# taz.de -- US-Journalistin Jodi Kantor über #MeToo: „Der Kampf wird dauern�… | |
> Jodi Kantors Recherchen über Hollywood-Produzent Harvey Weinstein haben | |
> zu #MeToo beigetragen. Nun erscheint ihr Buch darüber auf Deutsch. | |
Bild: Presse außerhalb des Gerichts in New York, wo Harvey Weinstein im Februa… | |
taz am wochenende: Frau Kantor, in Ihrem Buch „She said“ führen Sie uns | |
zurück an den Ursprung der #MeToo-Bewegung. Ihre Mitautorin Megan Twohey | |
sagte mal, sie habe bei den Recherchen über Weinstein an ihre eigene | |
Tochter denken müssen, an die Töchter von Ihnen beiden. Werden unsere | |
Töchter nach [1][#MeToo] seltener mit sexuell aufgeladener Macht | |
konfrontiert sein? | |
Jodi Kantor: Alles hat sich verändert, und zugleich hat sich nichts | |
verändert. Dieselben Systeme und Strukturen, die dies lange ermöglicht | |
haben, existieren weiter. Frauen setzen weiter täglich ihre Unterschrift | |
unter geheime Stillhalteverträge. Das Land hat für Donald Trump gestimmt, | |
selbst nachdem Megan und ich eindeutige Anschuldigungen gegen ihn erhoben | |
hatten. Und die meisten Sorgen müssen wir uns darüber machen, ob sich etwas | |
für die Niedrigverdienerinnen ändert, für die Frauen, die bei McDonald’s | |
Cheeseburger machen und von ihren Chefs schikaniert und bedrängt werden. | |
Aber Sie selbst sprachen einmal von einer „seismischen Veränderung“ durch | |
die Recherchen. Glauben Sie vielleicht doch daran, dass diese nächste | |
Generation nicht mehr alles einfach so unterschreiben wird? | |
Ich kann mir vorstellen, dass unsere Töchter sich in ein paar Jahrzehnten | |
mit unseren Enkelinnen hinsetzen und die dann sagen: „Oh Gott, ich kann | |
nicht glauben, dass ein solches Verhalten jemals akzeptiert wurde“, oder | |
„Mama, das ist so von vorgestern. Wie konnten Leute so etwas bloß in | |
Ordnung finden?“ Oder ich kann mir vorstellen, dass sie auf Reisen | |
bemerken: „Doch, ja, dieser Mist passiert ständig.“ | |
Als uns klar wurde, dass wir ein Stück dieser Geschichte in den Händen | |
hielten, wollten wir zeigen, dass Fakten sozialen Wandel auslösen. Wir | |
wollten die LeserInnen mitnehmen auf unsere Reise und ihnen die hinter | |
verschlossenen Türen geführten Gespräche und die Treffen mit | |
Schauspielerinnen und geheimen Quellen präsentieren, ebenso Weinsteins | |
Vorgehen gegen uns vor der Publikation. Wir dachten, wir können etwas | |
Allgemeineres über die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels aussagen – | |
dass es dafür nicht nur starke Institutionen, sondern auch die | |
Entscheidungen Einzelner braucht. Um den Lauf der Geschichte zu verändern, | |
war es nötig, dass diese Frauen sich schließlich zur Aussage entschlossen. | |
Ihr Buch zeigt, dass Frauen, wenn sie sich dem investigativen Stoff | |
zuwenden, andere Themen recherchieren als Männer... | |
Für mich heißt investigativer Journalismus vor allem, Geschichten zu | |
erzählen, die zuvor niemand erzählt hat. Auch deshalb haben wir das Buch ja | |
„She said“ genannt, weil wir die Dinge anders sehen. | |
… und wenn wir von unterschiedlichen Perspektiven reden: Verstehen Männer, | |
dass es bei all dem wirklich auch um Macht geht, Macht über Frauen? | |
Das war eine der wichtigsten Lektionen aus unserer Arbeit – und die, die am | |
wenigsten auf der Hand lag: Viele glaubten, es gehe um Sex. Ich hatte mit | |
einer Reihe von Hollywoodstars zu tun, die ich intensiv bearbeitet habe, | |
dass sie öffentlich aussagen. Dazu gehörte [2][Gwyneth Paltrow], die das | |
für den ersten Artikel ablehnte. Aber für den zweiten war sie dazu bereit, | |
auch wenn sie für ihren Entschluss länger brauchte. Sie sorgte sich vor der | |
Veröffentlichung und sagte mir: „Jodi, das wird als Promi-Sex-Skandal | |
dargestellt werden, und mir graut es vor wochenlangen Schlagzeilen über | |
mich und Harvey Weinstein und Sex.“ | |
Ich konnte gut verstehen, wie es sich für sie angefühlt hat. Mein Ziel war, | |
