# taz.de -- Unterfinanzierung von Kitas: Kaum Herz für Kinder | |
> Gute Bildung beginnt in der Kita. Doch die sind oft unterbesetzt. Ein | |
> Lagebericht vor dem Lockdown – und was danach passieren müsste. | |
Bild: Alleine Bären zu puzzeln ist gut, betreut puzzeln ist besser: Kleinkind … | |
Als Paul, Lutz, Jule, Marie und Lenny am Frühstückstisch sitzen, dämmert es | |
draußen noch. Die Zweijährigen, die eigentlich anders heißen, mümmeln an | |
ihren Käsebroten. Sie wirken müde, ihre Augen sind klein, keines der Kinder | |
spricht. Erzieherin Marianne Walther füllt warmen Kräutertee in ihre | |
Becher, ihre Kollegin schmiert Jule ein zweites Brot. | |
Von der bundesweit knappen Personalsituation [1][in deutschen | |
Kindertagesstätten] ist in der Krippe „Torgauer Straße“ in | |
Berlin-Hellersdorf an diesem Dezembermorgen nichts zu spüren – noch nicht. | |
Wenige Minuten später muss Marianne Walther zwei Kinder am Eingang abholen, | |
weil die Eltern pandemiebedingt das Gebäude nicht mehr betreten dürfen. | |
Gleichzeitig braucht Paul auf der Toilette dringend Hilfe von Walthers | |
Kollegin. Die Zweijährigen im Gruppenraum sind auf sich alleine gestellt. | |
Glücklicherweise passiert nichts, keines der unbeaufsichtigten Kinder | |
verschluckt sich, weint oder fällt vom Stuhl. | |
Darauf zu setzen, dass gerade noch mal alles gut geht, hat System: | |
Bundesweit fehlten im Jahr 2019 mehr als 100.000 Erzieher*innen, die laut | |
[2][Berechnungen der Bertelsmann Stiftung] nötig wären, um das von der | |
Stiftung empfohlene Betreuungsverhältnis von 1:3 für unter Dreijährige und | |
maximal 1:7,5 für Kindergartenkinder umzusetzen. | |
De facto lag das Betreuungsverhältnis im Bundesdurchschnitt allerdings bei | |
1:4,2 für Krippenkinder und 1:8,9 für Kindergartenkinder. | |
Quarantänezeiten, erhöhter Krankheitsstand und Sorgeverpflichtungen der | |
Erzieher*innen führten dazu, dass sich die Lage in den letzten Monaten | |
zuspitzte. | |
## Sorge um Sicherheit | |
War der empfohlene Personalschlüssel vor der Pandemie noch Richtwert, um | |
ein förderndes Umfeld zu schaffen, sorgt sich die Hellersdorfer Erzieherin | |
Marianne Walther inzwischen schlicht um die Sicherheit der Kinder. „Ein- | |
bis Zweijährige müssen eigentlich ununterbrochen beaufsichtigt werden“, | |
sagt Walther, die schon seit 37 Jahren als Erzieherin arbeitet. Doch dafür | |
reicht das Personal nicht. Die 56-Jährige sieht keine andere Möglichkeit, | |
als Überstunden zu leisten. „Ich kann nicht nach Hause gehen, wenn ich | |
weiß, dass meine Kollegin dann zur Abholzeit alleine wäre“, sagt sie. | |
Auch jenseits der Abholzeiten hatte sich die Situation in ihrer Krippe vor | |
dem zweiten Lockdown zugespitzt. Um die üblichen Betreuungszeiten | |
beibehalten zu können, springen Erzieher*innen häufig in Nachbargruppen | |
ein. „Darunter leiden die Kinder sehr“, sagt Walther. „Gerade für die ga… | |
Kleinen ist es schwer, sich ständig auf eine andere Erzieherin | |
einzulassen.“ | |
Der Personalmangel geht auch an den Erzieher*innen nicht spurlos vorbei | |
– nicht erst seit der Pandemie. Laut einer Erhebung der OECD von 2020 | |
leidet jede dritte Fachkraft in Deutschland unter Stress, weil | |
Kolleg*innen ausfallen; jede vierte überlegt, ihren Beruf aus | |
gesundheitlichen Gründen aufzugeben. Einer Studie der Bertelsmann Stiftung | |
zufolge ist es für die Betroffenen besonders hart, wegen des | |
Personalmangels den Erwartungen an die eigene Arbeit nicht entsprechen zu | |
können. Viele Erzieher*innen beobachten an sich selbst, dass sie | |
weniger Empathie für die Kinder haben, nicht mehr auf ihre emotionalen | |
Bedürfnisse eingehen oder autoritär auftreten. | |
„Es ist eine [3][zusätzliche psychische Belastung], wenn dann auch noch | |
Personen ohne ausreichende Qualifikation in die Einrichtung kommen, sagt | |
Kathrin Bock-Famulla, die den Bereich frühkindliche Bildung bei der | |
Bertelsmann Stiftung leitet. Zudem ist die Bezahlung schlecht. So verlassen | |
viele die Kindertageseinrichtungen, lange bevor sie in Rente gehen. | |
Für manche Erzieher*innen dürfte der erneute Lockdown seit Dezember | |
gerade zum richtigen Zeitpunkt gekommen sein. Derzeit sind die Kitas in | |
sieben Bundesländern geschlossen und bieten lediglich eine Notbetreuung an. | |
In den anderen Bundesländern ist der Regelbetrieb unterschiedlich | |
eingeschränkt, etwa durch reduzierte Betreuungszeiten oder -plätze. Die | |
Eltern werden aufgefordert, ihre Kinder – wenn möglich – zu Hause zu | |
betreuen. | |
## Wann ist Bildung gerecht? | |
Doch was Erzieher*innen eine kurzfristige Erleichterung verschaffen | |
