# taz.de -- Jugend-Helferinnen über Lockdown-Folgen: „Emotionaler Kontakt is… | |
> Die Diakonie kümmert sich um Kinder sozial benachteiligter Familien. Der | |
> letzte Lockdown zeigte, dass nicht nur schulische Inhalte fehlen. | |
Bild: In einigen Hamburger Stadtteilen gingen die Kinder beim ersten Lockdown k… | |
taz: Frau Krüger, Frau Zampolin, wie erleben Sie konkret im Lockdown die | |
Situation sozial benachteiligter Familien? | |
Kristina Krüger: Was den Schul- und Kitabetrieb anbelangt, sind wir ja | |
nicht im Lockdown, sondern im [1][eingeschränkten Regelbetrieb]. Die Eltern | |
können entscheiden, ob sie ihre Kinder in die Schule geben oder ob sie zu | |
Hause unterrichtet werden. In der Kita ist es genauso. Es gibt aber den | |
deutlichen Appell, die Kinder wenn möglich zu Hause zu betreuen. | |
Wie ist Ihr Eindruck: Nehmen sozial benachteiligte Familien eher die | |
Möglichkeit wahr, die Kinder in Schule oder Kita betreuen zu lassen? | |
Claudia Zampolin: Aktuell können wir das nicht genau sagen. Unsere | |
Erfahrungen aus dem März sind, dass sich für benachteiligte Familien die | |
Situation genauso wie für alle anderen Familien dargestellt hat. Dass sie | |
beispielsweise auch Ängste vor Ansteckung in Kita oder Schule hatten. Ich | |
bin zuständig für Kinderschutz und meine Wahrnehmung ist, dass Familien, | |
die unter belasteten Situationen leben, häufiger nicht von sich aus sagen: | |
Wir brauchen den Kita- oder Schul-Platz. Es ist immer stark davon abhängig, | |
wie der Kontakt zu der Schule oder Kita ist. | |
Krüger: In Familien, in denen es etwa Sprachbarrieren gibt, sind | |
deutlichere Einladungen erforderlich, damit die Kinder weiterhin in die | |
Kita oder in die schulische Ganztagsbetreuung kommen. Insbesondere am | |
Anfang wurde nicht immer verstanden, was rund um die Pandemie passierte. | |
Ich weiß aus manchen Stadtteilen, dass die Kinder gar nicht mehr auf den | |
Straßen waren, weil die Familien so voller Angst waren. | |
Hat das zu mehr häuslicher Gewalt geführt? | |
Zampolin: Unsere Erfahrung ist, dass der Beratungsbedarf nach dem ersten | |
Lockdown in Bezug auf Fragen zu einer möglichen Kindeswohlgefährdung stark | |
gestiegen sind. Erst einmal sah es so aus, als ob es keine Zunahme gäbe, | |
aber seit dem Sommer hat sich das geändert. Die Belastungssituation ist, | |
wenn ich mit vier Kindern in einer Zwei-Zimmer-Wohnung lebe, eine andere | |
als wenn ich mit zwei Kindern in einer Vier-Zimmer-Wohnung lebe. Wir haben | |
dazu keine Studie gemacht, deshalb haben wir keine konkreten Zahlen. | |
Was bedeutet das für den Kinderschutz? | |
Zampolin: Es ist aktuell dringend notwendig, den Kontakt zu den Kindern und | |
Familien zu halten. Das ist für die Fachkräfte viel schwieriger, wenn die | |
Kinder zu Hause sind und nicht in der Schule oder Kita jeden Tag gesehen | |
werden. | |
Hat man da nicht schon aus dem ersten Lockdown heraus Ideen entwickeln | |
können? | |
Zampolin: Zu Beginn der ersten Phase haben gerade viele Familien | |
unterstützende Einrichtungen schließen müssen. Mittlerweile ist klar, dass | |
es dringend notwendig ist, eine veränderte Form der Öffnung zu ermöglichen, | |
