Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Bataclan-Prozess startet: Historische Belastungsprobe
> Fast sechs Jahre nach den islamistischen Anschlägen in Paris beginnt der
> Prozess. Die Erwartungen der Gesellschaft an die Justiz sind groß.
Bild: Vor der Pariser Bar „La Belle Equope“ im September, ein Jahr nach den…
Paris taz | Fast sechs Jahre ist es her. Am 13. November 2015 genossen
viele in Paris einen fast spätsommerlich milden Abend. Sie flanierten,
trafen sich auf den Terrassen der Restaurants und Cafés, gingen in Bars
oder in ein Konzert. Niemand ahnte auch nur annähernd, was in den folgenden
Stunden geschehen sollte: Ein Kommando von Terroristen [1][attackierte im
Auftrag des „Islamischen Staats“ (IS)] mit Gewehrsalven und Sprengstoff
zunächst mehrere der gut besuchten Terrassen rund um die Bastille.
Anschließend richtete es im Bataclan-Konzertsaal, wo vor 1.500 Fans die
amerikanische Rockband Eagles of Death Metal auftrat, ein fürchterliches
Massaker an, nachdem bereits vor dem Stade de France in Saint-Denis drei
weitere Dschihadisten ihre Sprengstoffgürtel gezündet hatten. Dort war im
Beisein von Präsident François Hollande und Außenminister Frank-Walter
Steinmeier und Tausenden von Zuschauern ein Fußballspiel zwischen
Frankreich und Deutschland im Gange.
Zum Glück war es ihnen nicht gelungen, ins Stadion zu gelangen. Bei ihren
Selbstmordaktionen starb dennoch ein Unbeteiligter, und zehn Personen
wurden verletzt.
Insgesamt 130 Menschen (davon 90 im Bataclan) starben bei diesen fast
simultanen Angriffen an diesem Abend, mehrere Hundert wurden verletzt. Ganz
Frankreich war schockiert und auf lange Zeit hinaus traumatisiert. Obschon
die Öffentlichkeit zehn Monate zuvor bereits durch den [2][mörderischen
Überfall auf die Redaktion von Charlie Hebdo] schwer erschüttert worden
war, löste diese Attentatswelle ein kollektives Horrorgefühl in ungeahntem
Ausmaß aus.
## Angeblich Dutzende terroristische Aktionen vereitelt
Was für die USA und einen Großteil der Welt der 11. September 2001 ist,
bleibt der 13. November 2015 auf immer für Frankreich: ein tiefer und
wahrscheinlich nie verheilender Einschnitt in der Geschichte, der jeden und
jede auf unterschiedliche Weise geprägt oder verändert hat. Nicht nur die
direkt Betroffenen. In der Gesellschaft herrscht seither Angst vor diesem
Krieg, den dschihadistische Fanatiker der französischen Demokratie und
Lebensart erklärt hatten.
Am wenigsten überrascht waren die französischen Nachrichtendienste, die
Wochen zuvor schon Informationen über die Vorbereitung einer
terroristischen „Massenattacke“ hatten, diese waren aber zu wenig präzise.
Die staatlichen Behörden, die nach einer kurzen Phase der nationalen
Eintracht der mangelnden Wachsamkeit bezichtigt wurden, reagierten mit
Notstandsgesetzen, als wenn es gälte, den Vorwürfen mit polizeilichem
Übereifer zu begegnen. Im Schatten der Öffentlichkeit werden seither die
Kommunikationskanäle überwacht oder abgehört. Die Terrorbekämpfung hat zur
Einschränkung der Grundfreiheiten geführt.
Laut Innenministerium wurden so angeblich Dutzende von terroristischen
Aktionen vereitelt. In der Bevölkerung gewöhnte man sich an die Patrouillen
bewaffneter Soldaten in den Stadtzentren oder Kontrollen der Handtaschen am
Eingang von Warenhäusern. Trotzdem folgten weitere Anschläge: am 14. Juli
2016 in Nizza, wo ein Selbstmordattentäter am Nationalfeiertag auf der
Promenade des Anglais [3][mit einem Lastwagen in die Menge raste] und dabei
86 Menschen tötete und Hunderte verletzte, oder vor weniger als einem Jahr
die Enthauptung des Lehrers Samuel Paty.