könnte, bringt nun Familien an ihre Grenzen. „Ich bin überzeugt, dass die | |
Kita total bemüht ist“, sagte Milena Leszkowicz, als diese noch regulär | |
geöffnet hatte. Sie ist Mutter des fünfjährigen Milo und der einjährigen | |
Pela. „Trotzdem ist es gerade richtig hart.“ Sie arbeitet Vollzeit in einem | |
Start-up. Über ihren Umgang mit Job und Kindern in der Pandemie sagt sie: | |
„Man macht beides nur so halb und wird den Kindern nicht gerecht.“ | |
Zu Hause sprechen Milo und Pela polnisch und hebräisch. „Mir war es | |
wichtig, dass Pela zu ihrem ersten Geburtstag in die Kita kommt, damit sie | |
dort Deutsch lernt“, sagt ihre Mutter. „Das ist jetzt wieder verschoben“ … | |
weil ihre Kita schon nach der ersten Eingewöhnungswoche schließen musste. | |
Sprachförderung ist nur ein Aspekt dessen, was ein Bildungssystem gerecht | |
macht, damit die Muttersprache oder der soziale Hintergrund nicht [4][über | |
den Bildungserfolg entscheidet]. Es geht auch darum, den Kindern emotionale | |
Stabilität zu geben, wenn diese zu Hause fehlt, oder sie in ihrer | |
Entwicklung zu begleiten, wenn Eltern das nicht leisten können. Auch das | |
Vorlesen gehört dazu, sagt Katrin Gramckow, Leiterin der Silberstein-Kita | |
in Berlin-Neukölln. Doch von gemütlichen Leserunden sind sie in der | |
Neuköllner Kita im Dezember weit entfernt. | |
Pandemiebedingt dürfen die Erzieher*innen hier nur in einer Gruppe | |
arbeiten. Manchmal ist die Personalnot so groß, dass Kinder im Wechsel | |
betreut werden müssen: montags, mittwochs und freitags die eine Hälfte der | |
Gruppe, dienstags und donnerstags die andere. „Unter diesen Maßnahmen | |
leiden vor allem Kinder, die zu Hause nicht gefördert werden“, sagt | |
Gramckow. | |
Fragt man die Betroffenen, was ihre Situation verbessern würde, fordert | |
Walther aus Hellersdorf zum einen mehr Personal. „Mit einem guten | |
Betreuungsschlüssel könnte viel Unzufriedenheit, psychische Belastung und | |
Abgang aus dem System vermieden werden“, sagt Erziehungswissenschaftlerin | |
Bock-Famulla. Sie sieht zudem Professionalisierungsbedarf bei den Bundes- | |
und Landesministerien, die über Jahre versäumt hätten, den Personalbedarf | |
in Kitas zu prognostizieren. | |
Kita-Leiterin Gramckow findet, dass auch mehr Wertschätzung in Form eines | |
höheren Gehalts helfen würde: „Bildung beginnt mit der Betreuung der Kinder | |
im Kindergarten, deswegen sollten Erzieher*innen genauso viel wie | |
Lehrer*innen verdienen“. | |
## Viel Stress, wenig Geld | |
Das Geld fehlt nicht nur, um mehr Personal einzustellen und besser zu | |
bezahlen, sondern schon bei der Ausbildung: Viele Menschen, die sich für | |
den Beruf interessieren, dürften abgeschreckt sein davon, dass es dafür oft | |
keine Vergütung gibt und teilweise sogar Schulgeld bezahlt werden muss. Der | |
Bund stellte mit der „Fachkräfteoffensive Erzieherinnen und Erzieher“ | |
Mittel für 2.500 vergütete Ausbildungsplätze ab dem Ausbildungsjahrgang | |
2019/20 zur Verfügung. Einige Länder gaben Geld für weitere Plätze dazu. | |
Der Großteil der Auszubildenden bleibt dennoch unbezahlt. | |
Zudem stellt der Bund im Rahmen des „Gute-KiTa-Gesetzes“ für die Jahre 2020 | |
bis 2022 für Kitas 5,5 Milliarden Euro bereit. Beim Einsatz der Mittel | |
lässt der Bund den Ländern viele Freiheiten: Aus zehn Handlungsfeldern wie | |
der Verbesserung des Betreuungsschlüssels, der Praxisbegleitung von | |
Fachkräften oder Sprachförderung können Länder auswählen, wo sie | |
investieren. | |
„Das führt dazu, dass Länder wie Mecklenburg-Vorpommern die Bundesmittel | |
fast komplett in die Beitragsfreiheit stecken, während der | |
Personalschlüssel in den Kitas extrem schlecht bleibt“, sagt Bock-Famulla. | |
Laut der Gewerkschaft „Erziehung und Wissenschaft“ reicht das Geld ohnehin | |
nicht: Statt der 5,5 Milliarden für vier Jahre seien 10 Milliarden jährlich | |
nötig, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern und den Beruf attraktiver zu | |
machen. | |
Wie viele Überstunden sie in den letzten Wochen geleistet hat, lässt | |
Marianne Walther ihre Kinder nicht spüren. Beim Spiel lächelt sie | |
ununterbrochen und bleibt auch geduldig, als der sechste Becher Tee auf den | |
Fußboden kippt. „Das ist nicht schlimm, alles gut“, sagt sie mit sanfter | |
Stimme zu Paul und wischt den Tee auf. | |
21 Jan 2021 | |
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[4] /Forscher-ueber-Bildungsungerechtigkeit/!5730724 | |
## AUTOREN | |
Franziska Schindler | |
Rieke Wiemann | |
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