| # taz.de -- Vietnamesische Nischenökonomie: Die Blumen müssen an die Luft | |
| > Sieben Tage die Woche verkauft Thoa Thi Tran Schnittblumen. So lange, bis | |
| > sie nicht mehr kann. | |
| Bild: Thoa Thi Tran arbeitet am Berliner S-Bahnhof Lichterfelde West | |
| Es ist halb acht Uhr an einem kalten Sonntagmorgen, als Thoa Thi Tran | |
| beginnt, ihren Blumenstand in der Unterführung zum S-Bahnhof Lichterfelde | |
| West aufzubauen. Tran ist eine kleine Frau, 57 Jahre alt, mit roten Wangen | |
| und schwarzen Haaren, die sie mit einem Kopftuch zurückgebunden hat. Sie | |
| trägt eine rote Strickjacke und blaue Gummihandschuhe. | |
| Auf einem klappernden Rollregal befördert sie Dutzende Blumenkörbe aus | |
| ihrem Lagerraum, der hinter ihrem Blumenstand liegt. Schwere Arbeit sei | |
| das, sagt sie und hievt Körbe mit weißen Gerbera, roten Rosen und bunten | |
| Dahlien vom Regal. Sie platziert sie auf dem Boden an ihrem Stand, rings um | |
| eine einfache Arbeitsplatte aus Holz. Um neun Uhr legen sich die Blumen wie | |
| ein Blütenteppich über die nackten Steinplatten. | |
| Als ein Mann mit Fahrrad vorbeikommt, ruft Tran: „Keine S-Bahn heute.“ „A… | |
| ja“, murmelt der Mann und dreht wieder um. | |
| Seit 18 Jahren verkauft Tran Schnittblumen, sieben Tage in der Woche. | |
| Obwohl Bauarbeiten die S-Bahn lahmlegen, das dritte Wochenende in Folge, | |
| hat sie auch heute ihren Stand aufgebaut. Ohne S-Bahn kämen zwar weniger | |
| Kunden, sagt sie. Gestern sei aber Nachschub vom Großmarkt in Marzahn | |
| geliefert worden. Die Blumen müssen an die frische Luft. | |
| Kurz darauf mustert eine dicke Frau mit kurzen, rot gefärbten Haaren Trans | |
| Stand. „Ich brauche zwei Sträuße je 12 Euro“, sagt sie. Rosen wolle sie | |
| haben, lachsfarbene. Die Frau zeigt auf den Blumenkorb mit gelben Dahlien. | |
| Ein paar von denen nehme sie auch. Tran versteht man oft nur schwer, wenn | |
| sie Deutsch spricht. Das Floristinnenvokabular aber sitzt. | |
| „Noch etwas Grün?“, fragt sie die Kundin. „Bisschen anschneiden?“ | |
| Sie verziert den Strauß mit etwas Eichenlaub und setzt zwei Schnitte mit | |
| der Gartenschere. Dann reißt sie gelb-oranges Papier von dem Abroller neben | |
| ihrer Arbeitsplatte und wickelt es um den Strauß. Die Augen der Kundin | |
| folgen Trans schnellen Handbewegungen. Die Blumen seien so schön, am | |
| liebsten hätte sie noch einen Strauß für sich, sagt die Frau. Aber sie | |
| müsse sparen. | |
| Ein paar Minuten später ist auch der zweite Strauß fertig. | |
| „22 Euro zusammen“, sagt Tran. | |
| Dann kommt lange niemand. | |
| ## Frühstück wird gespart | |
| 10.34 Uhr. Keine Kunden. Ob Tran schon Frühstück gegessen hat? Sie macht | |
| mit ihren Zeigefingern Kreisbewegungen neben ihren Schläfen, so als rechne | |
| sie. „Drei Euro fürs Frühstück, im Monat 90 Euro“, sagt sie. Davon könne | |
| eine Person in Vietnam einen Monat leben. Geld, das Tran lieber spart. | |
| Seit 23 Jahren lebt Tran in Deutschland. Seit acht Jahren hat sie keine | |
| neue Kleidung mehr gekauft. Unter ihrer roten Strickjacke trägt sie noch | |
| fünf weitere Schichten. Jeden Abend kommt eine Frau mit grauen Haaren und | |
| schenkt Tran ihre alten Zeitungen, die sie als Einwickelpapier benutzt. | |
| Einwickelpapier ist teuer. | |
| Tran sagt, die Erlöse aus dem Blumengeschäft spare sie, um etwas Geld in | |
| ihre Heimatstadt Nam Định im Norden Vietnams zu schicken. Dort leben ihre | |
| Schwester und ihr Bruder. | |
| 12.06 Uhr. Nam ruft aus Hanoi an, Trans Sohn. Wie jeden Tag um diese Zeit. | |
| Die Verbindung ist schlecht. Tran hält ihr Handy in der Hand, setzt ihre | |
| schwarze Brille auf und lugt auf den Bildschirm. Unscharf ist Nams Gesicht | |
| zu sehen, hinter ihm die Dämmerung. Sechs Stunden liegen zwischen Berlin | |
| und Hanoi. Sie unterhalten sich auf Vietnamesisch, reden über ihren | |
| vierjährigen Enkelsohn Nhan, wie Tran später sagen wird. | |
