# taz.de -- Einfach mal gar nichts sagen: Sei doch mal still | |
> Schweigen war für unsere Autorin lange bedrückend. Dann lud ein indischer | |
> Zahnarzt sie zum Meditieren ein. Über Stille in Zeiten der Ruhelosigkeit. | |
Bild: Was kann man hören, wenn ausnahmsweise mal niemand spricht? | |
An manchen Tagen stelle ich mich abends auf den Teppich im Wohnzimmer, | |
dehne meinen Körper, atme tief durch und lasse mich auf das runde schwarze | |
Kissen nieder. Da sitze ich dann und schweige, zwanzig Minuten, manchmal | |
länger. Endlich, am Ende des Tages, möchte ich aus dem Hamsterrad | |
aussteigen, ruhig werden und mich sammeln. Allerdings meldet sich sofort | |
der Alltag zu Wort. Satzfetzen von vergangenen Gesprächen und Diskussionen | |
klingen in meinen Ohren nach. Szenen und Bilder schwirren mir durch den | |
Kopf. Und Gedanken an morgen, was ich da machen sollte, geben ein kurzes | |
Stelldichein. | |
Aber ich sitze, schweige und achte möglichst nur auf den Atem in meinem | |
Bauch. Allmählich scheint das Durcheinander tiefer zu sinken. Schweigend | |
kann ich mich mit freundlichem Abstand betrachten. Vieles, was mich | |
beschäftigt, sehe ich dann wie auf einer inneren Bühne, auf der viel los | |
ist, aber wo ich im Schweigen nicht mehr mitspielen muss und den Vorhang | |
ohne Verlust mal zuziehen kann. Aufatmen. Ausatmen. Schweigen. | |
Mit diesem Bedürfnis nach innerer Ruhe bin ich nicht allein. In Buchläden | |
und im Netz findet man zahlreiche Ratgeber zu Achtsamkeit und Stille. Sie | |
versprechen mit einfachen Übungen Entschleunigung im Alltag, Kraft und | |
Momente von innerem Frieden in einer Welt, die zunehmend hektisch und | |
chaotisch ist. Hilfe gibt es auch auf dem Handy: So startete der Brite Andy | |
Puddicombe vor zehn Jahren die Meditations-App „Headspace“, nachdem er | |
einige Jahre in einem buddhistischen Kloster gelebt hatte. Seitdem wurde | |
„Headspace“ millionenfach heruntergeladen, allein im zweiten Quartal dieses | |
Jahres 1,5 Millionen Mal. | |
Noch erfolgreicher ist die App „Calm“. Über 100 Millionen Menschen haben | |
sie auf ihrem Handy. „Calm“ wird mittlerweile mit 2 Milliarden Dollar | |
bewertet. Das bedeutet, dass auch für die Zukunft sehr hohe Gewinne durch | |
diese App erwartet werden. Allerdings wird in den Meditations-Apps kaum | |
geschwiegen. Stattdessen hört man sanfte Stimmen, die beruhigen sollen und | |
genaue Anleitungen geben, was zu tun oder zu lassen ist, um zu entspannen | |
oder zu meditieren. | |
Aber solche gut gemeinten Anleitungen will ich nicht. Ich möchte einfach | |
schweigen und übe das in der stillen Meditation. Ich finde, nur in der | |
Stille kann ein Schweigen entstehen, das beruhigt, aufrichtet und dann auch | |
im Alltag wirksam wird. | |
Es hat viele Jahre gedauert, bis ich dieses wohltuende Schweigen fand. | |
Während ich schweige, wird mir oft erst klar, was mir im Grunde wichtig ist | |
und wie ich es mitteilen will. Mein Weg zum Schweigen war holprig. Von | |
meiner persönlichen, holprigen Reise zum Schweigen handelt diese | |
Geschichte. Und auch davon, was Schweigen eigentlich für eine Gesellschaft | |
und für unsere Kommunikation bedeutet. | |
Beim Schweigen kommt es immer auf den Kontext an. Schweigen ist eine | |
besondere Art und Weise, mit der Umwelt zu kommunizieren und ist – wie ein | |
unsichtbares Etwas, das immerzu wegflutscht – schwer zu fassen. Es hat | |
viele Facetten, und meiner Erfahrung nach ist wohltuendes, friedvolles | |
