# taz.de -- Prozessbeginn in Halle: So viele Fragen | |
> Neun Monate nach dem Anschlag von Halle beginnt am Dienstag der Prozess | |
> gegen den Täter. Betroffene fordern nachhaltige Konsequenzen. | |
Bild: Christina Feist war bei dem Anschlag in Halle am 9.10.2019 in der Synagoge | |
BERLIN HALLE taz | Christina Feist wird in Saal C24 des Landgerichts | |
Magdeburg Platz nehmen. Dann wird die Philosophiedoktorantin Stephan | |
Balliet in die Augen blicken, ganz bewusst. „Ich möchte ihm zeigen, dass er | |
gescheitert ist“, sagt Feist. „Dass ich noch lebe. Dass ich mich sicherlich | |
nicht geschlagen gebe.“ | |
Neun Monate ist es her, dass Stephan Balliet Christina Feist töten wollte. | |
Schwer bewaffnet fuhr der Rechtsextremist am 9. Oktober 2019 zur Synagoge | |
in Halle, um dort ein Massaker anzurichten. Feist und 51 weitere Gläubige | |
feierten dort gerade Jom Kippur, den höchsten jüdischen Feiertag. Balliets | |
Angriff misslang. Doch der 28-Jährige tötete zwei andere Menschen: Jana L. | |
und Kevin S. | |
Ab Dienstag wird darüber nun im Landgericht Magdeburg verhandelt. Christina | |
Feist wird an dem Prozess als Nebenklägerin teilnehmen – so wie etwa 50 | |
weitere Betroffene des Attentats. Rund 100 BesucherInnen und | |
JournalistInnen werden ihn hinter einer Glaswand verfolgen, eine Dimension, | |
die an den NSU-Prozess erinnert. Christina Feist wird eigens aus Paris | |
anreisen, wo die gebürtige Wienerin inzwischen studiert. „Ich würde mir | |
Antworten wünschen. Es gibt wahnsinnig viele Fragen, die offen sind“, sagt | |
die 29-Jährige mit den blonden Locken. „Aber wenn ich ehrlich bin, erwarte | |
ich mir gar nichts mehr. Ich bin zutiefst enttäuscht über das, was in den | |
letzten Monaten passiert ist.“ | |
Zum Zeitpunkt des Anschlags wohnte Feist noch in Berlin, reiste von dort | |
mit anderen Gläubigen nach Halle, um Jom Kippur jenseits des | |
Großstadttrubels zu feiern. Dann fuhr Stephan Balliet mit einem Mietwagen | |
vor die Synagoge, mit acht Schusswaffen, mehreren Sprengsätzen und einer | |
Kamera auf dem Helm. Er übertrug seine Tat live im Internet. Balliet | |
scheiterte an der Synagogentür, trotz Beschuss und Granatenwürfen. | |
## Zweifacher Mord, 68-facher Mordversuch | |
Christina Feist hörte die Schüsse, sah Rauch aufsteigen. Die Gläubigen | |
blieben ruhig, über eine Überwachungskamera verfolgten einige den Angriff. | |
Stundenlang saßen sie fest, im Ungewissen. Feist verbarrikadierte mit einem | |
Mann die beiden Hintertüren. „Ich habe einfach nur funktioniert“, sagt sie. | |
Balliet hatte es da bereits aufgegeben, in die Synagoge zu gelangen. Er | |
erschoss die Passantin Jana L., die ihn, ohne den Ernst der Lage zu | |
erkennen, gefragt hatte: „Muss das sein, wenn ich hier langgehe?“ Die | |
40-Jährige starb noch am Tatort. Balliet stieg danach wieder in seinen | |
Wagen, entdeckte den nahegelegenen Kiezdöner. „Döner? Nehm wa“, sagte er … | |
Video. Dann erschoss er dort einen Gast, Kevin S., einen 20-jährigen Maler | |
und Fußballfan, der dort gerade Mittag gegessen und noch versucht hatte, | |
sich hinter einem Kühlschrank zu verstecken. | |
Balliet zielte auch auf Passanten, die Jana L. Hilfe leisten wollten oder | |
zufällig vorbeikamen, auf weitere Gäste im Kiezdöner. Ihnen retteten teils | |
nur Ladehemmungen der selbstgebauten Waffen das Leben. Als Balliet in | |
Wiedersdorf bei Halle von einem Paar einen neuen Fluchtwagen erpressen | |
wollte, schoss er dem Mann in den Nacken und der Frau in den Oberschenkel. | |