um weiterhin mit den Familien in Kontakt zu bleiben. | |
Krüger: Viele waren sehr kreativ: Die MitarbeiterInnen sind vor die Balkone | |
der Familien gegangen, sie haben ihnen Lebensmittelgutscheine und etwas zum | |
Spielen gebracht. Sozialpädagogische Familienhilfen haben Hausbesuche | |
gemacht und andere Formen von Treffen organisiert. | |
Wie war das Echo auf solche neuen Formen des Kontakts? | |
Zampolin: Sehr gut. Es wurde wahrgenommen als: Wir werden gesehen. | |
Krüger: Viele Einrichtungen haben Ideen entwickelt, die bewahrt werden | |
sollen. Es wurden zum Beispiel Päckchen mit Spielen und Rezepten an die | |
Türen gebracht, es wurde über digitale Formate mit den Kindern gesungen, | |
Beratungen und Treffen fanden in Pavillons vor den Einrichtungen statt, um | |
zusätzlichen Raum zu schaffen. Es ist vieles möglich geworden, woran wir | |
vor einem Jahr noch nicht gedacht haben. | |
Sind die Einrichtungen dadurch für die Familien nahbarer geworden? | |
Krüger: Die offenen Angebote waren schon immer sehr flexibel. Aber es gibt | |
auch Arbeitsfelder, die überwiegend innerhalb der Einrichtungen beraten | |
haben. Für diese haben sich jetzt veränderte Wege geöffnet. Das hat den | |
Familien gut getan, Veränderung zu erleben und das die Einrichtungen | |
weiterhin für sie da sind. Daran könnte weiter angeknüpft werden. | |
Zampolin: In Bezug auf Schule wird überwiegend darüber gesprochen, wie man | |
Lernen von der Schule nach Hause transportieren kann. Aber das kann nur ein | |
Aspekt sein. Wir haben ganz klar die Erfahrung gemacht, dass das Halten des | |
emotionalen Kontaktes genauso wichtig ist. Es ist wichtig, dass die | |
Lehrkraft und wir als Jugendhilfe Kontakt zu den Familien halten. | |
Es gibt auch Stimmen, die sagen, dass das Konfliktpotenzial insofern | |
abnimmt, weil die Verpflichtungen des Alltags, die Schulanforderungen zu | |
meistern, geringer geworden sind. Erleben Sie das auch so? | |
Zampolin: Die Situation zu Hause kann prekär sein, aber natürlich kann es | |
auch einen Teil Entlastung geben – und das gilt für alle –, wenn ich nicht | |
morgens um acht Uhr an einem Ort zu sein muss, wenn ich nicht Brote für | |
mein Geschwisterkind schmieren muss, wenn ich zu Hause bleiben kann, weil | |
ich das schön finde. Es wäre jetzt eine tolle Möglichkeit, einen Blick auf | |
das Bildungssystem zu werfen und zu überlegen, was sich daraus lernen | |
lässt. | |
Krüger: Was aus unserer Sicht häufig immer noch fehlt, ist, die Perspektive | |
der jungen Menschen stärker mit aufzunehmen. Dazu gehört es zu fragen: Was | |
brauchst du, damit es dir besser geht? Der Fokus liegt aktuell oft sehr | |
stark auf der Sorge vor fehlender schulischer Bildung durch die Pandemie. | |
Der Fokus muss aber zuvorderst auch darauf liegen, mögliche Sorgen und | |
Ängste, Druck und fehlende Kontakte zu Freunden bei jungen Menschen mit | |
aufzunehmen. | |
Zampolin: Junge Menschen brauchen stabile Ansprechpersonen. Sie haben ja | |
auch Sorgen, sie kriegen ja auch mit, was in ihren Familien los ist: Dass | |
Existenzängste zunehmen, dass der Streit zunimmt. | |
15 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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