# taz.de -- taz-Serie Fluchtpunkt Berlin (Teil 8): Harte Entscheidung | |
> Die Härtefallkommission muss entscheiden, ob Maria Jovanovic (15), ihr | |
> Bruder und ihre Mutter nach Serbien abgeschoben werden. Haben Sie eine | |
> Chance? | |
Bild: Ende, aus, vorbei: Flüchtlinge bei der Abschiebung mit einem Flugzeug | |
Wenn man Maria Jovanovic*, 15 Jahre alt, fragt, was sie werden möchte, | |
sagt sie: „Eigentlich – Mutter.“ Dann lacht sie leise über den | |
überraschten Gesichtsausdruck ihres Gegenübers. „Ja, echt jetzt.“ | |
Sie steht vor dem Lichtenberger Flüchtlingsheim, in dem sie mit ihrer | |
Mutter und ihrem jüngeren Bruder seit ein paar Monaten wohnt, und | |
zupft an ihren Fingernägeln. „Ja, ich will ein Kind, ich will mich drum | |
kümmern.“ Im Frühjahr wollte Maria noch Erzieherin werden, im Herbst | |
letzten Jahres Kosmetikerin. Inzwischen will sie vor allem eins: | |
ihre Ruhe. Und nicht mehr zur Schule gehen müssen. | |
Sie ist in den letzten Wochen bereits nicht mehr hingegangen, zur | |
Paul-Schmidt-Sekundarschule in Alt-Höhenschönhausen. Im letzten | |
Halbjahr sei sie nur „sehr unregelmäßig“ zur Schule gekommen, | |
schreibt auch ihr Klassenleiter in einer Mail. Ihrer Mutter erzählt | |
Maria, sie gehe zur Schule. „Damit sie sich keine Sorgen macht.“ | |
Tatsächlich versteckt sich das Mädchen bis nachmittags im Park und | |
geht um 15 Uhr wieder nach Hause. Maria sagt, sie wurde von ihren | |
MitschülerInnen gemobbt. Sie sagt, niemand von den LehrerInnen | |
habe ihr geholfen. Die Schule will sich dazu nicht äußern. | |
Die Härtefallkommission bei der Senatsverwaltung für Inneres, | |
die in den nächsten Wochen über den Fall der serbischen Familie | |
entscheidet, wird die fehlenden Schultage als dickes Minus bei ihrer | |
Urteilsfindung verbuchen. Dabei zeigt sich an Marias Fall vor allem | |
auch, wie das Asylsystem Menschen zermürben kann. Bis irgendwann | |
tatsächlich nur das bleibt: ein Minus. Nichts mehr da auf der | |
Habenseite. | |
Bei der Kommission, bei der allerdings Innensenator Frank Henkel | |
(CDU) persönlich das letzte Wort hat, landen Fälle, bei denen das | |
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag bereits | |
abschlägig beschieden hat. Die Kriterien, nach denen die | |
Kommission entscheidet, sind im Wesentlichen diese: Je länger | |
jemand in Deutschland ist, je mehr soziale Kontakte er hier hat und | |
je besser die wirtschaftlichen Aussichten sind – gute | |
Schulleistungen, eine Jobperspektive –, desto wahrscheinlicher | |
ist, dass die Kommission Gnade vor Asylrecht ergehen lässt. | |
Im vergangenen Jahr wurden 252 Anträge an die Kommission | |
gerichtet, in der unter anderem Vertreter der Kirchen, der Liga der | |
Wohlfahrtsverbände und des Integrationsbeauftragten des Senats | |
sitzen. In 225 Fällen hat die Kommission die Anträge angenommen | |
und ein Ersuchen an Innensenator Henkel gestellt – der rund der | |
Hälfte davon stattgegeben hat. | |
## „Meist keinen Erfolg“ | |
Obwohl Flüchtlinge aus den Westbalkanstaaten rund die Hälfte aller | |
Anträge an die Kommission ausmachen, werden sie „tendenziell | |
häufiger negativ entschieden als die für Angehörige anderer | |
Staaten“, teilt die Innenverwaltung mit. Die Anträge hätten „meist | |
keinen Erfolg, weil die kurze Dauer des Aufenthalts und die | |
erbrachten Integrationsleistungen nicht für eine positive | |
Entscheidung ausreichten“. | |
Maria, ihre Mutter Mitra und ihr Bruder Jagos sind seit 2012 in Berlin – | |
mit Unterbrechungen, denn zwei Asylanträge endeten mit zwei | |
Ausweisungen. Nach jeweils ein paar Monaten war die Familie wieder | |
da. Es gibt eine direkte Busverbindung aus dem südserbischen | |
Leskovac zum Berliner ZOB. Und es gibt natürlich | |
Mitfahrgelegenheiten. Ein Mann, den Marias Mutter beim Einkaufen | |
auf dem Markt traf, brachte sie zuletzt im September 2015 für 200 Euro | |
Benzingeld über Ungarn und Österreich nach Berlin. | |
Das Hin und Her kostet Kraft. Jedes Mal ein anderes Heim, eine andere | |
Schule. Beim ersten Mal hatte man sie in Schöneberg untergebracht, | |
beim zweiten Mal in Neukölln, nun in Lichtenberg. Marias Bruder | |
fällt es weniger schwer, immer wieder von vorn anzufangen. Er findet | |
schnell Freunde, mit denen geht er nachmittags Fußball spielen oder in | |
den Jugendclub. An seiner alten Schule, einer Neuköllner | |
Grundschule, wird er sogar zum Klassensprecher gewählt. | |
An der Brodowin-Grundschule, wo er seit Februar in die sechste | |
Klasse ging, sind seine Noten passabel: Nach den Sommerferien soll | |
Jagos im September in die siebte Klasse der | |