Wenig später wurde er auf einer Landstraße, 60 Kilometer von Halle | |
entfernt, nach einem Unfall festgenommen. Die Anklage wirft Balliet | |
zweifachen Mord und 68-fachen Mordversuch vor. | |
Viele dieser Opfer werden als Nebenkläger in Magdeburg dabei sein. Und sie | |
haben, auch wenn durch das Tatvideo vieles klar ist, Fragen. Christina | |
Feist will wissen: Radikalisierte sich Balliet wirklich unbemerkt? Warum | |
konnte die Polizei ihn bei seinem Attentat so lange nicht stoppen? Und | |
warum wussten die Beamten offenbar weder, dass in der Synagoge Jom Kippur | |
gefeiert wurde, noch, wie sie mit den Gläubigen umzugehen haben? „Der | |
Umgang mit uns frisch Traumatisierten war katastrophal unsensibel“, | |
kritisiert Feist. Da die Gläubigen am Fastentag Jom Kippur traditionell | |
nichts bei sich getragen hätten, konnten sie sich vor der Polizei nicht | |
ausweisen – und stießen damit laut Feist auf komplettes Unverständnis. Für | |
sie fängt das Antisemitismus-Problem „schon damit an, dass Beamte derart | |
ungeschult beim Thema Judentum seien“. | |
## Judenhass und Rassismus | |
Laut den Ermittlern kam Stephan Balliet aus dem Nichts. Er war nicht | |
vorbestraft, nach eigener Auskunft besuchte er nie eine politische | |
Veranstaltung. Schon zu Schulzeiten war er ein Einzelgänger, seine Eltern | |
trennten sich früh. Er machte Abitur, leistete Grundwehrdienst, begann ein | |
Chemiestudium, das er wegen einer Erkrankung wieder abbrach. Die | |
vergangenen sieben Jahre lebte er arbeitslos in Benndorf, 40 Kilometer von | |
Halle entfernt, in einem Zimmer bei seiner Mutter, die seinen Unterhalt | |
bezahlte. | |
Balliet verbrachte viel Zeit auf Imageboards, anonymen Onlineforen. Hier | |
fand offenbar auch seine Radikalisierung statt. Er bewegte sich anonym im | |
Netz, hinterließ kaum Spuren. Auch auf Mitwisser stießen die Ermittler | |
nicht. Mit einer Dokumentensammlung, die Balliet vor seiner Tat ins | |
Internet stellte, machte er aber klar, wo er steht: Auf Englisch versandte | |
er Referenzen an eine Onlineszene, die rechtsextreme Anschläge feiert. | |
Erklärte, wie er über Monate seine Waffen selbst zusammenbaute. Wie er die | |
Synagoge auskundschaftete. Und rief auf, möglichst viele Juden zu töten. | |
Der Rechtsextremist bereut seine Tat nicht. In seinen Vernehmungen beklagte | |
er nur den [1][Tod von Kevin S.], weil er diesen mit einem Muslim | |
verwechselt habe. Er bedauere, dass der Anschlag auf die Synagoge und die | |
„Nahöstler“ misslang. Wäre er nicht festgenommen worden, hätte er weiter | |
gemordet, eventuell in Synagogen in Leipzig oder Magdeburg, oder von einem | |
Unterschlupf im Harz aus. Und Balliet [2][huldigte dem | |
Christchurch-Attentäter], der 2019 in zwei Moscheen 51 Menschen erschoss | |
und seine Tat ebenso live übertrug. Noch in der JVA Halle unternahm Balliet | |
Ende Mai zudem [3][einen Fluchtversuch] und überkletterte eine Mauer, um | |
wenige Minuten später wieder aufzugeben. | |
Nun könnte Stephan Balliet im Prozess seine Bühne suchen, erneut seinen | |
Judenhass und Rassismus ausbreiten. Auch der Attentäter von Christchurch | |
stellte vor Gericht seine Gesinnung zur Schau, formte grinsend mit seinen | |
Fingern eine „White Power“-Geste. | |
## Traumatisiert und erschöpft | |
Rifat Tekin sitzt vor wenigen Tagen im [4][Kiezdöner in Halle]. Es ist nun | |
sein Imbiss, nach dem Anschlag vermachte der vorherige Besitzer ihm und | |
