# taz.de -- These zur toxischen Männlichkeit: Krieg ist das Ding mit Gemächt | |
> Das Auffahren von Militärfahrzeugen mit phallischen Kanonenrohren an der | |
> als weiblich konnotierten Ukraine ist obszön. | |
Bild: Russische Panzer kehren nach Militärübungen zu ihren ständigen Stützp… | |
Im Tierreich rüsten die Männchen auf, um Weibchen zu erobern. Sie | |
demonstrieren Stärke, Kraft, lautes Geschrei. Manche singen in hohen Tönen, | |
manche sehen rot. Sie zeigen ihre Eier, ihre Kampfbereitschaft, ihr | |
Gemächt. Das ist, was Russland tut. Seine Eier sind aus Stahl. Sein Sperma | |
ist Schwarzpulver. | |
[1][150.000 Soldaten] mit schwerem Gerät hat Russland an die Grenze zur | |
Ukraine verlegt. Laut [2][US-Geheimdiensten] reicht das, um siegesgewiss in | |
die Ukraine einzumarschieren und die Regierung dort zu stürzen, was | |
[3][eines der Szenarien] ist. | |
In endlosen Kolonnen fahren russische Militärfahrzeuge und Panzer an der | |
2.295 Kilometer langen russischen Grenze zur Ukraine auf. Und an der 1.084 | |
Kilometer langen zwischen der Ukraine und Belarus, denn [4][auch Belarus | |
ist involviert]. Von drei Seiten bedrängt Russland sein Nachbarland. | |
Die demonstrierte Macht der Panzer mit ihren phallischen Kanonenrohren und | |
der Kampfflugzeuge mit ihren geschürzten Schnauzen wirkt obszön. Sie | |
richten sie auf die Ukraine; Ukrayina. In Sprachen mit grammatischem | |
Geschlecht ist die Ukraine weiblich. Die Ukraine also – aber selbst wenn | |
das Land die Frau ist, ist dies kein Freibrief, sie mit Gewalt zur | |
Vereinigung zu zwingen: „[5][Nein heißt Nein.]“ | |
Auch im Tierreich wird vergewaltigt. Also gilt der Vergleich vom Anfang des | |
Textes. „Häufig attackieren die Männchen die Weibchen in Gruppen, was | |
dramatische Folgen haben kann“ – für manche Weibchen gar tödliche. So ist | |
es [6][auf der Webseite der ARD-Sendung „Planet Wissen“] zu lesen. Delfine, | |
Fledermäuse, Stockenten sind auf Gang-Bang aus. | |
Bereits mehrfach wurde die Ukraine bezwungen. Befragen Sie die neuere | |
deutsche Geschichte. Und die russische. Beide Länder haben sich die Ukraine | |
zeitweise einverleibt. Unsere Urgroßväter, Großväter, Väter haben das Land | |
erobert und vergewaltigt. Im Wörtlichen und Übertragenen. „We live in | |
Bloodland“, wir leben im Blutland, sagte die ukrainische Autorin Hanna | |
Hrytsenko, die zu Faschismus und der neuen Rechten forscht, als sie mich | |
im vergangenen Herbst durch die [7][Schlucht von Babyn Jar] führte, diesen | |
Ort, wo die Deutschen im Zweiten Weltkrieg Hunderttausende erschossen. | |
Vor Jahren habe ich meinen inzwischen verstorbenen Vater, der | |
Wehrmachtssoldat war, auch im Osten, gefragt, ob er im Krieg vergewaltigt | |
hat. „Nein. Aber einmal hätte ich gekonnt, nur war ich zu besoffen.“ | |
Wenn ich das erzähle, wird mitunter mit Unverständnis reagiert: „Warum | |
willst du das wissen?“ Und: „Was hast du davon?“ – Ja, was? Wie anders … | |
durch Fragen, komme ich seiner Wirklichkeit näher? Ich bin eine Frau. Ich | |
will nicht vergewaltigt werden. | |
Die Panzer, die Russland auffährt, die Kanonenrohre, die Putin zeigt, in | |
ihrer Obszönität sind sie im Grunde lächerlich, wenn sie nicht so sehr die | |
Integrität derer, die sie als Beute auserkoren haben, verletzen würden. | |
Mich erinnert das an den Mann, der auf einem weitgehend leeren Bahnsteig | |
