| # taz.de -- Taz-Serie Fluchtpunkt Berlin (9): Hart geprüft | |
| > Die Jovanovics dürfen bleiben: Die Härtefallkommission der | |
| > Senatsverwaltung für Inneres hat der serbischen Familie überraschend | |
| > Aufenthalt gewährt. | |
| Bild: Jagos, der Sohn, 12 Jahre alt: Er geht zur Schule, er spielt Klarinette. … | |
| Maria ruft an. Das hat sie lange nicht getan. Zuletzt, kurz vor den | |
| Sommerferien im Juli, klang die junge Serbin immer müde – wenn sie denn | |
| überhaupt ans Telefon ging. Jetzt plaudert sie aufgeräumt über dies und | |
| das: Ja, ihr gehe es gut, die Mutter sende schöne Grüße, der Bruder auch. | |
| „Ach, und weißt du“, sagt Maria, und sie sagt es so leichthin: „Wir dür… | |
| bleiben. Hat die Härtefallkommission gesagt. Drei Jahre.“ | |
| Die Wetten standen nicht gut für Maria Jovanovic und ihre Familie. 2015 | |
| wurden 167 Härtefallanträge von serbischen StaatsbürgerInnen bei der | |
| Senatsverwaltung für Inneres gestellt. Lediglich ein Drittel davon waren | |
| erfolgreich. „Mangelnde Integrationsleistung“ sei der häufigste Grund für | |
| eine Ablehnung, heißt es aus der Senatsverwaltung. | |
| In der Härtefallkommission beraten unter anderem VertreterInnen von | |
| Wohlfahrtsverbänden, den Kirchen und dem Flüchtlingsrat bei jedem Antrag, | |
| ob sie ein Ersuchen um Aufenthaltserlaubnis an den Innensenator, in den | |
| letzten vier Jahren hieß er Frank Henkel (CDU), stellen. Am Ende | |
| entscheidet der Innensenator allein, ob er eine Aufenthaltserlaubnis nach | |
| Paragraf 23a Aufenthaltsgesetz erteilt. Der gewährt „ausreisepflichtigen | |
| Ausländern in besonders gelagerten Härtefällen“ eine Aufenthaltserlaubnis, | |
| sofern „dringende humanitäre oder persönliche Gründe“ vorliegen. | |
| Die Jovanovics sind Roma. Maria erzählt, wie sie in der Schule in Serbien | |
| von den Lehrern und ihren MitschülerInnen deswegen systematisch fertig | |
| gemacht wurde. „Ihr habt doch später eh keine Arbeit, wozu sollen wir euch | |
| was beibringen“, hätten ihr die Lehrer gesagt. Die Mutter, die nie einen | |
| Beruf gelernt hat, erzählt, wie man ihr auf dem Amt keine Sozialhilfe | |
| auszahlen wollte. Sie erzählt von häuslicher Gewalt: wie ihr Mann, der die | |
| Familie inzwischen verlassen hat, sie schlug, wie ein Verwandter sie | |
| vergewaltigte. | |
| ## Den Einzelfall beweisen – und das ist schwer | |
| Anwältin Böhlo verwendet diese Punkte im Asylantrag der Familie beim | |
| Bundesamt für Flüchtlinge und Migration: Verfolgung durch Dritte und | |
| Ausbleiben des Schutzes durch den serbischen Staat. Sie argumentiert, dass | |
| serbische Frauenhäuser sich weigerten, Roma-Frauen Schutz zu gewähren. Sie | |
| stützt sich auf Reports von Frauenrechtsorganisationen, die berichten, dass | |
| die Polizei sich häufig weigere, Anzeigen wegen Vergewaltigung von | |
| Roma-Frauen überhaupt nur aufzunehmen. | |
| NGO-Berichte sind das eine. Aber für einen Asylantrag muss der Einzelfall | |
| bewiesen werden, und das ist schwer. Auch Marias Mutter Mitra hat nichts | |
| Offizielles: die Vergewaltigung hat sie nicht angezeigt, dass das Sozialamt | |
| ihr nichts zahlte, kann sie nicht beweisen. Der Asylantrag wird im Frühjahr | |
| abgelehnt. Bevor Anwältin Böhlo den Fall der Familie im Juli schließlich an | |
| die Härtefallkommission gibt, sagt sie: „Es wäre eine Überraschung wenn der | |
| Innensenator positiv auf den Antrag der Familie reagieren würde.“ Er tat | |
