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# taz.de -- Forscher über Bildungsungerechtigkeit: „Wir müssen das System r…
> Soziale Herkunft und Bildungserfolg hängen nicht erst seit Corona
> zusammen, sagt Kai Maaz. Er fordert eine Diskussion über Ziffernoten.
Bild: Bildungserfolg mit Abstand: Abifeier des Berliner Rheingau-Gymnasiums
taz: Herr Maaz, Sie leiten eine Kommission der Friedrich-Ebert-Stiftung,
die Empfehlungen gegen Bildungsbenachteiligung während der Coronapandemie
entwickeln soll. Wie sehr verstärkt die Pandemie Unterschiede zwischen
privilegierten und weniger privilegierten Schüler:innen?
Kai Maaz: Im internationalen Vergleich gibt es Studien, die darauf
hindeuten, dass die Lernrückstände größer ausfallen könnten. Für
Deutschland können wir noch keine verlässlichen Zahlen liefern, inwieweit
sich diese Schieflage derzeit verstärkt. Den engen Zusammenhang zwischen
sozialer Herkunft und Bildungserfolg gibt es aber nicht erst seit Corona.
Wenn aus den Bundesländern noch keine Daten zu Lernrückständen vorliegen –
auf welcher Grundlage wollen Sie und Ihre Kommission den Politiker:innen
dann Ihre Empfehlungen aussprechen?
Der entscheidende Punkt ist, dass es seit Jahrzehnten eine [1][Schieflage
im System] gibt. Und wir haben es in den letzten Jahren trotz vieler
Bemühungen nicht geschafft, diese richtig anzugehen. Wir müssen überlegen,
wo da möglicherweise Schwachstellen waren.
Welche Schwachstellen sehen Sie denn?
Es gibt ausgesprochen gute Ideen und Projekte gegen
Bildungsbenachteiligung, die aber alle sehr punktuell und nicht miteinander
vernetzt sind. Möglicherweise ist es deshalb schwierig, dass die einzelnen
Projekte ihre Wirkung entfalten können. Und: Viele dieser Projekte setzen
an Stellen an, an denen Ungleichheiten empirisch messbar werden, etwa am
Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule. Dort entstehen die
Ungleichheiten aber nicht, das heißt, wir müssen viel früher ansetzen.
Wieso sollte es gerade in einer Zeit, in der die Schulen darum kämpfen,
halbwegs normal zu funktionieren, gelingen, die Unwucht im System zu
beseitigen?
Vielleicht ist das genau die Falle, dass wir versuchen, unter diesen
Bedingungen normal zu funktionieren. Das geht eigentlich nicht. Wir müssen
uns dieser besonderen Situation noch viel expliziter stellen. Wir dürfen
Normalität nicht vorgaukeln, wenn die schulische Praxis weit weg davon ist.
Das heißt: Raus aus dem Regelunterricht, weg von der Schule nach Plan?
Ich finde es wichtig, das System jetzt zu rütteln. Und zu schauen, wo haben
wir uns in den letzten Jahren nicht genug bewegt, wo lagen Chancen, die wir
nicht ergriffen haben. Seit der ersten Pisa-Studie sind fast 20 Jahre
vergangen. Der Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungschancen ist in
den vergangenen 20 Jahren relativ stabil geblieben. Wir können uns nicht
noch einmal 20 Jahre Stillstand leisten. Das ist auch eine Frage der
Potenzialausschöpfung, die uns nicht gelingt.
Und woran liegt das?
Möglicherweise, weil es uns nicht gelingt, mit der größten Herausforderung
im Bildungsbereich umzugehen: nämlich eine kluge Antwort auf Heterogenität
in Lerngruppen zu geben. Wenn Kinder in dieser Phase der krisenbedingten
Beschulung ungleich lernen – die leistungsstärkeren, erst recht wenn sie
aus sozial privilegierten Familien kommen, lernen vielleicht noch ein
bisschen dazu, die leistungsschwachen aus den sozial problematischen
Familien lernen noch weniger dazu – dann wird die Spreizung größer. Es ist
eine wahnsinnige Herausforderung für die Lehrkräfte, mit dieser
Heterogenität angemessen umzugehen.