Schweigen oft eher die Ausnahme. Menschen schweigen häufiger aus Angst, | |
Verzweiflung oder Scham. Ihr Schweigen ist Ausdruck von Ohnmacht. Aber auch | |
die Mächtigen schweigen oft – weil sie sich berechnend und kalt durchsetzen | |
können, ohne sich mit Worten erklären zu müssen. | |
Ich kenne das „beredte Schweigen“, aufgeladen mit Bedeutung, gerade weil | |
nichts gesagt wird. Auch in meinem Leben waren die Erfahrungen mit | |
Schweigen jahrelang nur beklemmend. Da war Schweigen eine beängstigende, | |
schwer drückende Last. | |
## Was vor den Eltern unsagbar ist | |
Mein Vater fährt mit seinem großen Auto in den Hof vor unserem alten Haus. | |
Er kommt, um mich abzuholen, zu seinem Haus in der Stadt. Ich bin ein Kind | |
im Grundschulalter und lebe mit meiner Mutter auf dem Dorf bei meinen | |
Großeltern. Vater und Mutter sprechen schon seit Jahren nicht mehr | |
miteinander, sie haben nur noch über Rechtsanwälte Kontakt. | |
Wenn mein Vater mit dem Auto kommt, muss ich die Haustür aufmachen, einige | |
Schritte hinaus- und auf ihn zugehen, ihm einen spitzen Kuss auf die Lippen | |
geben und „Guten Tag, Vater“ sagen. In sein Auto will ich nicht einsteigen. | |
Aber das darf ich auf keinen Fall äußern, das widerspräche den | |
ungeschriebenen Regeln, die hier herrschen. Ich könnte meinen Vater wütend | |
machen und vor seinen unkontrollierten Wutausbrüchen habe ich Angst. | |
Ich sitze auf dem Beifahrersitz und spüre, dass er erwartet, dass ich mich | |
mit ihm unterhalte. Aber was könnte ich berichten, was seine Zustimmung | |
findet, was interessant für ihn wäre und unverfänglich für mich? Mir fällt | |
nichts ein. Ich bleibe stumm. | |
Manchmal klagt mein Vater über sein Schicksal als verlassener Ehemann und | |
Vater. „Bei Nacht und Nebel“ habe meine Mutter mich „entführt“ und er … | |
nun ohne sein Kind leben. Es wäre doch viel besser für mich, wenn ich bei | |
ihm in seinem modernen Haus leben und eine gute Schule besuchen könnte. Ich | |
erstarre, wenn ich ihn so sprechen höre. Mein Vater ist für mich wie ein | |
gebieterischer Fremder, der ungefragt wieder und wieder in mein Leben | |
einbricht. Keinesfalls möchte ich bei ihm wohnen, auch nicht in einer Stadt | |
zur Schule gehen, wo ich niemanden kenne. Aber das ist unsagbar. | |
Ich starre auf den grauen Asphalt, der neben dem fahrenden Auto vorbeirast. | |
Ich will nicht ankommen, wo wir hinfahren: Zu dem Haus, in dem er mit | |
seiner Mutter wohnt und seine Arztpraxis betreibt. Hier muss ich ein | |
Wochenende pro Monat verbringen, so hat es das Familiengericht entschieden. | |
Ich bin ungern hier, aber ich sage das nicht. Ich bin einsilbig, sage | |
pflichtschuldig, was von mir erwartet wird, wenn man mich etwas fragt. Zwei | |
Tage lang bin ich, das Kind, das eigentlich gerne hüpft, trällert und mit | |
seiner Katze spielt, wie unter einer Maske, misstrauisch, ängstlich und | |
stumm. | |
Mit meiner Mutter hatte ich hin und wieder Streit – wann ich abends zu | |
Hause sein sollte, ob ich vorlaut und frech zu ihr war. Die Anlässe | |
erscheinen mir heute banal und ich habe die meisten ganz und gar vergessen. | |
Nicht vergessen habe ich hingegen das lähmende Schweigen, das plötzliche | |
mitten in unsere kleinen Wortgefechte einbrach. Mutter bekommt einen | |
hochroten Kopf, wirft einen gekränkten Blick in meine Richtung und presst | |
ihre Lippen zusammen. Ab sofort kein Wort mehr zu mir – nun bin ich wie | |