| es. Warum? | |
| Die Innenverwaltung macht die Gründe für ihre Entscheidungen nicht | |
| öffentlich. Weil es ja immer bloß Einzelfälle sind, so die offizielle | |
| Begründung – und weil man natürlich auch keine argumentativen „Blaupausen… | |
| liefern will für nachfolgende AntragstellerInnen. Und auch die | |
| Fürsprecherinnen für die Familie haben aus demselben Grund kein Interesse, | |
| ins Detail zu gehen. Wenn man öffentlich macht, wie man den Innensenator im | |
| Einzelfall überzeugt, könnte das Nachahmer finden, die aus purer Taktik so | |
| argumentieren. Das würde den tatsächlichen Fällen die Glaubwürdigkeit | |
| nehmen. | |
| Rechtsanwältin Böhlo sagt also nur: „Offensichtlich war unsere Begründung | |
| überzeugend.“ Offensichtlich, ja. Paragraf 23a sagt: Insbesondere wenn | |
| jemand suizidgefährdet ist oder die Gefahr einer Traumatisierung im | |
| Heimatland besteht, kann die Härtefallregelung angewendet werden. | |
| ## Ein Sommerabend im August 2015 | |
| Das wichtigste Dokument, das im Fall der Jovanovics an die | |
| Härtefallkommission geht, ist ein Gedächtnisprotokoll von Maria und ihrer | |
| Mutter, das die Anwältin übersetzen lässt. Es geht darin um einen | |
| Sommerabend im August 2015. In Leskovac, einer 65.000-Einwohner-Kleinstadt | |
| im südlichen Serbien, aus der die Familie stammt, findet eine große | |
| Hochzeitsfeier statt, alles trifft sich im Zentrum. Maria, damals 13 Jahre | |
| alt, will mit einer Freundin dorthin. Die Mutter erlaubt es ihr, um 19 Uhr | |
| machen sich die beiden Mädchen auf den Weg. | |
| Eine Stunde später versucht Mitra, ihre Tochter auf dem Handy zu erreichen, | |
| doch das Handy ist aus. Maria hat einen jungen Mann wieder getroffen, den | |
| sie wenige Monate zuvor kennengelernt hatte. | |
| In Berlin hatten Maria und der Mann Sex, ob Maria das wollte, ist nicht so | |
| ganz klar. Jetzt aber zerrt er sie in ein Auto, ein Kumpel sitzt am Steuer. | |
| Sie fahren auf einen abgelegenen Parkplatz und vergewaltigen Maria. Sie | |
| drohen: „Wenn du das irgendjemandem erzählst, bringen wir dich um.“ Und: | |
| „Das war erst der Anfang.“ | |
| Die Männer lassen Maria auf dem Parkplatz zurück. Zu Fuß läuft sie zurück | |
| ins Stadtzentrum, wo ihre Mutter sie um Mitternacht findet: die Kleider | |
| zerrissen, die Arme blau gequetscht. Zur Polizei gehen will Maria aus Angst | |
| vor den Männern nicht. Sie sagt, sie wüsste, wie nun in der Stadt über sie | |
| geredet würde: Sie sei jetzt „die Nutte“. Ihre Mutter gibt zu Protokoll, | |
| die Tochter habe gedroht, sich umzubringen, wenn sie in Serbien bleiben | |
| müsse. | |
| ## Stichwort „Integrationsleistung“ | |
| Es ist ein Gedächtnisprotokoll. Es beweist nichts, man muss glauben. Dass | |
| die Härtefallkommission glauben wollte, ist auch der Verdienst eines | |
| langjährigen Mitglieds der Kommission, das den Fall von Maria und ihrer | |
| Familie dort auf Bitten von Anwältin Böhlo eingebracht und vorangetrieben | |
| hat. Der Fürsprecher der Jovanovics – ein Name soll hier nicht genannt | |
| werden – sagt: Das Entscheidende sei, „dass man versucht, die Menschen | |
| hinter den Akten, die da bei der Kommission landen, sichtbar zu machen.“ | |
| Menschen, die hier, Stichwort „Integrationsleistung“, eine Perspektive | |
| haben könnten. | |
| Bei Marias Bruder Jagos ging das leicht. Ein Dienstagnachmittag, einer der | |
| ersten Herbstnachmittage. Jagos sitzt im ersten Stock der | |