Im Frühjahr leiteten Sie eine Kommission, die Empfehlungen für das
Schuljahr 2020/21 gab. Ihr Ratschlag lautete, nicht davon auszugehen, dass
dies ein normales Schuljahr wird, sondern rechtzeitig zu überlegen, wie
Lehrpläne gekürzt und Prüfungsinhalte reduziert werden können. Ist alles
nicht passiert. Sind Sie frustriert, dass die Politik nicht auf Sie hört?
Nein, das frustriert mich nicht. Sonst wäre ich ja nicht bereit, eine
weitere Kommission zu leiten. Meine Wahrnehmung ist eine andere. Die
Veröffentlichung der ersten Empfehlungen stieß auf offene Ohren, auch in
Politik und Verwaltung und in den Schulen. Dass das nicht eins zu eins
umgesetzt wird, ist völlig klar. Hier geht es eher darum, dafür zu
sensibilisieren, darüber nachzudenken, ob das Prüfen in der Breite, wie wir
es tun, wirklich zielführend ist. Vielleicht können wir mehr in die Tiefe
gehen.
Also weniger abprüfen, ohne dass der Anspruch sinkt. Wie soll das
kurzfristig funktionieren?
Man kann jetzt versuchen, pragmatische Lösungen zu finden. Pragmatisch ist
der Leitsatz: Man kann nur prüfen, was im Unterricht behandelt wurde. Und
wenn mathematische Lehrsätze jetzt nicht behandelt werden können, dann
können sie auch nicht Gegenstand von Prüfungen sein. Das muss nicht
bedeuten, dass Prüfungen einfacher werden, sondern sie fokussieren sich
dann auf bestimmte Bereiche.
Das wäre allerdings die Abkehr von bundesweit einheitlichen
Prüfungsaufgaben. Dann prüft jede Lehrkraft wieder für sich ab, was die
Klasse im Unterricht durchgenommen hat.
Ja, das ist eine [2][Gratwanderung]. Wir dürfen Errungenschaften bei der
Sicherung von Bildungsstandards nicht einfach über den Haufen werfen. Aber
es ist doch völlig einleuchtend: Wenn eine Klasse zweimal in Quarantäne
war, kann ich nicht das gleiche abzuprüfende Wissen voraussetzen wie bei
einer Klasse, die ohne Infektionsfälle durch das Schuljahr gegangen ist.
Während der Schulschließung im Frühjahr haben viele Länder eine Art Bonus
gegeben: Noten wurden nur erteilt, wenn Schüler:innen sich verbessern
konnten. Ist ein Coronabonus auch jetzt sinnvoll?
Man sollte schauen, welche alternativen Bewertungsmethoden es gibt, die
unterschiedliche Arbeitsweisen honorieren. Ich würde gern eine
grundsätzliche Diskussion über die Sinnhaftigkeit von Ziffernnoten führen.
Von Eltern kommt dann oft die Reaktion, nehmt uns nicht die Noten weg, die
sind für unsere Kinder ganz wichtig. Ich denke dann immer: Schade, es gäbe
viele andere Möglichkeiten, Kinder zu motivieren und ihre
Leistungsentwicklungen zu dokumentieren.
Zum Beispiel?
Wir hatten schon in unserem ersten Papier empfohlen, Formen des
individuellen Feedbacks zu stärken, um Kindern eine Rückmeldung zu geben,
wo sie stehen. Wenn solche Anregungen in den Diskurs kommen und die
Coronawelle überstehen, wäre viel gewonnen.
Sind Sie optimistisch, dass das passiert?