Luft für sie. Erschreckt schaue ich hoch: Bin ich wirklich so böse zu ihr? | |
So unerträglich? Enttäuscht zieht Mutter sich zurück und macht sich | |
unerreichbar. | |
Panik steigt in mir hoch: Was mache ich, wenn meine Mutter nie mehr mit mir | |
spricht? Ich habe doch nur sie, die mich mal an die Hand nimmt, die mich | |
versorgt, bei der ich – wenn auch nur kurz – auf dem Schoß sitzen darf. | |
Angstvoll fange ich an, sie zu beschatten: Wie blickt sie? Wie bewegt sie | |
sich? Sie geht aus dem Haus – wohin? Kommt sie wieder? Wenn ich ganz | |
alleine bleibe, muss ich dann zu meinem Vater? | |
Abends, im Bett, soll ich mich bei ihr entschuldigen. Das ist die | |
Voraussetzung dafür, dass sie ihr Schweigen bricht. Allmählich weicht die | |
Hochspannung aus meinem kleinen Körper, aber lange noch bin ich unruhig und | |
schlafe schlecht ein. | |
Diese Zeit liegt nun schon lange zurück. Ich bin erleichtert darüber, kein | |
abhängiges, emotional schlecht versorgtes Kind mehr zu sein. Heute bin ich | |
eine Frau von 64 Jahren, von Beruf Journalistin. Ich konnte studieren, bin | |
Politikwissenschaftlerin und habe – trotz der Belastungen aus meiner | |
Herkunftsfamilie – geheiratet und eine eigene Familie gegründet. Gute | |
Gespräche mit meinem Mann, mit den mittlerweile erwachsenen Kindern, mit | |
Freund:innen und in Gruppen sind mir wichtig. Ich erlebe sie als | |
beglückend und als Grundlage für gute Beziehungen. | |
## Nicht klagen, sondern schweigen | |
Meine Angst und Abneigung vor dem Schweigen, die sich in Kindheit und | |
Jugend aufgebaut hatte, bekam erste Risse, als ich mit 30 Jahren für | |
mehrere Monate in Indien war. Ein Land, in dem die Menschen viel sprechen | |
und sich gerne angeregt unterhalten. Aber sie kennen eben auch Schweigen, | |
vor allem aus spirituellen Gründen. | |
Ich bin in Himachal Pradesh, dem nördlichen indischen Bundesstaat in den | |
Bergen. Da schwillt meine rechte Backe an, es pocht und klopft im | |
Unterkiefer. Der Zahnarzt, den ich in der abgelegenen Gegend ausfindig | |
mache, hält mir ein kleines Röntgenbild vor die Nase. Unscharf zeigt es | |
einen Zahn, der verquer im Unterkiefer sitzt. Es ist eine schlechte | |
Aufnahme von meinem Weisheitszahn. „Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen | |
nicht helfen“, sagt der Zahnarzt und lächelt milde. | |
„Ist die Tour in den Himalaja zu gefährlich mit einer Entzündung im | |
Kiefer?“, frage ich. Er habe keinen besseren Röntgenapparat, entschuldigt | |
sich der Zahnarzt, eine genaue Diagnose wäre ihm nicht möglich und | |
operieren könne er sowieso nicht. „Aber möchten Sie vielleicht mitkommen | |
zum Meditieren?“ Verblüfft schaue ich ihn an. „Immer in der Mittagspause | |
fahre ich zu einer Höhle hier in den Bergen und meditiere. Es dauert nur | |
eine halbe Stunde. Kommen Sie gerne mit, es kann beruhigen und erfrischen.“ | |
Mittags um ein Uhr sitze ich also neben ihm auf dem Boden, in einer | |
schattigen Höhle auf kühlen Steinen. Von einem steilen Berg blicke ich in | |
eine Landschaft, die sich im Sonnenlicht ausbreitet bis zum Horizont. Wir | |
schweigen. Mit meiner Zunge fahre ich wieder und wieder zum Zahnfleisch und | |
taste die Schwellung ab. Die Zunge vergrößert, was sie tastet, vielleicht | |
ist es doch nicht so schlimm, beruhige ich mich. Bald schon habe ich mehr | |
Schmerzen im Hintern als im Kiefer, die spitzen Steine drücken ins Gesäß. | |
Aber ich klage nicht, ich schweige. | |