seinem Bruder Ismet das Geschäft. Als Balliet vor neun Monaten in den Laden | |
feuerte, versteckte sich Tekin hinter der Theke. Nun ist auch er | |
Nebenkläger im Prozess. Es werde belastend, sagt Tekin. Aber: „Ich will | |
wissen, was mit dem Täter los ist, was er gegen Muslime hat.“ | |
An der Wand hinter Rifat Tekin hängen Fußballtrikots des Halleschen FC, dem | |
Lieblingsverein von Kevin S., und Gedenktafeln für die Todesopfer des | |
Anschlags. Die zerschossene Fensterscheibe ist ausgewechselt. „Schon | |
lange“, sagt Rifat Tekin. | |
Genau wie sein Bruder ist auch Ismet Tekin Nebenkläger im Prozess. Er hatte | |
den Laden gerade verlassen, als er in den Kugelhagel geriet, mit dem | |
Balliet Polizisten beschoss. Angst habe er heute nicht mehr. „Wenn du Angst | |
hast, kannst du gar nicht mehr rausgehen.“ Seine Hoffnung ist, dass der | |
Täter „so bestraft wird, dass keiner sich jemals wieder so etwas überlegt. | |
Solche Sachen bringen diesem Land nur Schande, versauen so viele | |
Menschenleben“, sagt Tekin. | |
Christina Feist brauchte Tage, bis sie weinen konnte. Und Wochen, bis sie | |
verstand, dass auch sie traumatisiert ist und eine Therapeutin brauche. | |
„Wir sind alle erschöpft“, sagt Feist über die Gläubigen, die in der | |
Synagoge waren. | |
## Weitere antisemitische Vorfälle | |
Max Privorozki ist Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Halle. Bei jedem | |
Hubschrauber, den er höre, schrecke er auf, sagt er. Dazu kam nach dem | |
Anschlag die Coronapandemie, wieder musste der Gemeindealltag umorganisiert | |
werden, erstmals seit dem Weltkriegsende fiel das Pessach-Fest aus, das | |
Gedenken an die Schoah-Opfer musste virtuell stattfinden. Und nur noch 19 | |
Gläubige dürften nun gemeinsam in die Synagoge. Sie gehen jedes Mal durch | |
die dunkelbraune Eichenholztür, in der bis heute die Einschusslöcher | |
klaffen. Kameras thronen nun gut sichtbar auf Mästen, ein Polizeiwagen | |
steht am einen Ende der Straße, am anderen ein weiß-blauer Container der | |
Polizei. Die Tür soll demnächst ausgetauscht und im Hof der Synagoge | |
aufgestellt werden. „Natürlich wird hier niemand den Anschlag vergessen“, | |
sagt Privorozki. | |
Und es gab wieder antisemitische Vorfälle in Halle. Die andere jüdische | |
Gemeinde der Stadt erhielt ein Drohschreiben, ein Mann beleidigte auf dem | |
Marktplatz Passanten antisemitisch, ein anderer legte zweimal Hakenkreuze | |
aus Taschentüchern vor Privorozkis Synagoge. Überwachungskameras zeigen, | |
wie ein gerufener Polizist eines davon zertrat. Der Beamte wurde versetzt, | |
gegen ihn laufen disziplinarrechtliche Ermittlungen. „Ein Wahnsinn“, sagt | |
Privorozki. „Wie soll ich da der Polizei vertrauen?“ Bis heute verhandelt | |
seine Gemeinde mit dem Land über ein besseres Sicherheitskonzept. | |
2.032 [5][antisemitische Straftaten] zählte die Polizei 2019 bundesweit, | |
ein Anstieg um 13 Prozent. Christina Feist ist wütend. „Nach jedem | |
Übergriff wird Solidarität erklärt. Das ist schön, aber das reicht längst | |
nicht mehr“, sagt sie. Feist plädiert für Bildungsangebote gegen | |
Antisemitismus, die jeden erreichten und Vorurteile ausräumen. Vielleicht | |
könne der Prozess die Menschen aufrütteln. „Wahrscheinlich ist es naiv“, | |
sagt Feist, „aber das ist dann doch noch der Rest Hoffnung, den ich habe.“ | |
19 Jul 2020 | |
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## AUTOREN | |
Pia Stendera | |
Konrad Litschko | |
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besonders schwer. |