Eine Kollegin aus Rheinland-Pfalz hatte da neulich ein schönes Bild von
einem Hühnerstall. Corona hat uns erreicht wie ein Blitzschlag. Die Hühner
rennen wie wild durcheinander. Doch nach relativ kurzer Zeit sitzt jedes
Huhn wieder an dem Platz, wo es vorher saß. Und alles geht weiter wie
zuvor. Genau das darf jetzt nicht passieren. Es darf kein „Weiter so“
geben.
Welche Chancen sind es, die man jetzt ergreifen sollte?
Wir diskutieren gerade das Thema Ganztag. Es gab einen extremen Ausbau und
ab 2025 sollen Grundschüler:innen eigentlich einen Rechtsanspruch haben.
Man verbindet mit dem Ganztag immer die Hoffnung, dass er Ungleichheiten
abbaut. Es gibt aber keine durchgehend guten Ideen, wie Ganztag
kompensatorisch wirken soll. Wenn die Pädagog:innen am Nachmittag nicht
wissen, was die Lehrkräfte am Vormittag in der Schule machen, und die
umgekehrt nicht wissen, was am Nachmittag läuft, dann wird das nicht
funktionieren. Wir müssen über Qualität reden, über Konzepte und Aufgaben
und darüber, was man dafür an Personal braucht. Darüber wird aber nicht
geredet, sondern es geht hauptsächlich um Freizeit- und Betreuungsangebote.
Die Länder streiten derzeit untereinander und mit dem Bund über die
Finanzierung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung. Braucht es nicht
mehr Steuerung von oben und damit mehr Einheitlichkeit?
Ich glaube nicht, dass wir eine bundesweite Regelung für den Ganztag
brauchen. Aber wir brauchen bundesweite Standards für den Ganztag und für
die Fortbildung. Und die Länder sollten ihre Verantwortung stärker
wahrnehmen und gemeinsam überlegen, welche Modelle funktionieren und welche
nicht. Damit Eltern und Schüler:innen den Föderalismus wirklich als Stärke
und nicht nur als Durcheinander erleben.
Die Bildungsausgaben betrugen 2018 rund 218 Milliarden Euro. Das ist viel
Geld. Ist es dennoch zu wenig? Oder ist es falsch verteilt?
Wenn wir zusätzlichen Bedarf haben, ist es natürlich naheliegend, auch
zusätzlich Geld zu investieren. Aber Geld allein reicht nicht aus. Wenn es
speziell um die Förderung von leistungsschwachen Schüler:innen und Kindern
aus sozial unterprivilegierten Familien geht, dann muss der Grundsatz
gelten: Ungleiches ungleich behandeln. Das heißt, Ressourcen müssen sehr
ungleich im System verteilt und in die Förderung dieser Gruppen verstärkt
investiert werden.
Was passiert, wenn es nicht gelingt, die Chancen im Bildungssystem
gerechter zu verteilen?
Wenn ich mir im [3][Bildungsbericht] anschaue, wie sich die Gruppe
derjenigen ohne Schul- und ohne Berufsabschluss in den letzten Jahren
entwickelt hat, ist das Erschreckende, dass der Anteil unerfreulich hoch
geblieben ist. Der Anteil der Schulabgänger:innen ohne Abschluss steigt
seit 2014 sogar wieder und auch der Anteil der leseschwachen Schüler:innen
liegt heute kurz unter dem Niveau des Jahres 2000. Das ist eine der
wirklichen Baustellen. Da geht es nicht allein um Zertifikate, sondern um
Lebenschancen und die Möglichkeit, an Gesellschaft zu partizipieren. Und
wenn es uns nicht gelingt, allen diese Möglichkeiten zu eröffnen, dann ist
das meines Erachtens ein gesellschaftliches Problem.
9 Dec 2020
## LINKS
[1] /Internationale-Grundschulstudie-Timss/!5730712
[2] /Bremens-Bildungssenatorin-ueber-Corona/!5731216
[3] https://www.bildungsbericht.de/static_pdfs/bildungsbericht-2020.pdf
## AUTOREN
Anna Lehmann
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