# taz.de -- Streit um Kindergrundsicherung: Arme sichern unsere Zukunft | |
> Im Streit über die Kindergrundsicherung werden Vorurteile gegen | |
> Arbeitslose geschürt. Dabei brauchen wir wegen der Demografie | |
> kinderreiche Familien. | |
Bild: Es geht um eine Zukunft, in der es kein soziales Risiko mehr ist, Kinder … | |
Eigentlich klingt der Begriff so gut, dass niemand was dagegen haben kann: | |
Kindergrundsicherung. Schon vor mehr als 20 Jahren beschworen die Grünen | |
mit diesem Wort eine auskömmliche staatliche Sicherung für Kinder in armen | |
Familien. Doch jetzt droht das Projekt zu einer Enttäuschung zu werden. | |
Nach der Sommerpause will Bundesfamilienministerin Lisa Paus einen ersten | |
Gesetzentwurf vorlegen und fordert dafür bis zu 12 Milliarden Euro im Jahr | |
an Haushaltsgeldern. Bundesfinanzminister Christian Lindner will | |
[1][höchstens 2 Milliarden Euro für die Digitalisierung der | |
Familienleistungen lockermachen.] Man ahnt: Die Erwartungen an die | |
Kindergrundsicherung, die ab 2025 kommen soll, waren zu hoch. | |
Es soll eine Leistung werden, die das Kindergeld, das Bürgergeld für Kinder | |
und den Kinderzuschlag für arme Erwerbstätige in einer „einfachen, | |
automatisiert berechneten und ausgezahlten Förderleistung bündelt“, wie es | |
im Koalitionsvertrag der Ampel heißt. Im politischen Branding des Begriffs | |
der Kindergrundsicherung liegt dabei eine Ungenauigkeit, die zuerst die | |
Power des Wortes ausmachte, jetzt aber zu Problemen in der praktischen | |
Umsetzung führt. | |
Dabei ist die Idee eigentlich gut: Mit der Kindergrundsicherung soll das | |
Stigma der Armut verschwinden. In der Kindergrundsicherung [2][sollen das | |
bisherige Kindergeld und die Leistungen für Kinder im Bürgergeld aufgehen.] | |
Das Kindergeld heißt dann „Garantiebetrag“ und das bisher gezahlte | |
Bürgergeld für Kinder (Ex-Hartz-IV) ist der „Zusatzbetrag“, den arme | |
Familien zusätzlich zum „Garantiebetrag“ bekommen. | |
Durch die Unterordnung unter den Begriff der Kindergrundsicherung will man | |
der Stigmatisierung von Familien im Sozialleistungsbezug entgegenwirken. | |
Die Kindergrundsicherung ist auch eine Art Integrationsprojekt zwischen | |
Mittel- und Unterschicht. | |
Das ist gut gemeint. Nur leider ist es ein quantitativer und systemischer | |
Unterschied, ob eine Familie nur den Garantiebetrag oder eben als | |
arbeitslose Familie ohne Einkommen den Garantiebetrag plus den Zusatzbetrag | |
bekommt. | |
Letzteres erfordert eine andere Bedarfsrechnung. Zudem ist eine | |
Kindergrundsicherung keine Hilfe für Kinder allein, mit der man sie aus der | |
Armut rettet, sondern eine Sozialleistung, die immer zum Haushaltseinkommen | |
auch der Eltern beiträgt. | |
Diese systemischen Realitäten kommen jetzt wieder auf den Tisch. Die Union | |
befeuert die Debatte, ob es eine gute Idee ist, armen Familien mehr Geld zu | |
geben, wo es doch am wichtigsten sei, die Eltern in Arbeit zu bringen. Eine | |
Erhöhung der Sozialleistungen sei „ein süßes Gift: Es bringt die Menschen | |
nicht in den Arbeitsmarkt, sondern macht sie abhängiger vom Staat“, sagt | |
der arbeitsmarktpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Stephan Stracke, | |
der FAZ. | |
Da ist er wieder, der Wiedergänger jeder Sozialstaatsdebatte: Die faulen | |