einer Berliner U-Bahn steht. Nur er und ich. Er trägt einen Mantel; die | |
Hände in den Taschen. Es ist sein unruhiger, nach allen Seiten gehender | |
Blick, der irritiert; er checkt die Umgebung. Langsam kommt er näher. | |
Plötzlich schiebt er mit den Händen, die er in den Taschen hält, als wolle | |
er sogleich eine Waffe ziehen, und das tut er ja auch, den Mantel | |
auseinander und richtet seinen stehenden Schwanz auf mich. Seine Jeans | |
ausgeschnitten rund ums Gemächt. „Du Drecksau!“, brülle ich: „Ich will … | |
Kanonenrohr nicht sehen.“ Da kommt Gott sei Dank die U-Bahn. Krieg ist das | |
Ding mit Schwanz. | |
## Krieg, Faschismus, toxische Männlichkeit | |
Der Literaturwissenschaftler Klaus Theweleit beschäftigt sich mit dem | |
Zusammenhang zwischen Krieg, Faschismus und toxischer Männlichkeit. | |
„Männerphantasien“ heißt sein bekanntes Buch. Letzten Herbst hat er bei d… | |
Verleihung des Adorno-Preises in der Dankesrede einen Satz seiner Frau | |
zitiert: „Männer werden zivilisiert durch Frauen; egal wo auf der Welt.“ Im | |
Umkehrschluss heißt das: Wer nicht zivilisiert werden will, muss Frauen | |
bekämpfen. | |
Aber so einfach ist es auch nicht, diesen Satz mir nichts dir nichts auf | |
die Ukraine zu übertragen. Denn das würde bedeuten, dass dort nicht auch | |
Männer wären, die kämpfen wollen – und es in der Ostukraine seit Jahren | |
tun. Prorussische Separatisten und ukrainische Streitkräfte bekriegen sich | |
dort. Nur geht es in diesem Text nicht um Stellungskämpfe, hier geht es um | |
die Obszönität der russischen Militärinszenierung. | |
Alles hängt mit allem zusammen. So wie der Armeeaufmarsch rund um die | |
Ukraine derzeit stattfindet, ist es wie ein Déjà-vu. [8][Die Filme] der auf | |
gefrorenem, leicht schneebedecktem Boden auffahrenden Kriegsmaschinerie | |
wirken durch das winterliche Schwarz-Weiß der Umgebung wie die | |
Schwarz-Weiß-Filme der Wehrmacht. Die gleiche donnernde Martialität. Auf | |
gleiche Weise wird Stahl und Metall, wird gepanzertes Gefährt und | |
tonnenschweres Gerät, wird Manpower und Testosteron in Szene gesetzt. Es | |
wirkt wie ein Rückgriff ins letzte Jahrhundert. In Europa aber wurde genug | |
Krieg geführt. Niemand will das mehr. Niemand will versehrte Menschen, | |
zerstörte Städte, sinnlose Tote. Krieg ist das Ding mit Bart. | |
Werden in diesem Jahrhundert Orte zerstört und Menschen getötet, liegt es | |
nicht am Krieg, sondern an der zivilen Zerstörung im Frieden. Die | |
Erderwärmung ist der Killer. Dass sich die Erde erwärmt, hat mit einer | |
ähnlichen Maschinenverliebtheit zu tun, wie die stahlhelmbesoffene | |
Kriegsmaschinerie im letzten Jahrhundert. Trotzdem sind die | |
Herausforderungen jetzt andere. Es geht nicht um Eroberung einzelner | |
Länder, von Putin begründet aus Sicherheit; es geht um die Rückeroberung | |
sicherer Lebensbedingungen für alle. Krieg zwischen Ost und West macht | |
unter den Bedingungen keinen Sinn. Beide Blöcke brauchen den Planeten. | |
Aus einem weiteren Grund ist die militärische Machtdemonstration von | |
Russland wie aus der Zeit gefallen: Denn auch das Verhältnis zwischen | |
Männern und Frauen hat sich verändert. Heute ist es möglich, die | |
Gewaltstrukturen zwischen den Geschlechtern öffentlich zu diskutieren. Und: | |
Männer hören zu, wenn Frauen sprechen. Nicht alle, aber immer mehr. Sein | |
Gemächt auf eine Frau richten? Gesellschaftlich ist es kein Kavaliersdelikt | |
