sehr gespannt, was dabei herauskommt. | |
Was wünschen Sie dem Zentralrat und den jüdischen Gemeinden für die | |
nächsten 70 Jahre? | |
Ich wünsche mir, dass die Innenwahrnehmung – der Zentralrat als | |
Bundesvereinigung für jüdisches Leben in Deutschland – auch nach außen | |
prägender wird. Und dass wir nicht mehr über Antisemitismus sprechen | |
müssen, weil es ihn nicht mehr gibt. Außerdem: Wir wissen nicht, wie die | |
[7][nächste Generation mit jüdischen Positionen umgehen wird]. Ich wünsche | |
mir, dass der Zentralrat in diesem Sinne nicht alt wird, sondern jung | |
bleibt und diesen Positionen aufgeschlossen gegenübertritt. Da habe ich | |
derzeit aber keine Sorge. | |
19 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.zentralratderjuden.de/ | |
[2] https://collections.ushmm.org/search/catalog/bib126715 | |
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## AUTOREN | |
Dinah Riese | |
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