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# taz.de -- Videopionier Gerd Conradt: Unter dem Radar fliegen
> Der Regisseur Gerd Conradt filmte seinerzeit gegen geplante „Sanierungen“
> in Berlin-Charlottenburg an. Seine Arbeiten werden jetzt wieder gezeigt.
Bild: Regisseur Gerd Conradt und der Architekt Hardt-Waltherr Hämer (r.) in �…
Das Jahr 1984 war für mich ein besonderes Jahr. Der Schriftsteller George
Orwell hatte in seinem Roman „1984“ angekündigt, wir würden in diesem Jahr
in einem totalitären Überwachungsstaat leben. Für mich kam es jedoch ganz
anders. Ich erlebte eine Freiheit, die ich bis zu dem Zeitpunkt noch nicht
kennengelernt hatte. Im ZDF wurde mein erster Film ausgestrahlt, ein
„Kleines Fernsehspiel“ mit dem Titel „Der Videopionier“.
Ich war Fotograf und Kameramann. Nach den wilden Jahren um 1968, in denen
ich mich als Kommunarde in großen, für Berlin so typischen Wohnungen
erprobt hatte, war ich vier Jahre später in einer Zweizimmerwohnung mit
Ofenheizung in einem Kiez in der Nähe vom Schloss Charlottenburg gelandet.
Zur selben Zeit war das Medium Video auf den Markt gekommen. Video, ich
sehe, ich werde gesehen. Das bewegte Sofortbild. Nach der Aufnahme konnten
die Bilder sofort gesehen, über Kabel auch verbreitet werden. Eine
Revolution in der Medienwelt.
## Proteste gegen Kahlschlagsanierung
In meiner neuen Heimat schloss ich mich einer Bürgerinitiative an, die
gegen einen Plan protestierte, der vorsah, alte Häuser abzureißen und durch
Neubauten zu ersetzen – wir nannten das „Kahlschlagsanierung“. Mein Geld
verdiente ich als „Videolehrer“ an der Universität, und nach Feierabend
dokumentierte ich unseren Protest im Kiez am Klausenerplatz.
Ich sammelte Beweise dafür, dass die geplante „Sanierung“ sich gegen die
Interessen der Bewohner, mich und meine Nachbarn, richtete. Wir sollten in
für uns gebaute Neubauviertel an den Stadtrand ziehen. Das Märkische
Viertel und die Gropiusstadt sind die bekanntesten Namen für diese modernen
Schlafstädte. Hohe Mieten – Infrastruktur und Verkehrsanbindung gleich
null.
Als ich vom ZDF den Auftrag bekam, aus den von mir über zehn Jahre
gesammelten Aufnahmen über unseren Protest eine Fernsehsendung zu
gestalten, war aus dem gelernten Fotografen und Kameramann der Videopionier
geworden.
Die Videoaufnahmen der ersten Generation waren schwarz-weiß und konnten mit
den hochauflösenden bunten Fernsehbildern nicht konkurrieren. Um meinen
Film für die große Fernsehöffentlichkeit attraktiv zu machen, erfand ich
eine Figur, die nun – mit der neusten Technik in Farbe gedreht – durch den
Film wandert, die Geschichten in meinen Dokumente verbindet.
## Mann mit der Kamera
[1][Dsiga Wertow, einen russischen Filmpionier], der 1929 den Stummfilm
„Der Mann mit der Kamera“ gedreht hatte, erkor ich zu meinem Vorbild. In
vielen kurzen Einstellungen erzählt er im erwähnten Film den Alltag einer
Stadt. Zusätzlich erfährt man, wie dieser Film entsteht, sieht dem
Kameramann und der Cutterin bei der Arbeit zu.
So etwas wollte ich auch machen. Darum schlüpfte ich in das Kostüm meines
Vorbilds und zeigte meinem Publikum, wie mein Fernsehspiel entsteht. Dafür
bekam ich Lob und Tadel; modern und mutig, sagten die einen, andere
meinten, ich hätte die Chance, eine saubere Geschichte zu erzählen, vertan,
und nannten den Film eine Kostümprobe.
Nun, nach fast vierzig Jahren, wird „Der Videopionier“ am Ort seiner
Entstehung wieder gezeigt.
Mit unserer Mieterarbeit hatten wir Erfolg. Die Häuser stehen noch heute,
und im Kiez leben die Menschen in guter Nachbarschaft. Ohne die aktive
[2][Unterstützung des Architekten und Stadtplaners Hardt-Waltherr Hämer]
hätten wir unsere Ziele jedoch nicht erreicht. Er war es, der unsere
Forderung: „Verbleib im Kiez zu Mieten, die wir bezahlen können“, in
fachliches Handeln umsetzte. Gustav, wie ihn alle nannten, gilt durch sein
beispielhaftes Engagement im Kiez am Klausenerplatz als Erfinder der
„behutsamen Stadterneuerung“. Sanierung, Gesundung – statt Abriss. Civita…
Bürgerschaft, neu denken, erproben, leben.