## Schuldgefühle der Überlebenden
Der 13. November aber bleibt die schlimmste terroristische Tragödie der
französischen Nachkriegszeit. Für die Geschichtsschreibung ist das vorerst
eine Vektorsumme von Einzelschicksalen, von denen Dutzende von Opfern als
Augenzeugen im Prozess aussagen, der nun fast sechs Jahre nach den
Anschlägen beginnt, und dabei ihre individuelle traumatische Erfahrung und
deren nachhaltige Folgen schildern müssen.
Der 35-jährige Arthur Dénouveau kennt diese Geschichten in allen Details
und aus eigener Erfahrung besser als alle anderen. Er ist der Gründer und
Sprecher des Vereins Life for Paris, der 650 Überlebende des 13. November
vertritt. Denn wie die meisten von ihnen bestätigen, war oder bleibt es
noch heute für sie ein von bürokratischen Hindernissen gesäumter
Leidensweg, um für die ihnen [4][zustehenden Entschädigungen vom
staatlichen Unterstützungsfonds] offiziell anerkannt zu werden.
Die Verhandlungen werden für viele von ihnen zu einer schweren psychischen
Belastungsprobe. Die hohen Erwartungen der Gesellschaft an die juristische
Wahrheitsfindung werden für sie zu einem Druck, meint Dénouveau im Magazin
Nouvel Obs: „Man sagt uns, wir müssten Würde bewahren, unseren Platz
einhalten. Dies wird uns seit Monaten ständig durch die Blume mitgeteilt,
was unerträglich ist, weil das von der Idee einer Masse ausgeht.
Als wenn die Opfer ein einheitliches Ganzes bildeten, und als wenn sie sich
erneut in ihrer Individualität bedroht fühlen müssten.“ Für sich selbst
erhofft er sich von dieser gerichtlichen Aufarbeitung vor allem eine
Besänftigung des Schuldgefühls, das auf ihm wie auf vielen Überlebenden
lastet. In den letzten Jahren haben viele der Opfer mehrfach geschildert,
wie sehr sie auch Jahre später noch psychisch darunter leiden, damals am
Leben geblieben zu sein, während neben ihnen andere starben.
Was wird der Hauptangeklagte, der 31-jährige Salah Abdeslam aus Molenbeek
bei Brüssel, entgegenhalten? Er ist das einzige mutmaßliche Mitglied des
aus Rakka in Syrien ferngesteuerten Terrorkommandos, das überlebt hat und
festgenommen werden konnte. Im Unterschied zu seinem Bruder Brahim, der
sich als Kamikaze in die Luft sprengte, hatte er seinen Sprengstoffgurt
weggeworfen und war geflohen. Warum? Er hat sich bisher in Schweigen
gehüllt. „Terroristen sind feige, weil sie unbewaffnete Menschen angreifen.
Von einem solchen Feigling wie Abdeslam erhoffe ich mir gar nichts“,
erklärte der damalige Innenminister Bernard Cazeneuve.
## Demokratische Antwort auf Terror
„Was erwarten Sie von einem Stück Holz oder Metall an Antworten?“, meinte
dazu am letzten Samstag im Fernsehen im Vorfeld der Verhandlung auch
Grégory Reibenberg. Er ist der Wirt des Cafés „La Belle Epoque“, wo die
Terroristen 20 Menschen auf seiner Terrasse umgebracht haben, darunter
seine Ex-Frau und neun seiner Freunde. „Seither lebe ich mit diesen zwanzig
Toten in meinem Leib“, sagt er. Er spricht nicht gern darüber und fragt
sich, wie er vor Gericht sein wird.
„Als Kind habe ich mich immer gefragt, warum unsere Großeltern sich
weigerten, explizit zu sagen, was sie während des Kriegs in den Lagern, mit
dem Tod und dem Horror erlebt hatten. Heute weiß ich weshalb. Auch ich habe
keine Lust dazu. Denn die Hölle ist kein Ort, den man erneut aufsucht, ohne
dafür bezahlen zu müssen“, schreibt er hingegen in seinem Buch mit dem
zynisch gemeinten Titel „Une belle époque“.
Für die französische Justiz ist es von vorrangiger Bedeutung, dass dieser
Prozess in unanfechtbarer Weise verläuft. Und am Ende (möglichst) fairer
Verhandlungen, die wie schon beim Charlie-Hebdo-Prozess für die Nachwelt
gefilmt werden, soll das Urteil zu einer demokratischen Antwort auf die
terroristische Gewalt und Niedertracht werden. Das hofft auch der frühere
Staatspräsident François Hollande, der sich auf Wunsch der Organisation
„Life for Paris“ bereit erklärt hat, als Zeuge aufzutreten.