Nach einer halben Stunde steht der Arzt auf, klopft sich den Staub von der | |
Hose. „Warum machen Sie diese Meditation?“, frage ich. „Für mein Karma�… | |
sagt er. Aha, als gläubiger Hindu ist für ihn Meditation ein Gebet und er | |
sammelt damit gute Taten für sein nächstes Leben, denke ich, vielleicht | |
bekommt er dann endlich ein gutes Röntgengerät. Das stille Sitzen in der | |
Höhle hat mir gut getan, mich ruhiger werden lassen, vielleicht auch | |
geduldiger. Ich spüre Sympathie für diesen Arzt, der mir mit seinen | |
bescheidenen Möglichkeiten helfen will. Wir fahren zurück zu seine Praxis. | |
Er bedankt sich fürs Zusammensein, ich bedanke mich für die Einladung zur | |
Meditation. Kein Wort mehr über Zahnprobleme. | |
So komme ich zum ersten Mal in Berührung mit wohltuendem Schweigen. Weit | |
weg von Deutschland, weit weg von der Sicherheit, die eine gute | |
medizinische Versorgung mir bislang gegeben hat. Mit Meditation habe ich | |
mich nie zuvor beschäftigt. Welchen Sinn sollte es haben, sich hinzusetzen | |
und zu schweigen? Als junge Frau in der linken, alternativen und | |
feministischen Bewegung weiß ich doch, was zählt: Worte und Taten, | |
möglichst überzeugende Worte und möglichst kämpferische Taten. | |
Aber im fremden Land bin ich wie ein unbeschriebenes Blatt und habe | |
vielleicht auch genau deshalb mehr Freiheit. Wenn ich sitze und schweige, | |
muss ich mich niemandem erklären, mich nicht rechtfertigen wegen mangelndem | |
Engagement. Ich bin erstaunt über mich selbst. Tatsächlich tut es mir gut, | |
eine Weile auf Worte und Taten zu verzichten. Es lockt mich, ruhig zu | |
werden und darauf zu warten, was in Körper und Geist geschieht. Immer | |
wieder gehe ich in einen Tempel oder in eine Moschee, lausche dem Gemurmel | |
und den Klängen dort, setze mich auf den Boden und schweige. So wie andere | |
Menschen um mich herum auch. Wie selbstverständlich. | |
## Raum für Veränderung | |
Die Österreicher Fritz Betz und René Reichel haben im Jahr 2021 das Buch | |
„Schweigen macht Sinn“ veröffentlicht. Darin betrachten und analysieren die | |
Therapeuten besonders das Schweigen in der Psychotherapie. Und die Autoren | |
spannen den Bogen noch weiter: Von der Bedeutung von Sprechpausen bis hin | |
zur Betrachtung von Verschwiegenheit. Dieses Buch ist deshalb auch eine | |
Lektüre über den Sinn des Schweigens im Kontakt zwischen Menschen. | |
Schweigen ist danach keinesfalls nur eine Leerstelle, die das Reden | |
begrenzt, sondern eine Möglichkeit zu starkem, auch leiblichen Ausdruck. | |
„Für mich ist Schweigen nicht nur ein Wort oder ein Satz. Schweigen ist | |
eine ganze Erzählung“, sagt Fritz Betz im Videogespräch. Es könne | |
entschleunigen, um in einem Zeitmodus anzukommen, in dem Begegnung erst | |
möglich werde. „Besonders wertvoll ist das einvernehmliche Schweigen. Der | |
Patient fühlt sich darin geschützt, sicher und verstanden.“ Längere | |
Sprechpausen könnten „Raum für Veränderungsprozesse öffnen“, man könne… | |
darin „selbst spüren, reflektieren und etwas seelisch verdauen“. | |
Damals in Indien, war es vermutlich auch das, was ich brauchte: einen Raum | |
für Veränderungsprozesse. In einem mir unbekannten Land, allein auf mich | |
gestellt, musste ich mich neu orientieren. Ich suchte damals auch | |
Beruhigung und Klarheit, wie ich mich in einem Konflikt, bei dem es keine | |
gute Lösung gab, entscheiden sollte. | |
Die Tour in den Himalaja brach ich schließlich ab, rumpelte einen Tag lang | |