| Ihr Sohn Nam sei ein erfolgreicher Geschäftsmann, erzählt Tran. Vor zwei | |
| Jahren hat er seine Mutter gemeinsam mit seiner Frau, einer Zahnärztin, und | |
| ihrem Sohn in Berlin besucht. Tran erinnert sich, wie sie den dreien damals | |
| ihren Blumenstand zeigte. Ihr Enkelsohn habe geweint, sagt Tran, als sie in | |
| dem kargen Lagerraum mit der alten Mikrowelle standen, ihr Sohn sie | |
| gebeten, zurück nach Vietnam zu kommen. | |
| Doch Tran wollte bleiben. | |
| ## Der Blumenstand als Lebenswerk | |
| Sie sagt, sie sei stolz auf ihren Sohn. Aber eben auch auf ihr Lebenswerk, | |
| ihren Stand, an dem sie Blumen verkauft. Erst, wenn sie nicht mehr arbeiten | |
| könne, wolle sie zurück und zu ihrer Schwester nach Nam Định ziehen. | |
| Tran war einst vor der Armut in Vietnam geflohen. Sie kam an Weihnachten | |
| 1999 mit einem Touristenvisum nach Deutschland. In Nam Định, wo sie als | |
| Schneiderin gearbeitet hatte, hieß es, die deutschen Politiker hätten ein | |
| gutes Herz. Und Tran glaubt das noch immer. | |
| Dabei war Deutschland nicht immer gut zu ihr. In der Ausländerbehörde in | |
| Eisenhüttenstadt habe eine Beamtin sie geohrfeigt, sagt Tran. Ihre | |
| Zweizimmerwohnung in Schöneberg sei oft von der Polizei durchsucht worden, | |
| weil die Beamten dachten, das zwischen ihr und Nikolai sei eine | |
| Scheinheirat. | |
| Als Tran von Nikolai erzählt, dem pensionierten Politikdozenten, den sie | |
| 2004 heiratete, wird sie wortkarg. Mit gesenktem Blick bindet sie gelbe | |
| Dahlien zu Sträußen. Einen nach dem anderen, so als wolle sie sich | |
| ablenken. | |
| Nikolai habe sie überzeugt, ihr Hobby, die Blumen, zum Beruf zu machen, | |
| sagt Tran. Sie liebt Blumen, seit sie denken kann. In Schöneberg mietete | |
| Nikolai für sie einen kleinen Blumenladen, der aber zum Verlustgeschäft | |
| wurde. Tran zog weiter, verkaufte Blumen an den S-Bahn-Stationen in | |
| Tempelhof und am Ostkreuz. | |
| Im Jahr 2005, Tran war 40 Jahre alt, eröffnete sie ihren Stand am S-Bahnhof | |
| Lichterfelde West. Sie verkaufte Schnittblumen und lernte viel über die | |
| Deutschen. Dass sie im Spätsommer Dahlien kaufen und Amaryllen im Winter. | |
| In Vietnam habe ihre Familie meistens Lilien gekauft, sagt sie. Wenn | |
| überhaupt. Blumen waren teuer. | |
| Die Jahre gingen vorbei. Tran arbeitete jeden Tag zwölf Stunden, von halb | |
| acht Uhr morgens bis acht Uhr abends. Das Geschäft lief und sie erhielt | |
| eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis. Immer nach dem Frühstück, bevor sie | |
| zur Arbeit ging, spielte Nikolai für sie Gitarre. | |
| Im Jahr 2009 flog Nikolai nach Chile. Er wollte dort ein Haus als | |
| Alterssitz für sie beide bauen. Tran sollte nachkommen. Doch kurz darauf | |
| starb Nikolai an Herzproblemen in einem Krankenhaus in Chile. | |
| In jener Woche hätten Kunden ihr berichtet, sie sehe selbst wie tot aus, | |
| sagt Tran. Sie wurde sehr dünn. Einmal fand sie nachts, nachdem sie ihren | |
| Blumenstand abgebaut hatte, nicht mehr nach Hause. | |
| ## Nur einmal beim Arzt | |
| Doch Tran machte weiter. Irgendwie. Heute lebt sie zur Untermiete in einem | |
| Zimmer in Lichterfelde. Sie ist stolz darauf, seit 2009 nur einmal beim | |
| Arzt gewesen zu sein. Noch nie habe sie Geld vom Jobcenter empfangen, auch | |
| das ist ihr wichtig. | |
| 18.34 Uhr. Nur eine Handvoll Kunden waren heute da. Gleich wolle sie | |
| zusammenpacken, etwas früher als sonst, sagt Tran. Denn heute käme sowieso | |
| niemand mehr. | |
| Aus ihrem Handy tönt die ernste Stimme einer vietnamesischen | |
| Nachrichtensprecherin durch die Unterführung. Eine flackernde | |
| Leuchtstoffröhre taucht den Blumenstand in gelbes Licht. | |
| Thoa Thi Tran sitzt an ihrer Arbeitsplatte und bindet Blumensträuße. | |
| 17 Dec 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Victor E. Meuche | |
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