Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Stundenlange Sprachnachrichten: Brieftaube 2.0
> Lange Sprachnachrichten im Alltag zu verschicken, ist sehr beliebt,
> manche hassen sie aber auch. Ein Blick auf ein Phänomen unserer digitalen
> Zeit.
Bild: Nerven Sprachnachrichten im Bus genauso wie das laute telefonieren?
„Hallihallo, ihr bekommt jetzt wieder ein Sonntags-Update von mir. Heute
bin ich im Urlaubsmodus, weil voll schön die Sonne scheint. Ich laufe
gerade zur S-Bahn, da treffe ich dann …“ Ungefähr so klingt es, wenn ich
auf meinen täglichen Wegen in mein Handy plaudere und meinen Freund:innen
aus meinem Leben berichte.
Ich verschicke gerne Sprachnachrichten und damit bin ich nicht alleine:
Laut einer repräsentativen Umfrage des Bundesverbands
Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (bitkom)
versenden 53 Prozent der Menschen in meinem Alter – zwischen 16 und 29
Jahren – gerne Sprachnachrichten. Auf WhatsApp werden täglich sieben
Milliarden Sprachnachrichten verschickt, genau so viele also wie Fotos.
Nicht alleine sind allerdings auch diejenigen, die sich über
Sprachnachrichten aufregen. Zu lang, zu viele, zu oft, zu spät nachts, die
Gründe sind da vielfältig. Manche Menschen weigern sich, Sprachnachrichten
zu versenden oder die empfangenen abzuhören.
Laut der Bitkom-Befragung [1][erhalten 61 Prozent der Befragten lieber
Text- als Sprachnachrichten]. Ich verstehe nicht, warum Sprachnachrichten
problematischer sein sollen als Texte. Auch von denen kann man sich
überschüttet und vollgequatscht fühlen.
## Eigentlich so wie Goethe
Außerdem, eigentlich mache ich doch nichts anderes als die
Romantiker:innen und Klassiker:innen früher. Die haben auf
seitenlangen Briefen Anekdoten aus dem Alltag erzählt, ihre Gedanken
geteilt, über den Sinn des Lebens sinniert.
Vielleicht auch aus Nostalgie wird das Schreiben mit Stift auf Papier immer
noch wertgeschätzt. Die Briefwechsel zwischen den Brüdern Grimm
beispielsweise, zwischen Max Frisch [2][und Ingeborg Bachmann], zwischen
Johann Wolfgang von Goethe und seiner Schwester Cornelia werden inzwischen
als Bücher verkauft. Sie haben also eine literarische und historische
Relevanz.
Das hat schon Novalis, einer der deutschen Romantiker, gesagt: „Der wahre
Brief ist seiner Natur nach poetisch“. Und Goethe forderte seine Schwester
schon 1765 auf: „Schreibe nur wie du reden würdest, und so wirst du einen
guten Brief schreiben“. Ich rede auf Sprachnachrichten einfach so, wie ich
reden würde und überspringe den Schritt des Schreibens. Können sie also die
moderne und effizientere Form des Briefes sein?
Der Unterschied zum Brief ist vor allem, dass es schneller geht. „Die Zeit
für das Verfassen von Texten ist natürlich viel länger“, sagt auch Gerald
Lembke. Er ist Professor an der dualen Hochschule Baden-Württemberg und
forscht zu digitalen Medien und Kommunikation. Sprachnachrichten und ihren
Nutzen hat er auch schon untersucht. „Beim Schreiben musst du dir vorher
überlegen, welche Botschaften du kommunizieren willst. Das ist beim
Sprechen nicht der Fall. Da erzählst du frei von der Leber weg.“
## Wege mit Quatschen überbrücken
Den Weg zur S-Bahn gehe ich jeden Tag. Die Straßen sind dort meistens leer.
Ich spaziere durch die Stadt und quatsche in mein Handy. Bestimmt sind
meine Schritte auf der Aufnahme zu hören oder der eine oder andere
zwitschernde Vogel. Aber das ist mir egal. Den 10-minütigen Spaziergang
mache ich ohnehin. Ich finde, ich kann ihn auch mit Erzählen füllen.
Um das, was ich in den 10 Minuten in mein Handy gequatscht habe,
handschriftlich aufzuschreiben, müsste ich mich wahrscheinlich mindestens
eine Stunde hinsetzen. Die Zeit würde ich mir nicht nehmen. Dafür ist das,
was ich zu sagen habe, dann doch nicht interessant genug. Lembke kann meine
Bequemlichkeit erklären: „Von unserem Mediennutzungsverhalten sind wir auf
Leistung getrimmt. Das heißt: viel Botschaft in kurzer Zeit.“ Ich bin Opfer
der kommunizierenden Leistungsgesellschaft geworden.