mit einem Bus zurück nach Delhi und ließ mir dort bei einem Zahnarzt, der | |
mir versicherte, in Großbritannien seine Ausbildung absolviert zu haben, | |
den vereiterten, eingeklemmten Weisheitszahn herausoperieren. Es gab eine | |
Komplikation, eine Verletzung an einem Ast des Trigeminus-Nervs. Seitdem | |
erinnert mich eine taube Stelle an der rechten Unterlippe an diese Zeit. | |
Drei autobiografische Erzählungen zum Thema Schweigen legte im Herbst | |
vergangenen Jahres der Schriftsteller Friedrich Christian Delius vor, der | |
dieses Jahr im Mai verstarb. Der Titel des Buches: Die sieben Sprachen des | |
Schweigens. Delius, der in den 1970er Jahren mit seinem Text „Unsere | |
Siemens-Welt“ die Nazi-Verstrickungen des Unternehmens zum Thema machte und | |
dafür verklagt wurde, der der RAF eine Roman-Trilogie widmete, der den | |
Kapitalismus kritisierte und vor drei Jahren das Essay „Wenn die Chinesen | |
Rügen kaufen, dann denkt an mich“ veröffentlichte – dieser Delius widmet | |
ein Buch dem Schweigen. Das überraschte mich und machte mich neugierig. | |
In der Mitte des Bandes, in der titelgebenden Erzählung „Die sieben | |
Sprachen des Schweigens“, überlegt Delius, ob „Schweigen auch eine Art | |
Sprache sein kann, vielleicht sogar der Ausgangspunkt und Angelpunkt aller | |
Sprachen.“ Er erzählt, dass er als Fünfjähriger zum Stotterer wurde. Sein | |
spät aus Kriegsgefangenschaft heimkehrender, nicht körperlich, jedoch | |
seelisch verwundeter Vater bricht in das Leben des Jungen und seine innige | |
Beziehung zur Mutter ein. Das geschieht mit doppelt angsteinflößender Macht | |
als Patriarch und Pastor in einer hessischen Provinzstadt. | |
Weil ihm das Stottern so beschämend und peinlich ist, wird Delius zum | |
schweigsamen Jugendlichen, der quälend nach Worten suchen muss, die sich | |
aussprechen lassen, zum Mann, der lieber schreibt als spricht. Später dann | |
zum Schriftsteller, der die fertige, schablonenhafte Sprache der Mächtigen | |
und Marketingexperten mit den Mitteln der Literatur seziert. | |
Nach F. C. Delius gibt es das Schweigen aus Angst – vor Autoritäten, vor | |
Urteilen – das Schweigen aus Dummheit, Unwissenheit, das Schweigen aus | |
Schüchternheit und Respekt, das Schweigen aus Verlegenheit und | |
Unentschiedenheit, aber auch das Schweigen aus Überlegenheit, wenn man | |
meint, es besser zu wissen und schlauer zu sein. Das Schweigen aus | |
Faulheit, auch Denkfaulheit. Das Schweigen aus Macht – für den | |
strategischen Vorteil, um andere zu irritieren, um Mitleid und Interesse zu | |
provozieren. | |
Aber es gebe eben auch das Schweigen der Mönche und das Schweigen der | |
Verbrecher, das Schweigen der Verzweifelten, das Schweigen über eine Schuld | |
oder Mitschuld, die notwendige Verschwiegenheit und das Schweigen der | |
Liebenden. | |
## Wir begegnen uns im Schweigen | |
Ein liebevolles, akzeptierendes und gewährendes Schweigen übt man in der | |
Meditation. Seit knapp zwanzig Jahren meditiere ich regelmäßig montagabends | |
in einer Gruppe. Hier übe ich, aus der Zerstreutheit in die Sammlung zu | |
gelangen. Ruhig atmend komme ich in freundlichem Kontakt mit mir selbst und | |
der Welt. Es kann sein, dass sich dabei Überraschendes auftut, das klärend | |
und befreiend wirkt. | |
Nach dem Tod des Gründers und langjährigen Leiters vor sechs Jahren leiten | |
zwei Männer und drei Frauen abwechselnd unsere eineinhalbstündige | |
Meditation. Ich bin eine von ihnen. Das Ritual ist schlicht. Nach den | |
