# taz.de -- Übers Union-Gefühl „Fußball wie früher“: Spielstand weiterh… | |
> Das Anzeigenhäuschen mit den Schiebetafeln im Stadion An der Alten | |
> Försterei genießt vereinsintern Denkmalschutz. Es ist ein Sinnbild für | |
> Tradition. | |
Bild: Traumjob!? Götz Geserick tauscht bei jedem Tor die Tafel im Stadion An d… | |
BERLIN taz | Der Fußballklub Union hat in den letzten Jahren einen Aufstieg | |
erlebt, der durch seine Stetigkeit langsam eine neue Sphäre erreicht. Aus | |
dem Wunder wird für einige Beobachter Gewohnheit. Das ist nicht angemessen, | |
aber Erfolge haben eben Nebenwirkungen. Zu den schönen gehört, dass | |
[1][Union] jetzt als Berlins größter Sportverein über 53.000 Mitglieder | |
zählt. Etliche von ihnen werden kaum mehr die Zeit kennen, als der Klub | |
noch als kleiner Stänkerer vom östlichen Standrand galt – gegen den | |
Hauptstadtverein, formely known as Big-City-Klub. Mittlerweile hat sich der | |
Wind gedreht, nicht Hertha BSC, sondern Union ist auf Kurs in die | |
Big-Kohle-Liga. | |
Das Interesse an Union, national wie international, ist gewaltig. Man merkt | |
es auch an den vielen Fremdsprachlern, die zum Gucken kommen. Holländer, | |
Österreicher, Schweizerinnen, Schotten, Bayern. Oft treibt sie die Frage: | |
Was ist das denn für ein Verein? Selbst im Stadion wundern sich manche | |
noch. Da singen die Fans ständig. Da rufen sie zum Auswärtsblock „Wir sind | |
eure Hauptstadt, ihr Bauern“, was sich die Bayern genauso anhören dürfen | |
wie die Charlottenburger. Oder die Kölner, nachdem es aus ihrem Block | |
zuletzt lauthals tönte: „Wir hassen Ostdeutschland“. Vielleicht dachten | |
sie, sie wären in Dresden. | |
Aber gut, im Stadion sollte man nicht alle Worte auf die Goldwaage legen | |
(bestimmte natürlich schon). Ein proppevolles Stadion, das besonders viele | |
junge, gern angetrunkene Menschen mit aufgesetzter Vereinsbrille bevölkern, | |
ist kein Safer Space für Dauersensible. Austeilen und Einstecken, so geht | |
immer noch Livefußball. Auch deshalb zieht der ja so viele Leute an. | |
Gerade die Fans im Stadion [2][An der Alten Försterei] wollen nicht nur | |
gute Fußballer sehen. Sie wollen ihren Klub als unerwarteten Eindringling | |
in die starre Oben-unten-Welt des Fußballs feiern. Und sie wollen, wie die | |
neugierigen Groundhopper, Fußball sehen, der ein bisschen wie früher ist. | |
Auf dem Platz kämpferisch und schnörkellos, auf den Rängen retro heimelig: | |
Gucken im Stehen, Bier trinken zu halbwegs günstigen Preisen, Beschallung | |
zum Hinhören (New Order, Ärzte, Sporti). | |
## „Professionelle Feuerwerkstechnik“ | |
Und obendrauf eine Prise Ostcharme. Nicht im Musikprogramm vor dem Spiel, | |
eher im Kommerzbereich. Auf den Werbebanden findet man das Konsum-Hotel | |
Oberhof oder den [3][Polenmarkt Hohenwutzen]. Letzterer mit dem völlig | |
ernst gemeinten, aber im Pyroverbots-Zusammenhang auch lustigen | |
Angebotszusatz „Professionelle Feuerwerkstechnik“. | |
Am auffälligsten jedoch ist die Reklame für die [4][Eberswalder Wurst], ein | |
altes Ostprodukt, das nicht nur einen guten Ruf als Stadionbratwurst | |
genießt. Es dürfte auch die vielleicht berühmteste Regionalostmarke der | |
Welt sein, denn sie ist seit dem international beachteten Aufschwung des 1. | |
FC Union medial omnipräsent. | |
Das liegt daran, dass ihr Logo und Claim „Richtig gut, die Wurst“ auf dem | |
Dach eines Backsteinhäuschens prangt, direkt über der Spielstandanzeige. | |
Von den Fernsehkameras wird es auch bei 0:0-Ständen gern anvisiert, weil | |
die Anzeige so uralt ist, dass dafür das Wort analog schon zu neuzeitlich | |
klingt. Eigentlich handelt es sich nur um zwei Ziffertafeln, die am Gemäuer | |