## Bilder im Krieg
Fünfzehn Jahre nach der Ausstrahlung von „Der Videopionier“ kehrte ich zu
meinen Protagonistinnen und Protagonisten von damals zurück, um
nachzusehen, wie sich das Leben weiterhin ereignet hat, und drehte für den
SFB, den Sender Freies Berlin, eine Fortsetzung mit dem Titel „Menschen und
Steine“. Das Vergehen von Zeit wird am deutlichsten sichtbar in den
Gesichtern von Menschen.
In „Menschen und Steine“ stand Gustav Hämer im Mittelpunkt. Bei den
Dreharbeiten erfüllte ich ihm einen Herzenswunsch: einmal im Hubschrauber
über Berlin zu kreisen, so auf die Stadt zu blicken, wie es ein Stadtplaner
von Berufs wegen macht. Der Planer hat eine Draufsicht, er sieht die Stadt
aus der Vogelperspektive.
Es ist Krieg! Was würde mein Vorbild Dsiga Wertow dazu sagen? [3][Im
Fernsehen sehe ich die Serie „Diener des Volkes“. Darin spielt der
ukrainische Präsident Wolodimir Selensk]i einen Geschichtslehrer mit
radikaldemokratischen Ansichten. Seine Schulklasse sorgt dafür, dass er die
anstehenden Wahlen gewinnt, um als Präsident das Land aus den Fesseln der
Oligarchen zu befreien. In seiner Rolle als Präsident erleben wir, wie er
sich gegen alle Widerstände für direkte Demokratie, Teilhabe der Ukrainer
am Reichtum des Landes, für freie Universitäten, das Recht auf
Volksabstimmungen einsetzt.
Aus heutiger Sicht kann diese Fernsehserie als eine direkte Kampfansage an
Putin verstanden werden. Putin fürchtet nichts mehr als ein Land, in dem
Demokratie und Verteilung des Reichtums Wirklichkeit sind. Solch ein Staat,
in dem fast alle Menschen Russisch sprechen, viele Familien Verwandte in
Russland haben – [4][das russische Volk unmittelbare
Vergleichsmöglichkeiten hat zwischen dem Leben in Russland und der sich
entwickelnden Demokratie in der Ukraine], kann Putin nicht gefallen. Die
Regierung eines solchen Staates muss aus seiner Sicht vernichtet werden.
Diese Serie ist in der Mediengeschichte ein Novum. Hat es je einen solchen
direkten Zusammenhang zwischen Fiktion und Realität gegeben?
## Utopie für den Kiez?
[5][Meine Filme sind auch Versprechungen]: Direkte Demokratie ist möglich.
Allerdings war es schon immer so: Mieter und Hausbesitzer sind nicht
unbedingt beste Freunde. Damals forderten wir, die Wohnungsmiete dürfe
nicht mehr als 10 Prozent vom Lohn betragen, Nulltarif für den öffentlichen
Nahverkehr und: Kleine Kinder brauchen kleine Klassen. Heute bezahlen
Mieter oft 50 Prozent ihres Lohnes als Miete, ein Bus-, U-Bahn-Ticket
kostet 3 Euro, und die Klassenstärke liegt offiziell bei 25 Kindern,
Kindergärtner:innen und Lehrer:innen fehlen.
Was kann ich also nach den Vorführungen meiner Filme Hoffnungsvolles sagen?
Habe ich eine Utopie für den Kiez am Klausenerplatz? Kann ich, so wie es
der ukrainische Präsident für sein Land fordert, für direkte Demokratie,
für eine Umverteilung des Reichtums, für sicheres Wohnen, gesicherte
Bildung, Sicherheit im Alter werben?
Bin ich resigniert? Oder lebe ich in einem kaum zu beschreibenden
Widerspruch? Für mehr Demokratie und Wohlstand für alle in Deutschland habe
ich wenig Hoffnung, zu sehr wird unser Leben von den digitalen
Weltkonzernen beherrscht. Gleichzeitig fühle ich mich in meinem
Alltagsleben von Tag zu Tag wohler – vermutlich, weil ich gelernt habe,
zwischen mir und meiner Umwelt, meiner Familie und der Wahlverwandtschaft
ein feinmaschiges Netz von positiven Energien zu knüpfen, die jeden Tag
lebenswert machen.
Heißt das, ich lebe im Hier und Jetzt? Also werde ich mit den
Zuschauerinnen und Zuschauern meiner Filme so reden, dass wir uns trotz
vieler Sorgen erfreut wahrnehmen, Gemeinsamkeiten entwickeln, jeder
angeregt nach Hause geht. Gemeinsam mit den neu gefundenen Menschen unter
dem Radar fliegen! Und Orwell?
9 Apr 2022
## LINKS
[1] /Kommentar-Kristina-Schroeders-Sprache/!5076695
[2] /Gustav-Haemer-wird-90/!5096395
[3] /Vor-den-Wahlen-in-der-Ukraine/!5580019
[4] /Russland-und-Ukraine-dekolonialisieren/!5839859
[5] /Dokumentarfilm-ueber-Gesichtserkennung/!5608694
## AUTOREN
Gerd Conradt
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Dokumentarfilm
Video
Sanierung
Stadtplanung
Schwerpunkt Überwachung
Ukraine
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