ersten fünf Minuten in Stille berichtet jede:r kurz, wie es in Familie, | |
Beruf oder mit der Gesundheit geht, was man erlebt hat, was Sorgen macht, | |
was Lebensfreude schenkt oder Hoffnung macht. Die anderen hören aufmerksam | |
und schweigend zu. Nach einigen Übungen, um Körper und Atem zu spüren, | |
spricht die Leiter:in Impulsworte zur Einstimmung und schlägt dreimal die | |
Klangschale. Damit ist die Meditation eingeläutet. | |
Meistens kommen acht bis zehn Personen. Wir sitzen im großen Kreis auf | |
Kissen, Meditationsbänkchen oder Stühlen, versammeln uns um das Licht einer | |
weißen Kerze, die in der Mitte in einer braunen Keramikschale brennt. | |
Zwanzig Minuten oder etwas länger schweigen wir gemeinsam. Ertönt wieder | |
die Klangschale, stehen wir auf, gehen zwei Runden im Kreis, | |
hintereinander, schweigend. Das tut dem Kreislauf und den Beinen gut und | |
übt ein, auch in Bewegung innerlich gesammelt zu sein. Noch einmal setzen | |
wir uns, der Gong der Klangschale ertönt, wir sitzen weitere zwanzig | |
Minuten schweigend. Zum letzten Mal an diesem Abend hören wir die | |
Klangschale, stehen auf. Die Anleiter:in verabschiedet sich mit guten | |
Wünschen, reihum schauen wir uns an, die Blicke begegnen sich, lächelnd, im | |
Schweigen. | |
Die 15 Frauen und Männer, die zur Gruppe gehören, sprechen nicht darüber, | |
was während der Stille in ihnen geschieht. Niemand möchte die inneren | |
Prozesse, die ohne Worte möglich sind, zerreden. Die kleinen Mitteilungen | |
zu Beginn des Abends und manchmal auch ein freundschaftliches Gespräch im | |
Anschluss, draußen außerhalb des Meditationsraums, reichen meistens, um in | |
Kontakt zu bleiben. | |
Weil ich für diesen Artikel über Schweigen recherchiere, frage ich ein | |
Mitglied der Gruppe dennoch, ob er darüber reden würde, was er in der | |
Stille erlebt. „Ich habe das Bedürfnis, einen Kontrapunkt zu setzen zu | |
meinem sonstigen Leben, zum Handeln, auch zum Handeln-Müssen nach außen“, | |
sagt der 62-Jährige, der als Kinderarzt arbeitet. „Aber es ist jedes Mal | |
unterschiedlich. Da gibt es Zeiten, in denen ich alles um mich herum | |
abstellen kann, ich wie versunken bin. Ich habe dann das Gefühl, wie | |
umhüllt zu sein, auch verbunden zu sein mit der geistigen Welt.“ | |
Schweigen ist viel mehr, als nicht zu wissen, was man sagen soll. Es ist | |
eine jahrhundertalte spirituelle Praxis. Sie erlebt eine Renaissance im | |
Westen, seit viele Menschen der kaum mehr verständlichen Worte und | |
liturgischen Rituale überdrüssig sind, die in Gottesdiensten oder anderen | |
spirituellen Feiern gemacht werden. In meiner Gruppe sind einige christlich | |
geprägt, andere stehen dem Zen-Buddhismus nahe und wieder andere wollen | |
sich, gerade wenn es um Meditation geht, nicht festlegen. | |
„Es gibt auch Tage, da bin ich voller Unruhe und die Gedanken toben in | |
mir“, spricht der Arzt über seine Erfahrungen während des Meditierens. „D… | |
Meditation ist ein guter Spiegel, wie ich innerlich aufgestellt bin.“ Er | |
betont, dass das Schweigen für ihn immer ein Gewinn sei, auch wenn er | |
innerlich nicht ruhig werden könne. „Ich habe geübt, ich habe den Weg | |
gemacht, auch das ist bereits wertvoll.“ Nicht nur von ihm, sondern von | |
vielen Menschen, auch von meiner Tochter und meinem Sohn, die beide noch in | |
Ausbildung sind, höre ich immer wieder, dass sie zu viel machen und reden | |