ihr zu beweisen, dass sie Unrecht hatte. Mein Argument war, dass der | |
Artikel eine sehr ernsthafte Diskussion auslösen würde, in der wir die | |
Möglichkeit hatten, dass die Leute sich nicht auf die anzüglichen sexuellen | |
Details konzentrieren, sondern auf die damit verwobene Frage der Macht. Was | |
alle Opfer Weinsteins gemeinsam hatten ist, dass sie eine Chance bekommen | |
wollten. Sie waren jung, und sie wollten an der Action teilhaben, wollten | |
an einem aufregenden Arbeitsplatz tätig sein und sich dort beweisen, sei es | |
als Schauspielerin oder als Assistentin. Sie wollten eine Chance. Und | |
Weinstein hat das ausgenutzt und sie manipuliert. Und je mehr wir | |
recherchiert haben, desto mehr waren wir davon überzeugt, beweisen zu | |
können, dass es hier um Macht geht. | |
War das der einzige Grund für die Frauen, Stillschweigen zu bewahren: die | |
Angst, in einer solchen, auch von Sex handelnden Geschichte genannt zu | |
werden? | |
Es gibt so viele gute Gründe, nicht für eine Story wie diese on the record | |
zu gehen. Heute, drei Jahre später, wissen wir, wie es ausgegangen ist, | |
aber damals gingen diese Frauen ein enormes Risiko ein. [3][Ashley Judd] | |
setzte ihre Karriere aufs Spiel, als sie als erste Schauspielerin | |
öffentlich gegen Harvey Weinstein aussagte. Wir wussten nicht, ob die | |
Öffentlichkeit darauf reagieren würde. Würde es jemanden kümmern? Mit | |
welchen Mitteln würde Weinstein zurückschlagen? | |
Die berühmten Frauen dachten sich: „Oh mein Gott. Ich bin so berühmt. | |
Alles, was ich mache, wird genau beobachtet. Ich habe so viele Projekte | |
geplant. Andere Leute hängen von mir ab, ich kann das nicht unter meinem | |
Namen machen.“ Und die Frauen, die nicht bekannt waren, etwa viele frühere | |
Assistentinnen Weinsteins, dachten sich: „Ach Jodi, ach Megan, ich habe | |
weder viel Geld noch andere Mittel. Niemand kennt meinen Namen. Das wird | |
immer als erstes in Suchresultaten auftauchen, wenn jemand im Netz nach mir | |
sucht. Ich weiß nicht, ob ich das wagen kann.“ Und das Wunder ist, dass | |
diese Frauen ihre Furcht überwanden und es dann doch gemacht haben. | |
Die Medienbranche ist ja selbst nicht frei von den Vorgängen, über die Sie | |
geschrieben haben. | |
Gewiss. Vieles wurde berichtet, und es gibt noch manches, wovon wir nichts | |
wissen. Ich weiß nicht, ob das in Deutschland genau so ist, aber was #MeToo | |
in den USA so wirkmächtig gemacht hat, ist, dass viele der in dem | |
Zusammenhang beschuldigten Männer eine wichtige Rolle als kulturelle | |
Vermittler spielten. [4][Roger Ailes], Bill O'Reilly, Mark Halperin, | |
Garrison Keillor, Matt Lauer, Charlie Rose. Das waren alles große Namen im | |
Journalismus, sie haben Präsidentschaftsdebatten moderiert. Sie waren die | |
prägenden Erzähler unseres Alltags und unserer Geschichte. Und Weinstein | |
gehörte dazu. Er erzählte Geschichten auf der Kinoleinwand. Teil der | |
Abrechnung, um die es auch in „She Said“ geht, war: Wer darf die | |
Geschichten erzählen? Wer definiert, was passiert ist? Wer darf definieren, | |
was die Nachricht ist? | |
Bald sind es vier Jahre Trump, „Black Lives Matter“ ist groß geworden, die | |
Covid-19-Pandemie wütet. Hat sich die seismische Erschütterung | |
abgeschwächt? | |
Ich glaube das nicht, denn jeden Tag werden neue Artikel veröffentlicht. | |
[5][Jeffrey Epstein ist immer noch eine Riesenstory] in den USA. Dann geht | |
es derzeit um die Turnerinnen, seit die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs | |
gegen Larry Nassar, den Teamarzt in Michigan, öffentlich wurden. [6][Aber | |
es geht um das gesamte Sport-Business]. Und es geht um unsere Arbeitsplätze | |
allgemein, das Machtgehabe, die Kultur des Missbrauchs und der Misogynie | |
dort, nicht nur um Sex. Der Schock, der die USA aufgerüttelt hat, hängt | |
auch mit all diesen Dingen zusammen. Es geht darum, wer sich sicher fühlen | |
kann und wer mit Respekt behandelt wird. Ich glaube also nicht, dass die | |
