# taz.de -- Terror-Prozess um Bataclan: Die irritierende Normalität | |
> Im Terror-Prozess in Paris verstören die Angeklagten mit dem Bild, das | |
> sie von ihren Leben zeichnen. Ex-Präsident Hollande ist als Zeuge | |
> geladen. | |
Bild: Am Tag nach den Anschlägen: François Hollande im November 2015 auf dem … | |
PARIS taz | Das Datum geht als unverheilte Wunde in die Geschichte | |
Frankreichs ein. Vor fast sechs Jahren, am 13. November 2015, töteten | |
Terroristen [1][130 Menschen], mehrere Hundert wurden verletzt – vor dem | |
Stade de France in Saint-Denis, auf den Terrassen mehrerer Cafés und Bars | |
in Paris und dann im Konzertsaal Le Bataclan. Seit Anfang September wird | |
vor einem Sonderschwurgericht im alten Justizpalast auf der Seine-Insel Île | |
de la Cité in Paris gegen mutmaßliche Beteiligte oder Komplizen verhandelt. | |
Angeklagt sind 20 Verdächtige. [2][Der Prozess von historischer Dimension | |
und Bedeutung soll der Aufarbeitung in der vom Terror erschütterten Nation | |
dienen]. | |
Zunächst aber wecken die Aussagen von Überlebenden und Opfern die | |
schmerzlichen Erinnerungen an traumatische Schockerlebnisse. Sie schildern, | |
wie sie inmitten von Leichen oder irgendwo versteckt mit dem Leben | |
davongekommen sind, ohne zu verstehen, warum sie verschont bleiben, während | |
andere getötet wurden. Ihnen musste nun das Blut in den Adern gefrieren, | |
als vor Gericht ein Tondokument abgespielt wurde, das während des Massakers | |
und der Geiselnahme im Bataclan aufgezeichnet worden war. | |
Darauf hörte man, wie die Terroristen drohen, Befehle erteilen und ihre | |
Aktion als Antwort auf die französische Politik in Syrien rechtfertigen | |
wollen: „Alle zu Boden! Dem Ersten, der aufsteht, jage ich eine Kugel in | |
den Kopf. Ist das klar? Braucht ihr ein Beispiel? Ihr könnt euch bei | |
Präsident François Hollande bedanken!“ Der Terrorist, dessen Stimme da zu | |
vernehmen ist, starb im Bataclan beim Angriff der Polizei. | |
Wie genau der Einsatz der Polizei aus der Krisenzelle im Innenministerium | |
koordiniert wurde, dazu sollte sich am Mittwoch der damalige Staatschef, | |
François Hollande, äußern. Er sollte auf Wunsch einer der | |
Opfervereinigungen, Life for Paris, als Zeuge aussagen. Bis zum | |
Mittwochnachmittag hatte seine Anhörung noch nicht begonnen. | |
## Präsident in Stunden der Panik | |
Hollande war an diesem schicksalhaften Tag mit Frank-Walter Steinmeier | |
zuerst im Fußballstadion in Saint-Denis, als dort die Anschlagsserie der | |
Dschihadisten begann. Um Panik zu vermeiden, verließ er diskret das | |
Stadion, eine Evakuation ordnete er nicht an. Noch am Abend ging er mit | |
Regierungsmitgliedern, dem Polizeichef und der Bürgermeisterin von Paris, | |
Anne Hidalgo, zum Tatort Bataclan. In einer Fernsehbotschaft sagte er | |
seinen Landsleuten: „Das ist ein Horror.“ Danach verhängte er den Notstand. | |
Vielleicht war Hollande seiner Rolle als Präsident während seiner ganzen | |
Amtszeit niemals so gewachsen wie in diesen Stunden und Tagen. Trotzdem | |
muss er nun die Frage beantworten, was die Staatsführung vor dem 13. | |
November über die Nachrichtendienste von drohenden Attentaten wusste. Der | |
Kopf des Terrorkommandos Abdelhamid Abaoud war sowohl den belgischen als | |
auch den griechischen und französischen Behörden durchs Netz geschlüpft, | |
als man wusste, dass er Aktionen in Europa vorbereitete. Hollande betonte | |
im Vorfeld, er komme als Zeuge und nicht als Angeschuldigter vor die | |
Richter. An Mitbürger*innen, die der Staatsspitze heute Vorwürfe machen | |
wollen, fehlt es nicht. | |
Viel erwarteten die zivilen Nebenkläger*innen im Prozess um die | |
Anschläge von der Befragung der anwesenden Angeklagten (sechs sind abwesend | |
und vermutlich nicht mehr am Leben). Diese Konfrontation konnte aber nur | |
enttäuschen – nicht nur, weil die Angeklagten außer Salah Abdeslam, dem | |
einzigen noch lebenden Mitglied des Terrorkommandos, eher eine Nebenrolle | |
gespielt haben sollen. Selbst Abdeslam, der sich zu Prozessbeginn als | |
„Kämpfer“ der Terrormiliz IS aufspielte und die Attentate als Rache zu | |
rechtfertigen suchte, gab höflich Auskunft zu seiner Schulzeit als „netter | |
Junge“. „Vor uns stehen Leute, die banal wirken, sie sprechen von ihrer | |
einfachen und glücklichen Familie“, erklärte in dem Sender France-Info die | |
etwa 20-jährige Theodora, die bei der Attacke auf einer Café-Terrasse ihren | |
Onkel verloren hat. | |
Auch Sidonie Michelet, eine Überlebende des Bataclan, sieht das ähnlich: | |
„Man hat Mühe, sich vorzustellen, dass diese Leute sich an so grausamen | |
Taten beteiligen könnten. Ihr Leben war nicht besonders unglücklich, sie | |
hatten ein sympathisches Leben und kommen aus sympathischen Familien.“ Sie | |
entsprechen also kaum dem Bild von Monstern, das man sich gemacht hatte. | |
Die Philosophin Hannah Arendt nannte dies im anderen Zusammenhang mit | |
Naziverbrechern wie Adolf Eichmann „die furchtbare Banalität des Bösen, vor | |
der das Wort versagt und das Denken scheitert“. In seinem Prozess-Tagebuch | |
schreibt David Fritz-Goeppinger, eine Ex-Geisel im Bataclan, von dieser | |
irritierenden „Normalität eines Teils der Angeklagten“. Sein Freund Arthur | |
Dénouveaux von Life for Paris sieht darin einen positiven Aspekt für den | |
Prozessverlauf: „Dass wir sie als menschliche Wesen betrachten, beweist, | |
dass die Justiz funktioniert.“ | |
10 Nov 2021 | |
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## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
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