Vincent-van-Gogh-Sekundarschule in Hohenschönhausen versetzt | |
werden. Einmal die Woche geht er zum Klarinettenunterricht in die | |
bezirkliche Musikschule. Seine Lehrerin schreibt an die | |
Härtefallkommission, Jagos sei „ein außergewöhnlich fleißiger | |
und begabter Schüler auf der Klarinette“. | |
Maria hingegen fällt alles schwer. Sie findet keinen Anschluss. Bei | |
Gruppenarbeiten bleibt sie alleine. Wenn sie an die Tafel geht, | |
tuscheln ihr die Mitschüler Gemeinheiten hinterher. Und die | |
LehrerInnen? Helfen ihr nicht. So zumindest erzählt sie es im | |
Wohnzimmer des kleinen Apartments, dass die Familie im | |
Flüchtlingsheim bewohnt: zwei Zimmer, Küchenzeile, Bad. | |
## Sie war weggelaufen | |
Sie sitzt auf dem Sofa, auf dem Maria in den letzten zwei Monaten | |
meistens saß, nachdem sie einmal für zwei Tage verschwunden war. | |
Weggelaufen. Wohin? „Weit von hier“, sagt Maria. Die Polizei findet | |
sie in einem Park in Neukölln, wo sie geschlafen hatte. Eine | |
Psychologin bei einer Beratungsstelle für Flüchtlinge rät ihr: | |
Bleib besser zu Hause, das Schuljahr ist ohnehin fast um, dann sehen | |
wir weiter. | |
Es sei ihr zu viel geworden, alles, erzählt Maria: die Schule, die | |
Ungewissheit, ob sie bleiben können. Sie lief zu ihrer alten Schule | |
in Neukölln. Dort gab es im vergangenen Jahr in ihrer Klasse ein | |
Mädchen, mit dem habe sie sich gut verstanden. Und da war die | |
Lehrerin, die sie mochte, die ihr bei ihrer letzten Ausweisung 2015 | |
sagte: „Wenn ihr wieder da seid, komm einfach mal vorbei.“ | |
Das tat Maria auch, gleich als sie wieder da war, im Herbst. Sie ging in | |
den Unterricht, obwohl sie noch gar keinen Schulplatz hatte, und | |
erzählte im Schulcafé, was sie mal werden will: Kosmetikerin. | |
Aber dann war alles eben doch nicht so einfach. Die Lehrerin habe ihr | |
gesagt, sie könne sich nicht „einfach so“ in den Unterricht setzen. | |
Maria versteht nicht, warum sie sich nicht einfach selbst in der Schule | |
anmelden kann, und ist enttäuscht, als das Schulamt ihr die | |
Paul-Schmidt-Schule zuweist, auf der sie nicht zurecht kommt. | |
Manchmal geht Maria auch nicht zur Schule, weil sie ihre Mutter | |
begleiten muss, die kaum Deutsch spricht: zum Arzt, aufs Amt, zur | |
Anwältin, die die Familie bei ihrem dritten Anlauf im | |
Asylverfahren vertritt. Maria dolmetscht und sitzt mit der Mutter – | |
„sie ist meine Freundin“ –, abends am Wohnzimmertisch und macht sich | |
Sorgen. | |
Im Mai, nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ihren | |
Antrag auf Asyl abgelehnt hat, sitzen sie schon in der Abflughalle | |
nach Schönefeld – eine Sammelabschiebung nach Belgrad –, als ihre | |
Anwältin sie wegen eines Formfehlers im letzten Moment aus dem | |
Flieger holt. Das alles schlaucht. „Mein Kopf schmerzt“, sagt Maria. | |
„Immer wenn ich mich auf etwas konzentrieren soll – geht nicht.“ | |
Innensenator Henkel wird nach Aktenlage entscheiden. Berenice | |
Böhlo, die Rechtsanwältin der Familie, rechnet mit einer | |
Entscheidung „eventuell schon in den Sommerferien, wenn weniger | |
Widerstand zu erwarten ist.“ Ein positiver Bescheid, sagt die | |
Fachanwältin für Aufenthaltsrecht, wäre „überraschend“. Da sind die | |
fehlenden Schultage bei Maria. Auch Jagos’ Schule hat kein | |
Beurteilungsschreiben beigefügt und nur den Nachweis über den | |
Schulbesuch ausgedruckt. Die Schulleitung sagt, das halte man | |
grundsätzlich so, um keine Ungerechtigkeiten entstehen zu lassen. | |
## Hätte und vielleicht | |
Bleibt die Frage: Hätte es besser laufen können bis zu diesem | |
Zeitpunkt? Hätten die Lehrer reagieren müssen, wenn Maria | |
wochenlang nicht zur Schule kommt? Hätte der Grundschulleiter der | |
Härtefallkommission einen Brief tippen sollen? Hätte da nicht | |
idealerweise ein Sozialarbeiter im Heim sein sollen, der Marias | |
Mutter zum Amt begleitet, sodass ihre Tochter zur Schule gehen kann? | |
Und soll man Maria die Außenseiter-Geschichte glauben? Wenn man | |
sieht, wie sie mit anderen Jugendlichen aus dem Heim herumalbert, | |
wirkt sie nicht gerade schüchtern. Aber hat das etwas zu bedeuten? | |
In den letzten Wochen hat Maria vor allem lange ferngesehen und lange | |
geschlafen. War ihr nicht furchtbar langweilig? „Es war okay.“ | |
Vielleicht klingt das unmotiviert. Vielleicht ist Maria aber auch | |
einfach zu oft gegen Wände gerannt. Vielleicht bleibt man dann | |
irgendwann einfach auf dem Sofa liegen. | |
* alle Namen geändert | |
27 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Anna Klöpper | |
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