Arbeitslosen, diesmal arbeitslose Eltern, könnten wegen der neuen | |
Sozialleistung die Motivation verlieren, einen Job anzunehmen. | |
Das Ressentiment wird angeheizt durch die Tatsache, dass der Anteil der | |
deutschstämmigen Familien im Bürgergeld-Bezug in den letzten Jahren | |
zurückgegangen ist. Fast die Hälfte der Kinder im Bürgergeld-Bezug haben | |
eine ausländische Staatsangehörigkeit, viele davon sind Geflüchtete. | |
Auf der einen Seite sieht man nun die deutschstämmigen Familien in den | |
Mittelschichtmilieus, geplagt durch die Inflation, belastet mit Steuern und | |
Abgaben. Auf der anderen Seite vermutet man die armen Familien mit | |
Migrations- oder Fluchthintergrund, die auf Sozialleistungen angewiesen | |
sind und die durch das Geld vom Staat „verwöhnt“ werden könnten. | |
Diese Spaltungen sind alte Mythen. Man weiß aus der Erfahrung der nuller | |
Jahre: Wenn Konjunktur und Arbeitsmarkt besser laufen, geht die | |
Arbeitslosigkeit runter. Und Zuwanderer:innen brauchen Zeit, um | |
anzukommen im deutschsprachigen Jobmarkt. Punkt. | |
Wer Spaltungen vertieft, übersieht, dass wir in anderen Zeiten leben. | |
Familien mit Migrations- oder Fluchthintergrund sind überproportional im | |
Sozialleistungsbezug, weil sie oft mehrere Kinder haben. Anders gesagt: | |
Viele Kinder zu haben kann arm machen. Überdies arbeiten Zuwander:innen | |
oft in schlecht bezahlten Jobs. | |
Auch viele Kinder zu haben sollte uns angesichts der Demografie mehr wert | |
sein. Die demografische Zukunft in Deutschland, das Angebot an | |
Arbeitskräften in den nächsten Jahrzehnten hängt auch an Familien mit | |
Migrations- und Fluchthintergrund. Wer Ärmere abhängt, tut auch der | |
Mittelschicht nichts Gutes. | |
Für die Kindergrundsicherung brauchen wir machbare Lösungen und keine neuen | |
Polarisierungen. Wir brauchen Pragmatismus: Die viel beschworene | |
Digitalisierung der verschiedenen Familienleistungen kann erst nach und | |
nach erfolgen, weil sie verwaltungs- und datenschutztechnisch hochkomplex | |
ist. | |
Schon kleinere Vereinfachungen etwa der Antrags- und Abrechnungsverfahren | |
für Leistungen im Bildungs- und Teilhabepaket wären hilfreich. Würde man | |
das Portal im Internet für die Anträge auf den Kinderzuschlag für | |
erwerbstätige Eltern erweitern, indem man es in mehreren Fremdsprachen | |
anbietet, wäre schon was gewonnen. Mehr Sprachförderung und Kinderbetreuung | |
müssen her. | |
Etwas mehr Geld sollte es auch geben. Man könnte die pauschalen Leistungen | |
für Bildung und Teilhabe erhöhen, die derzeit nur bei 15 Euro im Monat | |
liegen. Davon lässt sich kein Musikunterricht bezahlen. | |
Das Projekt der Kindergrundsicherung muss auf machbare Schritte | |
heruntergebrochen werden. Dann lässt sich vielleicht die Hauptbotschaft | |
vermitteln. Es geht um eine Zukunft, in der es kein soziales Risiko mehr | |
ist, Kinder zu haben. Und kein Stigma, wenn man sie alleine nicht | |
finanzieren kann. | |
4 Aug 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/kindergrundsicherung-paus-ampel-100.… | |
[2] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/kindergrundsicherung-128.html | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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