mehr, sondern ein No-go. | |
Annalena Baerbock, „[9][diese junge Dame], die unsere neue Außenministerin | |
ist“, wie Christoph von Marschall vom Tagesspiegel sie patronierend in | |
einem Fernsehinterview titulierte, habe sich, als sie das umkämpfte | |
Separatistengebiet in der Ostukraine besuchte, „nicht besonders wohl“ | |
gefühlt. Man sehe, „dass das nicht ihre Welt ist“, meint er. Wessen Welt | |
das Kämpfen aber ist, insinuiert sein Statement: die der Männer. | |
Diese Frau Baerbock aber sagte einen bahnbrechenden Satz beim Staatsbesuch | |
in Ägypten, der von keinem Außenminister je kam: „[10][Nur wo eine Frau | |
sicher ist, sind alle Menschen in einer Gesellschaft sicher.“] | |
Baerbock ist kaum im Amt, schon ist sie mit einem brandgefährlichen | |
Konflikt konfrontiert, in dem Männer ihre geschwollenen Kämme zeigen. Was | |
macht sie? Sie deutet, wenngleich in einem anderen Krisengebiet, dem in | |
Nahen Osten, mit dem Finger auf Zusammenhänge, die im Kriegsdiskurs so | |
nicht vorkommen. Und sie redet. Redet, wie andere auch, mit allen am | |
Konflikt Beteiligten. Denn der Faden darf nicht abreißen. Konfliktlösung | |
hat viel mit Gespräch zu tun und nicht damit, zur Waffe zu greifen. | |
Scheherazade hat es vorgemacht, als sie redete, bis der Aggressor, ihr | |
eigener Mann, davon abließ, sie umzubringen. Sie hat von anderen | |
Situationen berichtet, in denen Probleme mit Klugheit pariert wurden, um | |
ihn aus seiner Fixierung, dass all seine Frauen untreu seien und umgebracht | |
gehören, zu lösen. Da ist sie wieder, die Analogie, erscheint Putin die | |
Ukraine doch untreu, weil sie mit der Nato ins Bett möchte. | |
Reden ist eine weibliche Konfliktlösungsstrategie. Dass in der | |
gegenwärtigen Situation auf der internationalen politischen Bühne alle | |
Akteure weiterhin miteinander reden, macht Hoffnung. | |
„[11][Hope is the thing with feathers]“ – Hoffnung ist das Ding mit Federn | |
– das ist die erste Zeile eines Gedichts der Lyrikerin [12][Emily | |
Dickinson]. Sie lebte im 19. Jahrhundert und gilt als die berühmteste | |
amerikanische Dichterin. | |
Der Aufbau der Thesenzeile dieses Textes, „Krieg ist das Ding mit Gemächt“, | |
kopiert Dickinsons Vers. Ihr Gedicht beschreibt, dass Hoffnung widerständig | |
ist, auch unter schlimmsten Bedingungen. Und sie spricht darüber, dass | |
Hoffnung nichts von einem verlangt. Sie ist einfach da. | |
Auch die Hoffnung auf Frieden. | |
20 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.n-tv.de/politik/Militaergeheimdienst-Russland-bereit-fuer-Invas… | |
[2] https://www.spiegel.de/ausland/ukraine-krise-russland-stockt-truppen-an-der… | |
[3] https://www.tagesspiegel.de/politik/bis-zu-150-000-mann-an-der-grenze-zur-u… | |
[4] https://www.youtube.com/watch?v=X8o65KGFqxc | |
[5] https://www.frauen-gegen-gewalt.de/de/aktionen-themen/vergewaltigung-verurt… | |
[6] https://www.planet-wissen.de/natur/tierwelt/sex_im_tierreich/pwiesexuellege… | |
[7] /Gedenken-an-die-Toten-von-Babyn-Jar/!5803898 | |
[8] https://www.youtube.com/watch?v=qSkQqZFFLgQ | |
[9] https://de.euronews.com/2022/02/09/diese-junge-dame-tagesspiegel-redakteur-… | |
[10] https://twitter.com/GolinehAtai/status/1492585011496824835 | |
[11] https://www.youtube.com/watch?v=-TbqRaBY9K0 | |
[12] https://de.wikipedia.org/wiki/Emily_Dickinson | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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