| Schostakowitsch-Musikschule in Hohenschönhausen, auf dem Schoß seine | |
| Klarinette. Ein Nachbar in Leskovac hatte Jagos eine Klarinette geschenkt | |
| und ihm ein paar Stücke beigebracht, nach Gehör. Nun lernt der Zwölfjährige | |
| Noten lesen: Mühsam hangelt er sich durch die Tücken der F-Dur-Tonleiter. | |
| „Spiel mal lauter, du bist doch ein kräftiger Junge“, sagt seine Lehrerin | |
| Claudia Wozny. | |
| Jagos hat ein robustes Gemüt. Es fällt ihm nicht schwer, immer wieder neu | |
| anzufangen: Familie Jovanovic wurde bereits zweimal ausgewiesen. Der | |
| erfolgreiche Antrag bei der Härtefallkommission ist der dritte Versuch der | |
| Familie seit 2012, in Deutschland bleiben zu dürfen. Jagos hat schnell | |
| Freunde gefunden in dem Lichtenberger Flüchtlingsheim, in dem die Familie | |
| lebt. Mit denen geht er in den Jugendclub gegenüber oder zum | |
| Fußballspielen. Er übt auf der Klarinette und spart auf ein eigenes | |
| Instrument. Nach den Sommerferien ist er in die siebte Klasse an einer | |
| Integrierten Sekundarschule versetzt worden. Er kommt klar. | |
| Maria mache ihm mehr Sorgen, sagt Walid Chahrour. Chahrour ist | |
| Sozialarbeiter beim Beratungs- und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge | |
| und MigrantInnen in Moabit. Einmal in der Woche fahren die Jovanovics „zu | |
| Walid“, wie Maria sagt. Die 15-Jährige ist im letzten Halbjahr kaum zur | |
| Schule gegangen. Sie sagt, sie werde dort gemobbt. Aber wenn die | |
| Aufenthaltserlaubnis der Familie in drei Jahren entfristet werden soll, | |
| braucht die Tochter einen Schulabschluss, die Mutter einen Job. Alles | |
| Pluspunkte auf dem Konto mit dem Namen „Integrationsleistung“. | |
| ## Ohne Glück, ohne Fürsprecher geht nichts | |
| Erst mal wollen die Jovanovics aber vor allem eins: raus aus dem Heim. | |
| Offiziell sind die Sozialämter der Bezirke dafür zuständig, Flüchtlingen | |
| mit Aufenthaltstitel eine Wohnung zu organisieren. Doch die Konkurrenz um | |
| günstigen Wohnraum – 621 Euro Bruttowarmmiete übernimmt das Amt im Fall der | |
| Jovanovics – ist groß. Das Sozialamt Lichtenberg teilt auf Anfrage mit, man | |
| erhebe keine Daten darüber, wie viele Flüchtlinge mit Aufenthaltsstatus in | |
| Wohnungen leben und wie viele noch im Heim. Man wisse auch nicht, wie viele | |
| man bereits in Wohnungen vermittelt habe. | |
| Sozialarbeiter Chahrour sagt, man warte gar nicht mehr auf die Behörden, | |
| sondern suche in den eigenen Netzwerken des Beratungszentrums: „sechs, | |
| manchmal auch zwölf Monate“, dauere es erfahrungsgemäß, bis man eine | |
| Wohnung finde. | |
| Der Sozialarbeiter, der Fürsprecher in der Härtefallkommission und Anwältin | |
| Böhlo sind die Gründe, warum die Familie noch da ist. Der glückliche Fall | |
| der Familie zeigt deshalb auch das Unglück der vielen anderen: Ohne | |
| Fürsprecher, ohne ein bisschen Glück geht nichts. An die Anwältin sind die | |
| Jovanovics über einen Tipp von Bekannten aus Serbien gekommen, die die | |
| Familie in Berlin hat. Berenice Böhlo hat den Fall der Familie übernommen, | |
| ohne dafür eine Bezahlung zu bekommen. | |
| In der Musikschule packt Jagos die Klarinette ein. „Hey“, sagt seine | |
| Lehrerin. „Hab gehört, ihr dürft bleiben?“ Sie hält die Hand zum | |
| Einschlagen hin: „Check!“ | |
| 31 Oct 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Klöpper | |
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