Die Sprachnachricht nimmt darin eine paradoxe Doppelrolle ein. Einerseits
geht es schnell, eine Sprachnachricht zu verschicken, anstatt stundenlang
zu schreiben. Andererseits ändert sich das Tempo der gesamten Unterhaltung,
wenn sie aus Sprachnachrichten besteht. Denn: Ich erwarte von niemandem,
sich meine 10-minütige Sprachnachricht über mein Leben noch am selben Tag
anzuhören. Und ich selber verfahre mit Sprachnachrichten, die ich bekomme,
genau so.
Denn für das Beantworten von Sprachnachrichten nehme ich mir mehr Zeit. Ich
höre sie mir in Ruhe an, im Zug zum Beispiel oder beim Frühstück, um auf
das Erzählte reagieren zu können. Textnachrichten schreibe ich oft auf die
Schnelle, ein bisschen hingepfuscht. Damit gehe ich übrigens total mit dem
Trend. Auch 44 Prozent der von bitkom Befragten gaben an, auf
Sprachnachrichten später als auf Textnachrichten zu antworten. Die digitale
Unterhaltung wird langsamer.
## Entschleunigte Kommunikation
„Total“, antwortet auch Lembke auf die Frage, ob Sprachnachrichten die
Kommunikation entschleunigen. Er geht sogar noch weiter: „Ich glaube, dass
wir uns in naher Zukunft als Gesellschaft so entwickeln werden, dass wir
wieder ein ‚weniger ist mehr‘ genießen können“. Weniger Kommunikation v…
besserer Qualität könne sich durchsetzen, vielleicht sogar mehr analoge und
haptische Medien.
Das ordne sich in einen gesellschaftlichen Entwicklungsprozess ein, in dem
wir Menschen uns wieder mehr dem Analogen zuwenden. Auch mir ist schon
aufgefallen, dass Firmen mir zu Weihnachten keine E-Mails mehr schicken,
sondern vermeintlich handgeschriebene Postkarten. Darin sieht Lembke
unseren Hang zur Haptik bestätigt.
I[3][ch glaube trotzdem nicht, dass wir in unserer heutigen Welt wieder
dazu übergehen, uns regelmäßig lange Briefe zu schreiben], auch wenn das
wirklich schön wäre. Aber wenn ich von meinen Freundinnen eine lange
Sprachnachricht bekomme, freue ich mich fast so sehr wie über einen Brief.
Vorbeifahrende Autos, Schritte, die sich ganz besonders lustig anhören,
wenn man die Nachricht in doppelter Geschwindigkeit abspielt, und die
erzählende Stimme geben mir schöne Momentaufnahmen aus dem Leben meiner
Freundinnen.
„Weniger ist mehr“ ist für mich eher eine Bestätigung, mit meinen
Freundinnen über Sprachnachrichten zu kommunizieren, statt sie mit
Textnachrichten zu überschütten. Deswegen fasse ich ihnen gleich diesen
Text zusammen. Natürlich in einer Sprachnachricht.
4 Apr 2025
## LINKS
[1] https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Mehrheit-erhaelt-gerne-Spra…
[2] /Film-ueber-Ingeborg-Bachmann/!5965163
[3] /Neues-soziales-Medium/!6065369
## AUTOREN
Leonore Kogler
## TAGS
Digital Natives
Digitale Medien
WhatsApp
Kommunikation
Briefe
Social-Auswahl
Kolumne Aus dem Leben einer Boomerin
Indierock
Kommunikation
Meditation
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kommunikation zwischen Paaren: Liebe in Zeiten der Gesprächsblockade
Früher hieß es, man müsse miteinander schweigen können. Heute googelt man,
wie man peinliches Schweigen beim Date vermeidet – eine kritische Analyse.
Neues Album und Tour von The Wombats: Reflexion per Sprachnachricht
Skinny-Jeans-Revival für sensible Millennials: The Wombats’ neues Album
„Oh! The Ocean“ fängt die generationstypische Unsicherheit gelungen ein.
Sonderausstellung über Nachrichten: Aus der Postkutsche ins Internet
Was verraten Nachrichten darüber, wie wir uns verständigen? Eine
Sonderausstellung zu dem Thema im Museum für Kommunikation Berlin kann auch
überfordern.
Einfach mal gar nichts sagen: Sei doch mal still
Schweigen war für unsere Autorin lange bedrückend. Dann lud ein indischer
Zahnarzt sie zum Meditieren ein. Über Stille in Zeiten der Ruhelosigkeit.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.