in Schienen links und rechts der Fenster stecken. Darüber die Worte „1. FC | |
Union“ sowie „Gast“. | |
Die Butze befindet sich genau in der Ecke zwischen Waldseite, der | |
Ultra-Tribüne, und Gegengerade, der Hauptstehtribüne des Stadions. Wie ein | |
steinernes Monument einer vergangenen Zeit steht sie mitten im wogenden, | |
lauten Pulk der Fanmassen, aus dem, wie in allen anderen Stadien der Welt, | |
jede Menge Handybildschirme hervorscheinen. Das bekannteste Stück Stadion | |
An der Alten Försterei wirkt so einmalig in der digitalisierten Jetztzeit, | |
dass es in keinem TV-Bericht über Union fehlt. | |
## In der halben Welt ein Hit | |
Durch die Auslandsvermarktung der Bundesliga ist die Anzeigenbude aus | |
Köpenick in der halben Welt zum Hit geworden. Überall wo Dokumentationen | |
und Bilder über die Bundesliga laufen, sieht man, wie sich ein Mann durch | |
das Fenster eines alten Häuschens beugt, um nach Toren eine Ziffertafel | |
auszutauschen. | |
Ja, sagt Götz Geserick, der Anzeigenmann, das hätte er schon mitgekriegt. | |
„Aus Vietnam und aus Ägypten haben mir schon Unioner geschrieben, dass sie | |
mich da im Fernsehen gesehen haben.“ Geserick ist einer von zwei | |
Tafelschiebern und derjenige, der am linken Fenster (aus Spielfeldsicht) | |
für die Heimtor-Tafel zuständig ist. Vor Kurzem hat die Londoner Times | |
einen Artikel über ihn geschrieben. | |
Eigentlich mag er es nicht, wenn Union-Geschichte am Beispiel seiner Person | |
vermittelt wird. Obwohl das in mehrfacher Hinsicht gut geht. Der gelernte | |
Drucker ist seit 1978 Union-Mitglied, war 1981 Mitgründer des | |
Unionfanliga-Teams VSG Wuhlheide 79 und kam 1985 auch beruflich als | |
Platzwart zum Verein. In jener Zeit betrat er auch das erste Mal das | |
Anzeigenhäuschen, das damals wohl kaum anders aussah als heute. | |
Das Kabuff wirkt drinnen noch stärker aus der Zeit gefallen als draußen. | |
Auf den wenigen Quadratmetern Raumfläche gibt es einen ranzigen | |
Sprelacarttisch, ein paar olle Stühle, einen alten Elektroheizkörper. Und: | |
kein Klo – weshalb man sich das mit einem Bier zum Spiel gut überlegen | |
muss. „Du kannst ja nicht während des Spiels zum Pinkeln rausrennen und | |
dann fällt gerade ein Tor, das angezeigt werden muss.“ | |
## Ganz früher heißt Ostzeiten | |
Oder angezeigt und wieder revidiert werden muss. Seit auch in Köln in einem | |
Kabuff Leute sitzen, die auf Monitore starren und Videobeweise ermitteln, | |
werden ja öfter Tore nach gefühlt zehn Minuten wieder zurückgenommen. | |
Die weißen Tafeln mit den schwarzen Zahlen, die längst weit über Köpenick | |
hinaus berühmt sind, lehnen in zwei Stapeln an der Wand. Sie sehen etwas | |
abgenutzt aus. „Kann sein, dass die noch von ganz früher sind“, sagt | |
Geserick. Ganz früher heißt Ostzeiten, als Union im Fahrstuhl zwischen | |
Oberliga und Zweiter Liga pendelte und das Stadion kein Dach hatte. Bis auf | |
die kleine Haupttribüne und das Anzeigenhäuschen. | |
An sein erstes Tor als Tafelschieber in den Achtzigern kann sich Geserick | |
nicht erinnern. Dafür an die oft volle Hütte, wenn sie im Winter von | |
mehreren Fans als wettergeschützter Ausguck genutzt wurde. Und weil sie | |
auch noch als heimliches Getränkelager diente, hätten sich schon mal an die | |
acht Langhaarige dort bei den Spielen gedrängt, so Geserick. Bis das der | |
Sportstättenobermeister von Ostberlin mitbekam und meinte: So jeht’s ja nu | |
nich, Leute. Saufen und jubeln könnt ihr auch woanders. | |
Nach der Wende war es mit der Gemütlichkeit erst mal vorbei. Wie alle | |
musste Götz Geserick gucken, wie es überhaupt weitergehen könnte. Immerhin | |
fiel er als Angestellter des Stadtbezirks nicht in die Arbeitslosigkeit. | |