müssen, dass ihr Leben hektisch sei und sie mehr Ruhe wollten. | |
## In der modernen Welt sollen wir nicht ruhig werden | |
Aber warum schweigen wir dann nicht einfach mehr? Was macht es uns so | |
schwer, sich eine Weile still hinzusetzen und den Mund zu halten? Ich | |
versuche, mich dieser Frage von der anderen Seite zu nähern. Wie lassen | |
sich die Unruhe und die Hektik, der Lärm und das Getöse in unserer | |
Gesellschaft erklären? | |
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen forscht und lehrt an der | |
Universität Tübingen zur Kommunikation mit Empörung, Skandalen und | |
überhitzten Debatten. Im Jahr 2018 veröffentlichte er das Buch „Die große | |
Gereiztheit: Wege aus der kollektiven Erregung“, in dem er den Begriff der | |
„reizbaren Gesellschaft“ prägte. Während meiner Ausbildung zur Journalist… | |
studierte ich auch einige Semester Kommunikationswissenschaft. | |
In einem [1][taz-Interview im März 2020] sagte Pörksen: „Wir, die Bewohner | |
einer privilegierten Welt, sind in eine Atmosphäre der totalen | |
Gleichzeitigkeit eingetreten, sehen alles, leiden unter einer Überdosis | |
Weltgeschehen, schwanken zwischen Erregungserschöpfung, Panikschüben, | |
Mitgefühl, Ignoranz-Sehnsucht. Dieses Gefühl der Überforderung ist das | |
Stimmungsschicksal vernetzter Gesellschaften, die einen klug dosierten | |
Umgang mit ihren Affekten noch nicht beherrschen.“ | |
Nach Pörksen sind die Gefühle, die über die Medien transportiert werden, | |
eine emotionale Überforderung für den Einzelnen und die gesamte | |
Gesellschaft. Er vertritt die Auffassung, es gebe eine eigene Emotions- und | |
Erregungsindustrie, die nichts anderes mache, als permanent auf den viralen | |
Hype zu zielen, auf den Aufmerksamkeitsexzess und -erfolg. Er analysiert | |
die ökonomischen und technischen Strukturen und konstatiert eine | |
„Vermachtung“ und „Refeudalisierung des kommunikativen Raumes.“ Die | |
Kommunikationsströme von Milliarden von Menschen seien reguliert von | |
wenigen „Digitalgiganten, die eines definitiv nicht wollen: das Schweigen, | |
die Stille, die Nichtkommunikation, sondern die Überhitzung der | |
Kommunikation, um Menschen weiter auf ihren Plattformen zu halten“. | |
Das heißt, wir sollen nicht ruhig werden. Wir sollen nicht schweigen, | |
sondern uns aufregen und bei möglichst vielen Debatten mitmischen. Als | |
Menschen sind wir soziale Wesen, die gesehen, gehört und beachtet werden | |
wollen. Die sozialen Medien scheinen dafür wie geschaffen. Mit Bild, | |
eigenem Wort und Ton kann man damit Reichweiten erzielen, von denen man | |
früher nicht zu träumen wagte. Gut möglich, dass dabei auch narzisstische | |
Wünsche nach persönlicher Bedeutung genährt werden. Es entsteht die | |
Illusion, man sei deshalb wichtig, weil man spricht, schreibt, postet und | |
Reaktionen provoziert. | |
Wenn ich still sitze, meditiere und das Schweigen übe, erbringe ich | |
hingegen nichts, was in dieser Logik als Leistung anerkannt wäre. Ich | |
brauche keine spezielle Kleidung oder Ausrüstung und [2][steigere nicht das | |
Bruttosozialprodukt]. Wenn ich schweige, pflege ich nicht meine Netzwerke | |
und verpasse vermutlich spannende Ereignisse oder Nachrichten. Ruhiges, | |
friedvolles Schweigen erscheint als Anachronismus in Zeiten der | |
Ökonomisierung fast aller Lebensbereiche und ist unzweckmäßig in einer | |
globalisierten Welt, in der man sich als vereinzelter Leistungserbringer | |
gegen eine weltweite Konkurrenz behaupten muss. | |