Er betont gegenüber den Medien, dass es sich nicht etwa „um einen Prozess
gegen das Vorgehen der staatlichen Behörden handelt, sondern gegen die
zwanzig Angeklagten“. Gegen sechs dieser zwanzig wird in Abwesenheit
verhandelt, fünf davon sind wie die mutmaßlichen Drahtzieher in Syrien nach
Erkenntnissen der Nachrichtendienste umgekommen.
Hollande gesteht in Libération, dass die Ereignisse im November 2015 ihn
damals persönlich erschüttert haben, dennoch möchte er heute optimistisch
bleiben: „Die islamistischen Terroristen verfolgen das Ziel, unsere
Gesellschaft zu zerstören. Sie glauben, dass unsere Demokratie extrem
schwach sei und dass sie durch wiederholte Angriffsschläge destabilisiert
werde. Natürlich stellt der Vormarsch des Salafismus und die
Instrumentalisierung des Islam durch gewisse Extremisten eine
Bewährungsprobe für uns dar. Aber am Ende siegt die Demokratie immer über
den Totalitarismus.“
8 Sep 2021
## LINKS
[1] /Fuenf-Jahre-nach-Bataclan-Anschlag/!5728244
[2] /Zwei-Jahre-Anschlag-auf-Charlie-Hebdo/!5368863
[3] /Anschlag-in-Nizza/!5323631
[4] /Angebliche-Terroropfer/!5527431
## AUTOREN
Rudolf Balmer
## TAGS
Bataclan
Terrorismus
Paris
Schwerpunkt Islamistischer Terror
GNS
Gerichtsprozess
Kolumne Über den Ball und die Welt
Schwerpunkt Islamistischer Terror
Schwerpunkt Frankreich
Schwerpunkt Frankreich
Schwerpunkt Frankreich
Schwerpunkt Frankreich
Je suis Charlie
## ARTIKEL ZUM THEMA
Nach Terroranschlag auf Lehrer: Prozess im Fall Samuel Paty beginnt
In Frankreich müssen sich sechs Minderjährige im Zusammenhang mit dem
islamistischen Attentat verantworten. Ihnen drohen bis zu zweieinhalb Jahre
Haft.
Islamismus und Fußball: Sie wollen die Moderne auslöschen
Der tödliche Hass von Islamisten trifft Konzerte und Festivals. In Berlin
folgt der TuS Makkabi dem Rat, zunächst alle Wettbewerbe ausfallen zu
lassen.
Urteil im Nizza-Terrorprozess: Alle Angeklagten schuldig
2016 tötete ein Mann 86 Menschen in Nizza mit einem LKW. Nun sind acht
Helfer wegen des islamistischen Anschlags zu langjährigen Haftstrafen
verurteilt worden.
Prozess um Bataclan-Anschläge in Paris: Hauptangeklagter sagt aus
Er fühle sich „verleumdet“, sagt der Hauptangeklagte im Prozess um
Bataclan-Anschläge in Paris. Doch die Terrorgruppe IS unterstützt er
weiter.
Terror-Prozess um Bataclan: Die irritierende Normalität
Im Terror-Prozess in Paris verstören die Angeklagten mit dem Bild, das sie
von ihren Leben zeichnen. Ex-Präsident Hollande ist als Zeuge geladen.
Arte-Serie über den Bataclan-Anschlag: Ganz Frankreich muss auf die Couch
Eine neue Arte-Serie erzählt das kollektive Trauma von „Bataclan“ anhand
von Therapiesitzungen. Das Konzept funktioniert – zum Teil.
Fünf Jahre nach Bataclan-Anschlag: Wunden, die nicht heilen wollen
Tausende versuchen bis heute, einen Umgang mit dem Trauma zu finden.
Präsident Emmanuel Macron will härter gegen Gefährder durchgreifen
Zwei Jahre Anschlag auf „Charlie Hebdo“: Nachdem das letzte Licht erlosch
Nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ verlor Catherine Meurisse das
Gedächtnis – und die Lust am Zeichnen. Wie beides wiederkam, erzählt ihr
Buch.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.