Damit ging es ihm allemal besser als dem Verein, der ziemlich durch die | |
Neunziger schlingerte. Die Anzeigetafel blieb stabil. Für eine | |
elektronische Anlage fehlte ohnehin das Geld. | |
## Dieses Union-Ding hat ihn immer gereizt | |
Durch eine Rettungsaktion für Union kam Götz Geserick noch zu einem anderen | |
Nebenjob. Zwecks finanzieller Entlastung des Vereins wurde die Produktion | |
des Stadionhefts von einer teuren Agentur abgezogen und in die Hände von | |
Unionfans gelegt. Auch bei diesem Freiwilligenkollektiv von Fans, die sich | |
als „PROGRAMMierer“ ehrenamtlich um die Erstellung des Hefts kümmern, ist | |
Götz Geserick von Anfang an dabei. Selbermachen, statt rumjammern, dieses | |
Union-Ding hat ihn immer gereizt. | |
Dass der heute 60-Jährige irgendwann wieder im Anzeigenhäuschen landete, | |
geschah eher durch Zufall und fast zeitgleich mit dem Bundesligaaufstieg. | |
Das erste Spiel gegen RB Leipzig war noch bitter: 0:4 gegen die Dosen. Das | |
zweite gegen Dortmund, ein 3:1, brachte den Wahnsinn in Gang. Bis zum | |
abrupten Stopp durch Corona. „Bei den Geisterspielen konnte ich zwar im | |
Stadion sein, die Tore mussten ja angezeigt werden, aber das war schon | |
ziemlich bizarr“, sagt Geserick. | |
Danach wurde es wieder positiv irre, weil sich Union gleich zwei Mal in | |
Folge fürs das internationale Geschäft qualifizierte. Götz Geserick, der | |
eiserne Fan, reiste zu allen Auswärtsspielen. Bei den | |
Europa-League-Heimspielen in dieser Saison stand er im Anzeigenhäuschen. Am | |
schönsten hat ihn das Spiel gegen Ajax, den Renommierklub aus Amsterdam, | |
gefordert: Gleich Tafel 1, 2 und 3 in die Schienen auf der Union-Seite | |
schieben zu können, unglaublich. | |
In solchen Momenten steht er am offenen Fenster, umtost von Fangesängen und | |
natürlich „Eisern! … Union!“, dem ikonischen Wechselgesang zwischen | |
Waldseite und Gegengerade. Es fühlt sich an wie beim Rockkonzert in der | |
ersten Reihe, nur dass er auch noch in einer Art Loge mittendrin steht. | |
Götz Geserick sieht seine Rolle als Tafelschieber auch als Sinnbild für das | |
Analoge in der schnelllebigen Digitalwelt. „Es verkörpert schon eine | |
gewisse Symbolik. Für das Stadion, für Union, finde ich. Während drum herum | |
vieles neu und anders wird, manchmal viel schneller und in eine Richtung, | |
die man nicht unbedingt gutheißt, gibt’s mittendrin aber immer noch etwas, | |
was bleibt. Ein bisschen Beständigkeit, wenn die Modernisierungsspirale | |
sich mal wieder besonders schnell dreht.“ | |
Und wenn das neue Stadion An der Alten Försterei bald wachsen werde, dann | |
um das kleine Anzeigenhäuschen herum. „Auch das zeigt, dass der Verein | |
bestimmte Traditionen und Werte achtet, die uns allen bei Union immer | |
wichtig waren und die bewahrt werden sollen“, sagt Geserick. Ob er selbst | |
dann noch als Tafelschieber in der Loge steht, die besser ist als jeder | |
VIP-Ausguck auf der Tribüne gegenüber, ist Götz Geserick ziemlich egal. | |
Sonst geht er eben wieder auf den Platz in der Menge – direkt neben dem | |
Häuschen, wo er früher schon stand. | |
Transparenzhinweis: Der Autor ist selbst Schreiber der Seite [5][„Sound des | |
Fußballs“] im Stadionheft | |
12 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.fc-union-berlin.de/de/ | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Stadion_An_der_Alten_F%C3%B6rsterei | |
[3] https://www.hohenwutzen.de/ | |
[4] /Brandenburg-laedt-zur-Landpartie-ein/!5856879 | |
[5] https://www.wir-union-vereint-podcast.de/2020/04/17/05-der-sound-des-fussba… | |
## AUTOREN | |
Gunnar Leue | |
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