Aber: Schweigen muss man sich heutzutage auch leisten können. Man braucht | |
dafür das knappe Gut Zeit – und so viel Geld, dass man in dieser Zeit keine | |
Lohnarbeit leisten muss. | |
## Schweigen muss nicht passiv sein | |
Noch immer wird Schweigen oft mit Passivität verwechselt. Ich stimme dem | |
Schriftsteller Friedrich Christian Delius zu, dass es ein Schweigen aus | |
Faulheit, aus Denkfaulheit und Bequemlichkeit gibt. Aber bewusstes, | |
friedvolles Schweigen ist eine aktive Handlung. Für mich war es der Weg, | |
Vater und Mutter zu verzeihen. Lange Zeit hatte ich als erwachsene Frau auf | |
Zeichen von Bedauern oder Einsicht ihrerseits gewartet. Vergeblich. Auf | |
Fragen antworteten sie nicht oder so ausweichend, dass es erneut verletzte. | |
Bis ich begriff: Ich bin erwachsen und ihnen schon lange entwachsen. | |
Verzeihen kommt von verzichten. Wenn ich die Lasten, die ich in der | |
Vorwurfshaltung mit mir schleppe, loswerden will, muss ich verzichten: auf | |
Vorwürfe, auf unerfüllte Wünsche, aufs Besserwissen. In einer Haltung des | |
ruhigen, um Versöhnung bemühten Schweigens konnte ich zuerst auf die | |
lauten, später auf die versteckten und zuletzt auch auf die stummen | |
Vorwürfe verzichten. Ich lernte allmählich, diesen Teil meiner Geschichte | |
zu akzeptieren, wurde verständnisvoller und bekam einen neuen Blickwinkel: | |
Mutter und Vater konnten nicht anders handeln. Vermutlich waren sie | |
Gefangene ihrer Zeit, ihrer Begrenzungen und der Enge, in der sie lebten. | |
Auf meiner langen Reise zum Schweigen war es wichtig für mich, zu | |
unterscheiden. Selbstverständlich ist es ein wesentliches Recht, die Stimme | |
zu erheben. So, dass man darauf aufmerksam macht, was Unrecht ist und | |
Veränderungen anbahnen kann. Das Recht zu sprechen ist durch das Schweigen, | |
zu dem man sich selbst entscheidet, nicht berührt. Sprechen und schweigen | |
gehören zusammen und ergänzen sich, das ist spürbar besonders in | |
persönlichen Beziehungen. Um in Gesprächen aufmerksam und empathisch | |
zuhören zu können, braucht es Sprechpausen. | |
So entsteht der Raum, den anderen, sich selbst und das Gesagte | |
wahrzunehmen. Selbst gewähltes Schweigen gibt die Freiheit, zu entscheiden, | |
wann ich spreche, wann ich schweige. Lange gesucht und endlich gefunden, | |
ist Schweigen für mich ein Gut, das ich heute sorgfältig pflege. Am | |
liebsten so: Einatmen, ausatmen, schweigen, danach sprechen und handeln. | |
11 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Medienexperte-ueber-Krisen-Erzaehlungen/!5665993 | |
[2] /Abseits-von-Lohnarbeit/!5842928 | |
## AUTOREN | |
Gunhild Seyfert | |
## TAGS | |
Meditation | |
Spiritualität | |
Kommunikation | |
GNS | |
Podcast „Vorgelesen“ | |
Hamburger Kunsthalle | |
Pop | |
Fan | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die Hamburger Ausstellung „Atem“: Flüchtige Lebenslieferantin | |
Die Ausstellung „Atmen“ in der Hamburger Kunsthalle fragt nach der | |
Darstellbarkeit von Luft. Den Zugang zu ihr problematisiert sie als | |
Politikum. | |
Beth Orton übers Singen: „Musik stärkt meine Gesundheit“ | |
Die britische Künstlerin Beth Orton über das meditative Landleben, Trost am | |
Klavier und Schwierigkeiten beim Hören ihrer eigenen Stimme. | |
Wissenschaft des Schwärmens: Mein lieber Schwarm | |
Schwärmen gilt als Teeniekram, Mädchen bereiten sich damit angeblich auf | |
Beziehungen vor. Doch aktuelle Studien sagen etwas anderes. |