Aufmerksamkeit nachgelassen hat und niemand mehr hinhört. Aber die große | |
Frage ist, was an die Stelle der alten Regeln über Sex und Macht tritt. | |
Nach all dem Missbrauch brauchen wir neue Leitlinien, wie man sich verhält, | |
ohne andere zu verletzen oder seine Macht zu missbrauchen. Es ist ein | |
Kampf, und es wird dauern, bis wir da zu einer Lösung kommen. Aber so fühlt | |
sich sozialer Wandel eben an. | |
In der taz gab es in diesem Sommer [7][eine harte Auseinandersetzung | |
zwischen den journalistischen Generationen], um journalistische Prinzipien | |
und Objektivitätsbegriffe. In der New York Times gibt es einen | |
vergleichbaren Konflikt: Ihre ehemalige Kollegin Bari Weiss twitterte über | |
[8][„den Bürgerkrieg zwischen den (meist jungen) durch BLM,Aufgewachten' | |
und den (meist über 40-jährigen) Linksliberalen“]. Findet so der | |
gesellschaftliche Wandel statt – auch in unseren Publikationen? | |
Ich glaube, dass mein Blick darauf ganz anders ist als Baris. Sie schrieb | |
Meinungbeiträge. Ich glaube nicht, dass sie je [9][im Newsroom der New York | |
Times] gearbeitet hat. Ich habe inzwischen fast 20 Jahre in so etwas wie | |
einer der Herzkammern der Zeitung zugebracht, habe über | |
Präsidentschaftsdebatten geschrieben, war investigative Journalistin. Nach | |
meiner Erfahrung gibt es in der Times eine ständige Debatte, wie wir das, | |
was geschieht, wahrheitsgemäß darstellen. Wie bleiben wir fair gegenüber | |
vielfältigen Perspektiven, ohne in eine Art moralischen Relativismus zu | |
verfallen? Wie sehen wir das Land und die Welt und stellen beide korrekt | |
dar, in einer Zeit, in der alles zu zerbrechen scheint? | |
Ich weiß nicht, ob Sie in Ihrer Arbeit je das Gefühl hatten, dass die | |
schwierigsten Dinge auch die besten sind. Aus all den Geschehnissen um uns | |
herum destilliert man Zeilen auf einer Zeitungsseite – das ist das | |
tägliche, stündliche, minütliche Wunder des Zeitungsmachens. Dahinter aber | |
liegt der für Fehler anfällige, unordentliche menschliche Prozess: dahin, | |
die Dinge so klar wie möglich zu sehen. In unserem Buch wird deutlich, | |
warum meine Sichtweise sich von der Baris unterscheidet. Ich habe die New | |
York Times als einen gesunden, starken, diversen und aufgeschlossenen, | |
intellektuell ehrlichen Ort erfahren. | |
Ich kann mir kaum vorstellen, dass es bei Ihnen nicht auch einen | |
Generationenkonflikt über die Frage gibt: Was ist Journalismus? Wie viel | |
Subjektivität gehört zum Journalismus? | |
Selbstverständlich sehe ich, dass es große Generationenkonflikte gibt, mit | |
denen sich Zeitungen jeden Tag konfrontiert sehen. Aber das hat bei meiner | |
und Megans Arbeit keine besonders große Rolle gespielt, weil wir von dem | |
Grundsatz ausgehen, dass Tatsachen soziale Veränderungen anstoßen. Wären | |
wir wie Aktivistinnen an Harvey Weinsteins Geschichte herangegangen, hätten | |
wir etwa am Ende unseres ersten Artikels einen kursiven Zusatz angefügt: | |
„Um Geld an eine Organisation gegen sexuellen Missbrauch zu spenden, finden | |
Sie hier weitere Informationen …“ oder so ähnlich – das hätte dessen | |
Wirkung sehr geschwächt. Denn die Wirkung entsteht ja dadurch, dass wir nur | |
an den Fakten interessiert sind. | |
Wir wollen keine globale Abrechnung auslösen. Wir bringen nur zuvor | |
verborgene Tatsachen auf den Tisch, damit die Gesellschaft darüber | |
debattieren kann. Wir sagen den LeserInnen, dass es auf ihre Reaktion | |
ankommt, und nicht auf unsere Meinung. Und ich bin auch überzeugt: Wenn man | |
es richtig macht, dann kann man mit dieser Herangehensweise gewaltigen | |
Wandel auslösen. Für mich als Journalistin ist der wirksamste Aktivismus, | |
offenen Aktivismus zu vermeiden – und sich auf die Fakten zu konzentrieren. | |
Aus dem Englischen von Stefan Schaaf | |
20 Aug 2020 | |
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Barbara Junge | |
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